Der Reichstag brennt. Wetten dass?

November 21st, 2010 Kommentare deaktiviert für Der Reichstag brennt. Wetten dass?

Der Reichs­tag brennt in allen Köp­fen.  Hier zum Bei­spiel oder da. Da und da. Es gibt noch kei­ne Bil­der, die den bren­nen­den Reichs­tag zei­gen wie einst das WTC. Aber der Bericht über die Gefahr eines zukünf­tig bren­nen­den Reichs­tags hat die­sel­be Wir­kung wie der Bericht über einen bren­nen­den Reichs­tag. Phan­ta­sien hier oder da, Ima­gi­na­tio­nen des­sen, was geschah und berich­tet wird oder was gesche­hen könn­te. Die Phan­ta­sie trennt nicht zwi­schen Ver­gan­ge­nem und Zukünf­ti­gem. Die War­nung vor dem Ter­ror­akt nimmt den Ter­ror­akt vor­weg. Und schnell her­bei­ge­zau­ber­te „Maß­nah­men“ (wie die VDS) gau­keln vor, eine Sicher­heit her­stel­len zu kön­nen, die natür­lich die Angst nicht ban­nen wird. Denn es geht um ande­res – aber wor­um? Es geht um die Bil­der des bren­nen­den Reichs­tags. Nur um Bil­der (die ein geüb­ter Pho­to­shop­per inner­halb eini­ger Minu­ten, Roland Emme­rich sicher sogar als Film pro­du­zie­ren könnte).

Die Wet­te

Ter­ro­ris­mus alter Prä­gung war mit For­de­run­gen ver­bun­den Erpres­sung zur Sys­tem­än­de­rung oder zur Frei­las­sung von Häft­lin­gen. Was ist hier die For­de­rung? Wor­um geht es? Um das Bild des bren­nen­den Reichs­tags. Auf der einen Sei­te die Wet­te, dass es die­ses Bild geben wird. Auf der andern Sei­te die Wet­te, dass nicht. Die Wett­part­ner Al Kai­da und Tho­mas de Meziè­re.  Wird Gott­schalk dau­er­mo­de­rie­ren? Ist Acker­mann, jener Spe­ku­lant auf die Zukunft, der Wett­pa­te? Oder Jörg Kachelm­ann? Denn die media­le Ver­fas­sung die­ses Ter­rors ähnelt der media­len Ver­fas­sung der Ban­ken­kri­se, unge­mein. Ein­sturz des WTC führ­te zu welt­wei­ter Angst, Ein­sturz von Leh­mann Brot­hers stürz­te die Welt­wirt­schaft auf­grund einer „Ver­trau­ens­kri­se“ zwi­schen den Ban­ken ins Ver­der­ben. Der Wet­ter­vor­her­sa­ger Kachelm­ann stürz­te ein, als eine Nach­richt über ihn in Umlauf kam. Spe­ku­la­tio­nen über „tat ers“ oder „tat ers nicht“, Bör­sen­spe­ku­la­ti­on, Nach­rich­ten­spe­ku­la­ti­on, Ereig­nis­spe­ku­la­ti­on. Die Spe­ku­la­ti­on ist der Kriegs­schau­platz der Gegen­wart. Wer ist der Gegen­stand die­ser medi­al aus­ge­tra­ge­nen spe­ku­la­ti­ven Wet­te? Wir. Sind der Wett­ein­satz. Rou­lette – aber nicht rus­si­sches, son­dern ara­bi­sches Roulette.

Die ver­kehr­te Welt: Wir­kung vor der Ursache

Die Wet­te trifft uns in unserm Inners­ten: In  unse­rer Aus­rich­tung auf die Zukunft. Erin­ne­rung und Ver­gan­gen­heit ist eine Welt der His­to­ri­ker und der mas­sen­me­dia­len Fern­seh­be­rich­te, die uns sagen, was geschah. Nur der Wet­ter­be­richt sagt, was ver­mut­lich mor­gen gesche­hen wird. Und natür­lich die Bör­sen­spe­ku­la­ti­on. Die Zukunft. Der gro­ße Glau­be der Gegen­wart. Die Schul­den, die unse­re Kin­der abzah­len müs­sen. Die Wirt­schafts­ent­wick­lung, die die 5 Wei­sen aus dem Über­mor­gen­land ver­kün­den. Pro­gno­sen und Sonn­tags­fra­gen , die her­aus­fin­den sol­len, wie die nächs­te Wahl aus­ge­gan­gen sein wer­den könnte.

Es war ein­mal eine Zeit, das schlug eine Tat ein wie ein Blitz. Zum Bei­spiel ein Reichs­tags­brand. Poli­zei und Feu­er­wehr zogen danach auf, sperr­ten ab, sicher­ten und lösch­ten. Der Ber­li­ner ging durch die Satdt und frag­te sich: Wer war es. Die Poli­zei sichert Spu­ren, dem Archäo­lo­gen und Reli­qui­en­samm­ler gleich. Dann fand man den „Täter“ (oder jeman­den, den man dafür aus­gab) – und räch­te sich an ihm.

Heu­te geschieht die Tat in der Zukunft. Sie wird mit einer Wahr­schein­lich­keit ange­kün­digt, die der Wet­ter­vor­her­sa­ge gleicht. Bom­ben­war­schein­lich­keit im Febru­ar und März: 80 Pro­zent. Und heu­te geht, wer vor dem Reichs­tag steht, mit dem Blick her­um: Wer wird es sein? Wird es die­ser sein? wird es mich tref­fen? Die Poli­zei sperrt vor der Tat ab, sucht vor der Tat Spu­ren einer Tat, die erst gesche­hen wird. Gesche­hen wer­den könn­te. Die Reli­qui­en gehö­ren einem kom­men­den Anti-Mes­si­as, der sich zugleich mit sei­ner Tat ver­mut­lich aus­lö­schen wird. Wie der Täter ein­sta­mals erst als Täter erschien, als die Tat gesche­hen war und gesucht wer­den könn­te, so ent­steht der Täter jetzt vor der Tat und ver­schwin­det mit und in ihr.

Die Wet­te trifft uns in unse­rem Glau­ben an die Zukunft, und der Hoff­nung, die Zukunft heu­te bereits prä­for­mie­ren zu kön­nen. Die Wir­kung des Reichs­tags­bran­des tritt ein, bevor ihre Ursa­che ein­ge­tre­ten ist (die viel­leicht nie ein­tre­ten wird). Die Fol­gen und Kon­se­quen­zen wer­den schon jetzt gezo­gen. Das ist die neue Form des Ter­ro­ris­mus, der kei­ne Auf­blä­hung des Fahn­dungs­ap­pa­ra­tes umfasst, son­dern die Auf­blä­hung der Pro­phy­la­xe – ein wei­te­res The­ma. Pro­phy­la­xe ist das Zau­ber­wort der Gegen­wart: Gesund essen, um län­ger zu leben. Nach­hal­tig wirt­schaf­ten. Vor­sicht, damit die Zukunft nicht rui­niert wird. An die­ser Zukunft setzt die Wet­te an. Wet­ten, dass wir euch die Zukunft zer­stö­ren? In Zukunft? Und dass euer Blick auf die Zukunft kein Blick mehr mit Hoff­nung sein wird, son­dern mit Angst! Wet­te gewon­nen? Spe­ku­la­ti­on erlaubt.

Der Täter ist unsichtbar

Der Kampf gilt einem unsicht­ba­ren Feind, der jetzt nicht zu sehen ist und nach der Tat sich unsicht­bar in sei­ne Ein­zel­tei­le zer­streut haben wird. Wer ist der Täter bei Selbst­mord­at­ten­ta­ten? Der­je­ni­ge, der den Gür­tel trägt und sich mit der Tat in sei­ne Ein­zel­tei­le auf­löst? Der im Zwei­fels­fall der Zer­ris­sens­te aller Zer­ris­se­nen ist? Der viel­leicht sogar der ein­zi­ge Zer­ris­se­ne ist — bis zur völ­li­gen Spur­lo­sig­keit? Ist der nicht viel­mehr dem klas­si­schen Bom­ben­kof­fer gleich, der irgend­wo abge­stellt wird? Dann wäre der Täter der­je­ni­ge, der ihn abstellt. In der Recht­spre­chung wäre der aber ver­mut­lich eher nur Anstif­ter. Kein Zeu­ge sieht ihn am Tat­ort. Der zer­stö­re­ri­sche Wil­le geht vom Anstif­ter aus, der den Atten­tä­ter nur als Werk­zeug benutzt.

Spä­tes­tens seit Viet­nam und der soge­nann­ten Asym­me­trie der Krie­ge wis­sen Staa­ten um die Gefahr unsicht­ba­rer Fein­de. Nicht-Uni­for­mier­te, nicht „regu­lä­re“ Trup­pen sind nicht regu­lär zu bekämp­fen. Der Feind gleicht einem Gespenst, das sich kurz zeigt und dann wie­der ver­schwin­det. Im Wald. In der Men­ge. Wer in der Men­ge ist der Täter? Der Atten­tä­ter ist nicht feind­li­cher Kämp­fer und nicht Kri­mi­nel­ler. Er ist zugleich bei­des und nichts von bei­dem. Etwas Drit­tes, das sich nicht fas­sen lässt mit den tra­di­tio­nel­len Kate­go­rien. Dem Par­ti­sa­nen in Carl Schmitts Spät­werk gleich, wan­delt er auf der Gren­ze zwi­schen den­je­ni­gen, der nur für sei­ne Kampf­teil­nah­me inter­niert und am Wei­ter­kämp­fen gehin­dert wer­den darf, und dem, der für sei­ne Ver­bre­chen bestraft wer­den muss. Guan­ta­na­mo ist das grau­en­vol­le Zei­chen die­ses Drit­ten, das Schwan­ken zwi­schen feind­li­chen Kom­bat­tan­ten und Ver­bre­chern, zwi­schen Mili­tär- und Zivilgerichtsbarkeit.

Wenn aber der Reichs­tag schon jetzt brennt — wer hat ihn ange­zün­det? Vor 77 Jah­ren schob man einen Täter vor — von dem bis heu­te nicht geklärt ist, ob und wenn ja unter wel­chen Umstän­den ers war. Wer hat den Reichs­tag heu­te in den Köp­fen ange­zün­det? Könn­ten es — Mas­sen­me­di­en sein?

Der unsicht­ba­re Dämon

Erst durch media­le Bericht­erstat­tung und poli­ti­sche War­nun­gen wird den mög­li­chen Tätern eine Aura des Dämo­ni­schen, eine Macht über Leben und Tod, über die Zukunft gege­ben, die Angst ver­brei­tet. Eine qua­si-gött­li­che Macht, die ent­schei­det, wer abbe­ru­fen wird aus dem Leben, wer nicht. Wie lächer­lich. Wer traut sich, eine Come­dy­sen­dung über Selbst­mord­at­ten­tä­ter zu machen?  Wer traut sich, die Knall­frö­sche als die Knall­frö­sche zu zei­gen, die sie sind. So zum Beispiel:

Die End­lich­keit

Ich fah­re Auto. Ich rau­che. Ich ernäh­re mich nicht beson­ders gesund. Ich gehe bei Rot über die Stra­ße. Ich nut­ze Flug­zeu­ge. Ich habe ver­mut­lich hun­der­te Stun­den in asbest­ver­seuch­ten Räu­men ver­bracht . Ich habe Nah­rungs­zu­sät­ze in mich geschau­felt, die heu­te ver­mut­lich nicht ein­mal mehr als Son­der­müll ent­sorgt wer­den dürf­ten. Ich wer­de irgend­wann ster­ben. Das ist nichts neu­es. Jetzt kommt noch die Mög­lich­keit dazu, dass ein sol­cher Anschlag mich tötet. Na und?

Ich leb und waiss nit, wie lang,
Ich stirb und waiss nit, wann,
Ich far und waiss nit, wohin,
Mich wun­dert, dass ich froelich bin.
Mar­ti­nus von Biber­ach, 1498

Die Wet­te

War­um ein­ge­hen auf die Wet­te? War­um noch Poli­zis­ten gefähr­den. War­um nicht ein­fach sagen: Ihr wollt den Reichs­tag zer­stö­ren? Nur zu. Wir haben den Reichs­tag schon so oft wie­der auf­ge­baut. Wir bau­en ihn auch nach euch wie­der auf. Na und? Ihr wollt eine Wet­te? Wir wet­ten nicht. Wir leben in Frei­heit. Und von euch las­sen wir uns noch lan­ge nicht ban­ge machen.

P.S. Und wir las­sen die Angst, die die Pres­se­spre­cher, Regie­rungs­mit­glie­der, Poli­zei­ver­ant­wort­li­chen, Geheim­dienst­chefs und wer da noch so alles mit­plap­pert, nicht dafür miss­brau­chen, die­se Frei­heit zu beschneiden.

Comments are closed.

What's this?

You are currently reading Der Reichstag brennt. Wetten dass? at Postdramatiker.

meta