Juni 6th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Unregierbarkeit durch Informationsüberfluss? § permalink
“The political system is broken partly because of Internet,” Barlow said. “It’s made it impossible to govern anything the size of the nation-state. We’re going back to the city-state. The nation-state is ungovernably information-rich.” (hier)
Es scheint gegenwärtig an der Tagesordnung, die Kraft des Internet apokalyptisch darzustellen. Von der “Neuformatierung des Menschen” (Dirk Baecker hier via weissgarnix hier (Update 2015: Bog inzwischen offline)) bis zum Ende der Regierungsform, wie wir sie kennen. Und der Witz dabei: ich glaube, dass dabei noch immer nicht weit genug gedacht wird. Ich denke, es stehen in den kommenden 10–15 Jahren noch weit fundamentalere Umwälzungen in allen Bereichen des Lebens bevor. Demnächst mehr dazu auf diesem Blog. Oder woanders vielleicht.
Juni 5th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Moralismus, Systemtheorie, Loriotismus § permalink
An Wissenschaftlern wird oft die genaue Beobachtung gelobt, obwohl man nicht gesehen hat, was sie beobachtet haben
Ein wunderbarer Tweet von Klaus Kusanowsky, dessen herrlich systhemtheoretischer Blog “Differentia” mit Sprachperlen wie der folgenden aufwartet und der jedem, der seine alten Hirnwindungen wieder einmal neu verwickelt und entwickeln möchte, nur wärmstens oder kühlstens empfohlen werden kann:
Beginnen wir mit der theoretischen Überlegung, dass eine Adresse eine spezifische kommunikative Struktur ist; sie ist eine Bündelung und Führung von Störanfälligkeit und Anfallsstörrigkeit. Eine Adresse fungiert wie eine elastische strukturierte Erwartungswolke, die mit einem Namen, gleichviel ob Personennamen oder Namen von Unternehmen oder auch Staaten verküpft wird. Spezifischer formuliert, könnte man sagen, dass Adressen strukturelle Knotenelemente im Verweisungsnetzwerk der Kommunikation sind, die gleichsam als Schaltpunkte gebraucht werden, um Komplexität hin und her zu schaufeln. (hier)
Göttlich. Menschen, die Wort wie “Erwartungswolke”, Formulierungen wie “Bündelung von Anfallsstörrigkeit” oder “Komplexität hin- und herschaufeln” benutzen, sind irgendwie was Außergewöhnliches. Zumal ich seit gestern auf Twitter auch loriot_vicco folge, der in mehr oder minder regelmäßigen Abständen mit Loriot-Zitaten meinen Alltag erglänzt. Beide zusammen sind wahrlich ein Hauptvergnügen.
Gerade finde ich weitere Kusanowksy-Tweets, die ich hier nicht vorenthalten und mit Loriot mischen will:
Kusanowski: Wie viele Beobachter muss ein Beobachter beobachten bis er anfängt sich selbst zu beobachten?
loriot_vicco: Übrigens: Wussten Sie schon, dass die Alpen einen ganz erbärmlichen Anblick bieten, wenn man sich die Berge einmal wegdenkt?
Kusanowski: Nur wenige besitzen die Fähigkeit, sich für die Zwecke der Beurteilung von Tatsachen zuvor von Wünschen und Ängsten zu befreien.
loriot_vicco: Die Rhein-Ruhr-Stahl-Marzipankartoffel ist natürlich rostfrei.
Kusanowski: Bei einem gewissen Stande der Selbsterkenntnis wird es regelmäßig geschehen müssen, dass man sich abscheulich findet.
loriot_vicco:Der Mensch ist das einzige Wesen, das im Fliegen eine warme Mahlzeit zu sich nehmen kann.
Klaut Kusanowsky eigentlich bei den französischen Moralisten? Oder ist der Systemtheoretiker an sich ein aphoristischer Moralist (wenn mich nicht alles täuscht bezog sich Luhmann doch auch gelegentlich auf Vauvenargues, oder?). What a brave twitter timeline that has such tweets in it!
Juni 5th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Storytelling, mythos, plot, Fabel — did TV kill the drama? § permalink
Vielleicht ist das Drama seit nunmehr 2 oder 3 Jahrzehnten in der Krise, weil seine Macher noch nicht bemerkt und reflektiert haben, dass es ihnen längst geraubt wurde. Jenseits einer rein formalistischen Debatte könnte doch die nüchterne Feststellung lauten, dass die dramatische Form der Moderne, des Naturalismus, Realismus und was auch immer — jeden Abend auf zahllosen Fernsehprogrammen zu sehen ist. Mag zwischen “Unter uns” oder GZSZ und Tschechow auch ein qualitativer Unterschied bestehen — die dramatische Dihegese ist nicht so weit voneinander entfernt. Irgendwann wird schon eine Folge gelaufen sein, die funktioniert wie Tschechow. Oder Ibsen. Oder wer auch immer. Und wenn sie nicht gelaufen ist — dann kommt sie irgendwann — schon wegen der “…im deutschen Sprachraum so geliebten, tschechowschen Dialogmuster…” (Streeruwitz hier)
Die Krise der Malerei, die die Fotografie auslöste, die Krise des Kinos durch das Fernsehen — ist die entsprechende Krise des Theatertextes bereits in den Köpfen der Theaterautoren UND der Dramaturgien, Verlage, bei Regisseuren und Schauspielern angekommen? Jenseits bloßer Verweigerung durch postdramatischen Bühnenjahrmakt? Wo läuft die Debatte über ein Storytelling, einen (aristotelischen) Begriff des mythos als systhesis pragmatôn, den plot, die brechtsche Fabel — die unter den Gegebenheiten der Gegenwart zu reflektieren unternimmt, was dem Theater eigen ist (“dem” Theater nicht im Sinne eines Wesenskernes übrigens), was nur Theater könnte. Nicht um im Sinne eines Marketing eine Marktlücke zu öffnen und zu besitzen. Sondern um die Kraft von Theater wieder freizusetzen. Sodaß die politischen Spar-taner es nicht allzu einfach haben bei Budgetstreichen und Theaterschließen. Weil Theater etwas erzählt oder erfahrbar macht, was weder TV noch Kino noch andere Künste besser, schneller, einfacher könnten. Ich vermisse eine Debatte ums Postdrama. Oder bin ich blind und sehe nur nicht, wo sie wirklich ernsthaft geführt wird?
Juni 3rd, 2010 § Kommentare deaktiviert für Gerechtigkeit und Gesetz — Ergänzungen zum Radbruch-Posting § permalink
Vorhin hatte ich hier gepostet, wie schwer mich Gustav Radbruchs “Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht” beeindruckt hat. Zwischenzeitlich fällt mir auf, dass sich das mit meinem Interesse an Occams Erwägungen trifft, die die Letztentscheidung der Laien in der Kirche noch über den Klerikern sehen. Hatte ich vor Jahren in seinem großartigen Dialogus gelesen. Wikipedia fasst zusammen:
Er erörterte die theoretische Möglichkeit, dass alle Kleriker der Welt in einer Glaubensfrage irren könnten. Dazu bemerkte er, in diesem Falle müssten Laien, auch falls sie nur wenige und theologisch gänzlich ungebildet seien, auf ihrem Standpunkt beharren; sie seien dann die Kirche und die qualifizierten Richter der Geistlichkeit. Er hielt es sogar für möglich, dass die gesamte Kirche außer einer einzigen Person, die sogar ein unmündiges Kind sein kann, einer falschen Lehre verfällt. Dann bestehe die wahre Kirche aus dieser einen Person. (hier)
Zwischenzeitlich fand ich beim Rumsurfen auch noch ein Aquin-Zitat, das ich recht eindrucksvoll in diesem Themenkreis finde:
»Zu 1. Wie das geschriebene Gesetz dem Naturrecht nicht die [verpflichtende] Kraft erst gibt, so kann es auch seine Kraft nicht mindern oder aufheben; denn auch der menschliche Wille kann die Natur nicht ändern. Wenn deshalb das geschriebene Gesetz etwas gegen das Naturrecht enthält, ist es ungerecht, und hat nicht die Kraft zu verpflichten; denn nur dort kommt das geschaffene Recht überhaupt in Frage, wo es dem Naturrecht gegenüber nichts ausmacht, ob etwas so oder anders bestimmt ist. Deshalb werden solche Schriften auch nicht Gesetze genannt, sondern eher Verderbnis des Gesetzes.«
Th. v. Aquin, summa theologica, Antwort auf die 60. Frage Art. 5 (Muß das Urteil immer den geschriebenen Gesetzen entsprechend erfolgen?) (hier)
Aquin konnte sich noch auf Naturrecht als Prüfstein für positives Recht berufen. Gibt man zu, dass diese Form der letztbegründung des Rechts und der Gesetze in der Moderne obsolelt geworden ist, muss daraus eine geradezu abgrundtiefe Kontingenz entstehen. Das positive Gesetz hat — keinen letzten Grund. Finis veritatis, incipit democratia.
Juni 3rd, 2010 § Kommentare deaktiviert für Das Netz erhebt sich gegen #zensursula — und favorisiert den Balkanbomber (Updated) § permalink
Bei Martin Oetting (hier) sucht das Netz Alternativen für die Bundesuschi Zensursula von der Leyen. Eine Netzpetition. Momentan liegt Joschka “Wir müssen Bomber auf den Balkan schicken” Fischer vorne. Konsequenter Nachfolger für Horst “Wir müssen auch mal Wirtschaftskrieg führen können” Köhler. Zusammen mit dem Umgangssprachenkriegsminister Guttenberg — eine wahrhaft teuflische Bundesgeneralität! Aber es gibt noch andere Alternativen — bei Oetting werden Vorschläge gesammelt.
[Update 13:50]
Je länger ich drüber anchdenke, desto abstruser wird die Favorisierung des Balkanbombers Fischer durch das Netz. Spätestens seit der legendären ARD-Dokumentation “Es begann mit einer Lüge” , dürfte klar sein, dass Herr Fischer einen (übrigens noch immer völkerrechtswidrigen!) Krieg befürwortete und begründete, der mit nachweislich gefälschten Dokumenten (“Operation Hufeisen”) begründet wurde. Bevor dieser Herr Bundespräsident wird — würde ich #zensursula wählen. Oder Rolliwolli.
Meine Favoriten zur Zeit:
Gerhart Rudolf Baum, der vermutlich beste deutsche Innenminister (an den ich mich erinnern kann), Beschwerdeführer beim Verfassungsgericht gegen Großen Lauschangriff, Luftsicherheitsgesetz, Online-Durchsuchung, Vorratsdatenspeicherung (hier mehr)
Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes (hier)
Update 14:30 Wer sich mit den Ungereimtheiten der Fischer-Scharping-Argumentation auseinandersetzen möchte, die den Kosovo-Krieg legitimieren sollten, möge sich zum Thema “Hufeisenplan” (etwa hier auf Wikipedia) kundig machen. Ich halte Fischer als Bundespräsidenten für völlig ungeeignet.
Juni 3rd, 2010 § Kommentare deaktiviert für Einer der unglaublichsten, mächtigsten Texte des 20. Jahrhunderts … § permalink
… ist mir letztens zufällig untergekommen im Rahmen einer Debatte bei weissgarnix (hier (Update 2015: Bog inzwischen offline)in der Diskussion zu einem ebenfalls sehr spannenden Posting): Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Ein Aufsatz aus dem Jahre 1946. Ich traue mich nicht, auf die Kürze zusammenzufassen, worum es in diesem Text geht. Er stellt die fundamentalste aller fundamentalen Fragen nach Ende des nationalsozialistischen Regimes. Kann man — wenn man nicht von einem göttlichen Naturrecht ausgeht — als Rechtspositivist hinnehmen, dass es ungerechtes Recht gibt, dessen Befolgung unrechtmäßig wäre? Kann also jemand (ein Beispiel bei Radbruch), der einen anderen wegen abfälliger Äußerungen über Hitler unter billigender Inkaufnahme oder sogar unter bewußter Zielsetzung, dass der Denunzierte darauf hingerichtet werden wird, kann so jemand nach Ende des Nationalsozialismus wegen Beihilfe zum Mord, können also die urteilenden Richter wegen Mordes verurteilt werden, wiewohl sie “lediglich” geltendes Recht anwendeten. Muss also jeder Richter zu jeder Zeit das Gesetz, das er anwenden soll, auf Gerechtigkeit überprüfen. Und kann es einzelnen Richtern überlassen werden, die Gerechtigkeit einzelnder Gesetze derart anzuzweifeln, dass sie ihre Anwendung verweigern? Kann die Anwndung eines Gesetzes Rechtsbeugung sein?
Ganz ehrlich: So sehr wie dieser, nur 10 oder 11 Seitenl lange Text ist mit lange schon kein anderer unter die Haut gegangen. Ich empfehle: Lesen!
Juni 3rd, 2010 § Kommentare deaktiviert für Theater nach Zahlen § permalink
Nur ein Gedanke beim Aufwachen: Ist ein Theater, das die ewigselbenvorlagen von tschechowhorvathibsenstrindbergundsoweiter immer wieder nur neu bebildert, coloriert und ausführt — etwas anderes als das beliebte Zeichenspiel “Malen nach Zahlen” für die Bühne? Ich habs mal grün ausgemalt. Oh, brav. Und ich ganz schwarz. Ohje, das geht aber nicht. Und ich habs schraffiert. Intéressànt! Übermalt, ich habs alles wild übermmal. Oh, du bist aber nicht brav. Ich hab ein Stück aus dem Malbuch gerissen. Du Teufel. Schau mal, Tante: Ich hab ihm einen Bart angemalt. Och, du Racker.
Hm. Vielleicht befindet sich Theater tatsächlich in einer Rohstoffkrise. Weil die Texte fehlen, die dringend benötigt würden, um die Produktion an demokratieverteidigender Flakmunition aufrecht zu erhalten. Das würde nach herrschenden Marktgesetzen heißen: Dass die Preise für hochwetige Rohstoffe (vulgo: Stücke) demnächst explodieren müssten. Toll.
Nachtrag: Ökologisch korrekt könnte man dieses Dauerrecycling natürlich begrüßen — aber ist eine solche Form des Rohstoffsparens im geistigen Bereich wirklich sinnvoll? Das Hirn ist kein Wiederkäuerorgan.