Das Mysterium der Wettervorhersage #MediaDivina

April 7th, 2013 § 1 comment

Jeden Abend um acht schnei­en die Licht­ge­stal­ten auf den Hei­li­gen­schrein im Wohn­zim­mer, um als Boten der umge­kehr­ten Mis­si­on die schlech­te Nach­richt zu ver­kün­den. Alles ist immer neu, anders, auf­re­gend, skan­da­lös. Bis auf eines, das Ver­än­der­li­che selbst, das am Ende der Nach­rich­ten erscheint. Jene Nach­richt, die nicht aus der Fer­ne kommt, son­dern das Nächs­te ist. Das Nächs­te am nächs­ten Tag, das­je­ni­ge, was jen­seits aller ver­stan­des­ge­mä­ßen Inter­es­sen am Welt­ge­sche­hen auf den Leib rückt, den ver­geis­tig­ten oder ent­geis­ter­ten Nach­rich­ten­se­her wie­der aufs einen Kör­per zurück­wirft, jenes schwit­zen­de oder frie­ren­de Bün­del, das jetzt gera­de in amor­pher Gemüt­lich­keit auf der Couch oder im Ses­sel hockt. Es ist das­je­ni­ge, was die Ver­bin­dung schafft zwi­schen dem Jen­seits der Nach­rich­ten­welt und dem Dies­seits des Zuschau­ers. Zugleich die Ver­bin­dung schafft zwi­schen dem hyper­mo­der­nen Medi­en­kon­su­men­ten und dem Stein­zeit­men­schen, der besorgt aus der Höh­le schaut und die Göt­ter anfleht – um gutes Wetter.
Erst wenn wir jenes Mys­te­ri­um ver­stan­den haben, das der Fern­seh­wet­ter­be­richt ist, wenn er also erst zum Mys­te­ri­um und Rät­sel wur­de durch des­sen Durch­gang das Ver­ste­hen zu ver­ste­hen beginnt, kön­nen wir einen Aus­blick dar­auf bekom­men, war­um die Bör­sen­nach­rich­ten, die seit gut einem Jahr­zehnt dabei sind die Wet­ter­be­rich­te in ihrer Funk­ti­on abzu­lö­sen, zu einem neu­en Mys­te­ri­um und zum Ort der natur­re­li­giö­sen Zei­chen­schau werden.

Das Rät­sel Wetter

Da sitzt er also, der elek­tro­nisch aus­ge­stat­te­te, voll digi­ta­li­sier­te Zuschau­er, der hyper­mo­der­ne Drei­vier­tel­gott vor sei­nem Fern­se­her – und lässt sich das Wet­ter von mor­gen berich­ten. Ist das nicht unin­ter­es­sant? Ist es für einen Bewoh­ner moder­ner Groß­städ­te nicht völ­lig aus­rei­chend, mor­gens beim Blick aus dem Fens­ter zu ent­schei­den, ob Man­tel, Regen­schirm, Gum­mi­stie­fel oder leich­te Som­mer­be­klei­dung das Bes­te ist? War­um der Blick in das leuch­ten­de Fens­ter, der das Wet­ter von mor­gen ver­kün­det. Das Inter­es­se am Wet­ter­be­richt ist eines der Haupt­in­ter­es­sen des Nach­rich­ten­schau­ens. Des­we­gen steht es am Ende der Nach­rich­ten­sen­dung, als das Ver­spre­chen, dass das­je­ni­ge, was der Zuschau­er am Inter­es­san­tes­ten fin­det, am Ende noch kom­men wird, wäh­rend ihm zuvor Mel­dun­gen prä­sen­tiert wur­den, von denen die Redak­ti­on ent­schie­den, dass sie inter­es­sant sind und die sie mit der inter­es­san­tes­ten Mel­dun­gen begin­nen lie­ßen. Das Wich­tigs­te (der Redak­ti­on) steht am Anfang. Das Wich­tigs­te (des Zuschau­ers) kommt am Schluss.
Die­ses Zuschau­er­inter­es­se ist ein Rät­sel, das sich nur als sol­ches kon­sta­tie­ren, aber nicht auf­lö­sen lässt. Es ist eine Kon­stan­te – dar­auf wei­sen die Sta­tis­ti­ken auch des Inter­nets und der Han­dy-Appli­ka­tio­nen hin, die Wet­ter­an­ge­bo­te weit oben in der Beliebt­heit sehen. Er (oder sie) geht viel­leicht vor lau­ter Medi­en­kon­sum gar kei­nen Schritt vor die Tür. Aber wis­sen will er (oder sie) wie am nächs­ten Tag das Wet­ter sein wird. Das wür­de für einen Bau­ern, Pilo­ten oder Hoch­see­ka­pi­tän ver­steh­bar sein- für die aber (so weni­ge sie sind) sind die Fern­seh­wet­ter­be­rich­te bei wei­tem zu unge­nau. Der Wet­ter­be­richt ist der Magnet für das Fern­se­hen, sei­ne Funk­ti­on für jenes For­mat, das man Nach­rich­ten nennt, ist enorm. Natür­lich könn­te man argu­men­tie­ren, das hohe Inter­es­se recht­fer­ti­ge die per­ma­nen­te Bericht­erstat­tung über das Wet­ter. Aber das wür­de auch einen por­no­gra­phi­schen Clip am Ende der Nach­rich­ten­sen­dung recht­fer­ti­gen – und der wird bekannt­lich nicht gezeigt. Son­dern der Wetterbericht.

Der Wet­ter­be­richt ist kon­stant – das Wet­ter nicht

Und es wird nicht nur „mel­dungs­ar­ti­ges“ Wet­ter gezeigt und vor­her­ge­sagt. Nicht nur Unwet­ter oder Wet­ter­wech­sel. Die Wet­ter­pro­phe­zei­ung hat ihren fes­ten Platz und ihre fes­te Län­ge. Egal, ob das Wet­ter bleibt wie es ist, ob es sich ändert – die Pro­phe­zei­ung bleibt. Das ist über­ra­schend. Rech­ne­te man alle Nach­rich­ten­sen­dun­gen, jede Aus­ga­be einer Nach­rich­ten­sen­dung über die Zeit zusam­men und berech­ne­te ihre rele­van­tes­ten Inhal­te: Das Wet­ter wäre zwei­fel­los auf Platz 1.
Und die Form des Wet­ter­be­richts wäre ver­mut­lich geeig­net, eine Kul­tur­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts zu schrei­ben. Sähe man sich die Vor­her­sa­ge­form der 60er, 70er, 80er Jah­re an – man könn­te dar­aus die herr­schen­den Zen­tral­dog­men ablei­ten. Der Bericht über Wet­ter­fron­ten, Hoch- und Tief­druck­ge­bie­te, mit Lini­en und Drei­ecken ver­se­hen, holp­rig gebas­telt und ani­miert. Spä­ter dann Satel­li­ten­fil­me, bun­te Ani­ma­tio­nen. Ein ent­schei­den­der Unter­schied, ob eine kör­per­lo­se Stim­me aus dem Off das Wet­ter vor­her­sagt, ein gött­li­cher Nie­mand, oder ein Wis­sen­schaft­ler, des­sen Titel ein­ge­blen­det wird. Oder ein Kas­per wie Kachelmann.
Die­ses Video gibt einen kur­zen, prä­gnan­ten Einblick:

Das Wet­ter als Witz

Unge­heu­rer Auf­wand wird betrie­ben, um das Wet­ter vor­her zu sagen. Die teu­ers­ten Super­com­pu­ter wer­den dafür genutzt, im gan­zen Land Wet­ter­sta­tio­nen errich­tet – um eine man­gel­haf­te Genau­ig­keit zu errei­chen. Prä­zi­si­on ist unmög­lich. Nicht nur weil im bra­si­lia­ni­schen Regen­wald ein Schmet­ter­lings­schlag ein Unwet­ter aus­lö­sen kann, weil das Wet­ter ein nicht­li­nea­res, deter­mi­niert chao­ti­sches Sys­tem ist. Son­dern weil die Regio­nal­vor­her­sa­ge immer zu grob­ma­schig ist. Selbst wenn für Nord­deutsch­land 100% genau Regen vor­her­ge­sagt wer­den könn­te – ist es weder garan­tiert, dass es in Pin­ne­berg reg­nen wird, noch gar zu wel­cher Zeit. Das Aus­wei­chen auf Pro­zent-Wahr­schein­lich­kei­ten ist sinn­los, weil ein 30%iger Regen­schau­er eben­so nass ist, wie ein 90%iger. Und eine 50%ige Wahr­schein­lich­keit von Nie­der­schlä­gen gibt mir für mor­gen gar kei­nen Anhalt. Denn Regen oder Nicht­re­gen sind zumeist 50% wahrscheinlich.
Kaum ein The­ma dürf­te so anhal­tend für Spott und Wit­ze gesorgt haben, wie der Wet­ter­be­richt. Und trotz­dem will jeder ihn sehen. Und trotz­dem wird er sto­isch gesen­det. Hin­ter der Wet­ter­vor­her­sa­ge steckt mehr, als nur eine net­te Information.

Das Wet­ter: The­ma der Götter

Es waren die höchs­ten Göt­ter im Alter­tum, die für das Wet­ter zustän­dig waren: Jupi­ter, Zeus. Das Wet­ter ist nicht irgend­ein Fak­tum, das Wet­ter ist Chef­sa­che der Göt­ter. Das Wet­ter beein­flusst Nah­rungs­zu­fuhr und Lebens­qua­li­tät. Dafür gab es in den Reli­gio­nen ver­schie­dens­te Prak­ti­ken, vom Ern­te­dank und Frucht­bar­keits­ri­ten über das Wet­ter­ge­bet oder den Wet­ter­zau­ber. Zum Ende des 20. Jahr­hun­derts erhob der Mensch sich selbst zum (zer­stö­ren­den) Gott, als sich die Ein­sicht durch­zu­set­zen begann, dass nicht Göt­ter allei­ne das Wet­ter machen, son­dern der Mensch mit tech­ni­scher Hybis es zu ver­ant­wor­ten hat, dass das Kli­ma sich ändert, dass es zer­stört wird. Der Renais­sance­mensch, der sich zum gött­li­chen Schöp­fer erhob, kommt nun an sein end­gül­ti­ges Ziel, das Wet­ter machen zu kön­nen – ohne es aller­dings sel­ber zu wol­len. Der tech­ni­sche Mensch wird nicht nur gese­hen als Macher der neu­en Natur, son­dern als ihr Zer­stö­rer – am höchs­ten Punkt als Zer­stö­rer des Wet­ters. Das Wet­ter ist kein The­ma wie alle anderen.

Die Vor­her­sa­ge des Wet­ters: Wis­sen­schaft­li­che Neu­tra­li­sie­rung des Zufalls

Das Wet­ter ist das Ver­än­der­li­che selbst. In allem Kon­stan­ten der Natur, im Son­nen­auf- und Unter­gang, im Wech­sel des Monds und der Gezei­ten bleibt das Wet­ter das Ver­än­der­li­che und Qua­si-Schick­sal­haf­te selbst. Wer es neu­tra­li­sie­ren kann, indem er es vor­her­sag­bar macht, der nimmt dem Zufall die Macht, und damit dem Schick­sal. Es gehört zu den Stern­stun­den der Phi­lo­so­phie und der begin­nen­den Wis­sen­schaft, dass ein (im wei­tes­ten Sin­ne) Wet­ter­phä­no­men wie eine Son­nen­fins­ter­nis vor­hergsagt wur­de: Die Son­nen­fins­ter­nis 585 vor Chris­tus durch Tha­les von Milet, das „wis­sen­schaft­li­che“ Gegen­stück zum Erd­be­ben von Lis­sa­bon. Wo letz­te­res die Theo­di­zee in Gang setz­te, die von Gott Rechen­schaft for­der­te, wie er ein sol­ches Ereig­nis zulas­sen kön­ne, ihm damit die Auto­ri­tät zu bestrei­ten unter­nahm, da war die vor­her­ge­sag­te Son­nen­fins­ter­nis des Tha­les der Ursprung der wis­sen­schaft­li­chen Autorität.
Wenn es dem Medi­um Divinum also gelingt das Wet­ter vor­her­zu­sa­gen, so beweist es damit die Auto­ri­tät im qua­si-gött­li­chen Aus­maß. Der Wet­ter­vor­her­sa­ger wird zum Pro­phe­ten im strengs­ten Sin­ne des Wor­tes. Er beglau­bigt die Leit­re­li­gi­on der Natur­wis­sen­schaf­ten, er beweist die Beherr­schung der Natur durch ihr Ver­ständ­nis. Alles ande­re im Fern­se­hen könn­te wohl nach­ran­gig sein – hin­ter der Wettervorhersagekunst.
Die Wet­ter­vor­her­sa­ge bekommt damit zen­tra­le Funk­ti­on im Fern­se­hen zu – zumin­dest im „refe­ren­ti­el­len“ Bereich der Nach­rich­ten. Und zwar sogar meh­re­re Funktionen.

1. Funk­ti­on: Die Beglau­bi­gung der Referentialität

Fern­seh­nach­rich­ten berich­ten aus aller Welt alles Mög­li­che. War­um soll­te man ihnen Glau­ben schen­ken? Nie­mand kann über­prü­fen, was das Fern­se­hen aus der Fer­ne berich­tet. Wo ist der Refe­renz­be­weis? In der Wet­ter­vor­her­sa­ge. Fern­se­hen berich­tet – als umge­kehr­tes Tele­skop – zu sel­ten aus dem Nah­be­reich, den ein jeder Zuschau­er kennt und der es erlau­ben wür­de, die Ange­mes­sen­heit des Berichts an das, wovon er berich­tet, beur­tei­len zu kön­nen. Fern­se­hen ver­langt Glau­ben – als han­de­le es sich um bibli­sche Gleich­nis­se. Um Erzäh­lun­gen aus dem Leben Jesu. Wer weiß schon, ob das Fik­ti­on oder Fak­ten­be­richt ist? Wer weiß, ob es Tro­ja gab? Oder die Hei­li­gen und die Apos­tel? Das Mit­tel­al­ter fand Wege für die Beglau­bi­gung durch die Reli­qui­en. Kör­per­frag­men­te, Kno­chen wur­den aus­ge­stellt und hat­ten die Auf­ga­be zu bele­gen, dass es die Refe­ren­ten der Bibel phy­sisch gab. Die Reli­qui­en­ver­eh­rung fand ihren pro­fa­nen Erben dann in der Archäo­lo­gie, deren mythi­scher Held Schli­e­mann ist, der durch die Aus­gra­bung einer alten Stadt die Behaup­tung auf­stel­len konn­te, es habe Tro­ja wirk­lich gege­ben, und auch den Achil­les. Das Auf­fin­den von Tei­len des Refe­ren­ten beglau­bigt also die­sen Bericht.
Die­ses Reli­qui­en­tum ist dem Fern­se­hen nicht zugäng­lich. Es gäbe nur ande­re Bil­der, Fil­me, Fotos, auf die ver­wie­sen wer­den könn­te von die­sem Ereig­nis oder auch jenem. Die mas­si­ven, para­no­iden Betrugs­theo­rien, die sich um die Mond­lan­dung ran­ken und die Behaup­tung, sie habe nicht statt­ge­fun­den, son­dern sei gestellt wor­den in einem Stu­dio stel­len den zen­tra­len Angriff auf die­se Glaub­wür­dig­keit vor – ein Angriff auf den stern­stünd­li­chen Got­tes­be­weis des Medi­um Divinum. Wie also kann Fern­se­hen die Glaub­wür­dig­keit sichern?
Durch den Wet­ter­be­richt. Der Wet­ter­be­richt kehrt die nach­träg­li­che Nach­richt um und macht das tat­säch­lich ein­tref­fen­de Wet­ter zur Reli­quie. Die Vor­her­sa­ge, die sich auf den Lebens­raum all derer bezieht, die den Wet­ter­be­richt schau­en, bezieht sich auf ihre Lebens­rea­li­tät. Am eige­nen Lei­be lässt sich am nächs­ten Tag der Refe­rent erle­ben, von dem der Bericht gehan­delt hat. Der fal­len­de Regen, der Schnee, der Son­nen­schein sind die Reli­qui­en der Fern­seh­re­li­gi­on – aus der archäo­lo­gi­schen Ver­gan­gen­heit in die meteo­ro­lo­gi­sche Zukunft gewendet.

2. Funk­ti­on: Aus­gleich der kip­pen­den Zeit

Fern­se­hen ist ein Live-Medi­um. Die Nach­rich­ten wer­den live gesen­det. Aus den ers­ten Zei­ten der Fern­seh­nach­rich­ten gibt es kei­ne Auf­zeich­nun­gen. Und die Abend­nach­rich­ten wer­den nicht etwa vor­pro­du­ziert und zeit­ver­setzt aus­ge­strahlt. Sie wer­den live gesen­det. Aller­dings nicht ganz.
Das Live-Medi­um berich­tet über Zurück­lie­gen­des, wenn auch nur eini­ge Stun­den. Es ist nach Hin­ten gerich­tet, auch wenn die Live-Schal­te zu Repor­tern die Live­haf­tig­keit her­stel­len soll. Die Nach­rich­ten sind Nach-Rich­ten. Das, wor­über berich­tet wird, ist ver­gan­gen. Das Live­me­di­um trans­for­miert sich in einen Engel der Kurz­ge­schich­te, der nach Hin­ten blickt. Das Live-Medi­um kippt in die Ver­gan­gen­heit und ver­liert damit sei­ne behaup­te­te Wesen­haf­tig­keit des „jetzt“. Die­ses Kip­pen in die Ver­gan­gen­heit „heilt“ der Wet­ter­be­richt, der ja nicht etwa erzählt, wie es jetzt ist (was eben­so viel oder wenig Rele­vanz hät­te, wie die Vor­her­sa­ge), son­dern er rich­tet sich in die Zukunft. Der ENgel der Geschich­te dreht sich um und blickt nach vor­ne und ver­kün­det was er sieht. Selbst wenn es eine Nach­richt von schlech­tem Wtter ist, ist es (beab­sich­tigt) eine gute Nach­richt, weil sie das Schlch­te, das die Unsi­cher­heit vor dem kom­men­den Wet­ter ist, neu­tra­li­siert und gute Nach­richt ver­kün­det: Dass das Wet­ter nicht über­ra­schend sein wird. Der Segen am Aus­gang der Kir­che: Gehet hin im Regen. Und ob ihr wan­delt im ver­schnei­te Tal, es kann euch nichts pas­sie­ren, denn ich bin bei euch. Ihr wisst vom Schnee und könnt sei­ne Aus­wir­kung neu­tra­li­sie­ren. Die schief hän­gen­de Waa­ge mit den Scha­len „Ver­gan­gen­heit“ und „Zukunft“ wird durch den Wurf der Wet­ter­pro­phe­zei­ung in die Zukunfts-Waag­scha­le aus­ge­gli­chen. Auf der Live-Nadel in der Mit­te lie­gen Ver­gan­gen­heit und Zukunft etwa aus­ge­gli­chen auf.

3. Funk­ti­on: Der kor­ri­gier­te Schematismus

Die Nach­träg­lich­keit der Nach­rich­ten und die Vor­träg­lich­keit des Wet­ter­be­richts hat aber noch eine ande­re Funk­ti­on. Wenn es zwi­schen Ereig­nis und Nach­richts­be­richt einen Zeit­ver­satz gibt, kommt der Sche­ma­tis­mus zwei­zei­tig. Erst fin­det die Wahr­neh­mung (durch das Kame­ra­ob­jek­tiv) statt – dann die ein­ord­nen­de, sche­ma­ti­sier­te Erzäh­lung. Der Wet­ter­be­richt kehrt die­ses Ver­hält­nis um. Zunächst ist es die Nach­richt, die mit­ein­an­der ver­bin­det die wis­sen­schaft­lich-ver­stan­des­mä­ßi­ge Her­lei­tung des Wet­ter­ge­sche­hens und die Vor­aus­sa­ge des sinn­lich wahr­nehm­ba­ren Wet­ters am nächs­ten Tag. Das tat­säch­lich ein­tref­fen­de Wet­ter, der kör­per­lich spür­ba­re Regen, das sinn­li­che Fak­tum folgt dem sche­ma­ti­sier­ten Wet­ter. Der Sche­ma­tis­mus des Fern­se­hens kommt der Wirk­lich­keit zuvor und zeigt die wahr­nehm­ba­re Welt als eine nach­fol­gen­de Aus­wir­kung des­sen, was der sche­ma­ti­sie­ren­de Ver­stand vor-gestellt hat.

4. Funk­ti­on: Gegen die Zei­tun­gen siegen

Nach­rich­ten mel­den die Fern­se­her, Nach­rich­ten mel­den die Zei­tun­gen auch. Auch sie kom­men immer zu spät. Kon­zen­triert man sich für einen Moment nicht dar­auf, dass das Schrift­me­di­um Zei­tung auf­grund sei­ner Schrift­lich­keit gegen die Bild­haf­tig­keit des Fern­se­hens hat, kommt dem Wet­ter­be­richt eine wei­te­re Funk­ti­on zu. Auch Zei­tun­gen kön­nen das Wet­ter vor­her­sa­gen – aber war­um soll­ten sie die­ses tun? Die Zei­tung liest man am Mor­gen­tisch – und liest man die Pro­gno­se dar­in, kann man sich mit einer Wen­dung des Kop­fes fal­si­fi­zie­ren. Das steht es reg­net, dort reg­net es nicht. Es wäre dumm, den Wet­ter­be­richt in der Zei­tung zu brin­gen. Aus pro­duk­ti­ons­tech­ni­schen Grün­den wür­de die Vor­her­sa­ge etwa zum sel­ben Zeit­punkt gemacht, wie die­je­ni­ge, die sich im Fern­se­hen fin­det. Das Fern­se­hen aber kann dar­auf spe­ku­lie­ren, dass die kon­kre­ten Inhal­te der Vor­her­sa­ge am nächs­ten Tag schon ver­ges­sen sind. Es sagt in die Zukunft hin­ein, wo die Zei­tung, wenn sie ver­sucht in die Zukunft zu bli­cken, dem Leser nur die Gegen­wart zu mel­den ver­möch­te. Das inter­es­san­tes­te The­ma, das Wet­ter, hat das Fern­se­hen der Zei­tung voraus.

5. Funk­ti­on: Die kör­per­li­che Relevanz

Fern­seh­nach­rich­ten berich­ten alles von über­all – und die Fra­ge könn­te nun sein: na und? Was hat das mit mir zu tun? Was haben Fern­seh­nach­rich­ten mit mir, dem elen­den Couch­be­woh­ner vor dem Hei­li­gen­schrein, zu tun? War­um soll ich es sehen? Ist es für mich rele­vant? Am Ende kommt die­se Rele­vanz ins Spiel, bei der Wet­ter­pro­gno­se. Sie rückt dem Couch­be­woh­ner auf den eige­nen Leib. Mögen alle Berich­te, fern­lie­gend, abs­trakt, von geis­ti­ger Rele­vanz sein. Das Wet­ter packt den Zuschau­er selbst am eige­nen Kör­per. Wirft ihn zurück auf das eige­ne Schwit­zen und Frie­ren, auf das jäm­mer­lich kör­per­be­haf­te­te Wesen, das er ist. „Du wirst mor­gen frie­ren“ – ist nach allem aus den Ecken der Welt das Kon­kre­te am Ende der Fern­seh­nach­rich­ten. Und die­ses Wet­ter ver­bin­det den Ver­ein­zel­ten auf der Couch, der auf den Fern­se­her starrt, der sich die ein­zel­nen Fer­nen betrach­tet, wie­der mit denen, die mit ihm frie­ren wer­den am nächs­ten Tag. Die Sprach- und Kul­tur­na­ti­on wird durch das Fern­se­hen zur Wet­ter­na­ti­on. Gemein­sam­keit stif­tet das Wet­ter – und der Pro­phet, der es allen vor­her­sa­gen kann.

Die Abkehr vom Wetter

Die Wet­ter­vor­hera­ge hat­te ihre Funk­tio­nen – zenb­tral. Und hat begon­nen, sie zu ver­lie­ren. Seit etwa der Jahr­tau­send­wen­de schickt sich die Bör­sen­schau an, die Nach­fol­ge des Wet­ter­be­richts anzu­tre­ten. All­mäh­lich schleicht er sich an die­se Posi­ti­on. Und doku­men­tiert damit zugleich einen Gesell­schafts- und Medienwandel.

Vom Wet­ter­be­richt zum Börsenwetter

Der Wet­ter­be­richt war eine natur­re­li­giö­se Pra­xis im enge­ren Sin­ne: Die Doku­men­ta­ti­on, dass die schein­bar unvor­her­seh­ba­ren, in frü­he­ren Jahr­tau­sen­den von (anbet­ba­ren) Göt­ter und ihrem frei­en Wil­len gelei­te­ten Gescheh­nis­se, einer natur­ge­setz­li­chen Logik aus Hoch- und Tief­druck­ge­bi­ten, Fron­ten, Wind­rich­tun­gen und Stär­ken usw. bestehen und sich damit vor­her­sa­gen las­sen. Er war ein fern­sehin­halt, inso­fern Fern­se­hen Wahr­neh­mung und Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­schal­tet, wie die vor­he­ri­gen Jah­rund­er­te es von der Kunst kann­ten, und Bil­der von Gegen­stän­den zum spre­chen benutz­ten wie zuvor nur Spra­che und Schrift spra­chen. Das Bild der Welt wird zur Rede, erzeugt ein Welt­bild mit poli­ti­schen und meteo­ro­lo­gi­schen Sinn­zu­sam­men­hän­gen. Die Wis­sen­schaft wird die Königs­dis­zi­plin die­ser Formation.
Der Bör­sen­be­richt schal­tet um. Weg von der Vor­her­sa­ge. Kaum ein Bör­sen­be­richt wagt es, eine Vor­her­sa­ge für die nähe­re oder fer­ne­re Zukunft zu machen. Im Gegen­teil. Wenn sol­che Aus­sich­ten vor­ge­stellt wer­den, dann eher iro­nisch. Das Bör­sen­ge­sche­hen selbst ist dabei kein Natur­ge­sche­hen, es ist ein schein­bar chao­ti­sches, aber sozia­les Gesche­hen. Die Bör­sen­kur­se wer­den durch mensch­li­ches (Börsen-)Handeln bewegt und ver­än­dert. Kein ein­zi­ger Han­deln­der kann sie allei­ne bewe­gen. Kei­ne orga­ni­sier­te Akti­on kann sie bewe­gen. Erst die Auf­be­rei­tung durch so etwas wie Indi­zes macht sie über­haupt als Phä­no­men erkenn­bar. Und öff­net sie der Finanz­her­me­neu­tik der Bör­sen­schau­er. Der Bör­sen­be­richt unter­nimmt es, zwei Wel­ten zusam­men zu brin­gen: Die Welt der Finanz­strö­me und die Welt des Sinns, des sinn­haf­ten Han­delns – und ins­be­son­de­re des poli­ti­schen Han­delns. Das machen etwa die Erschei­nun­gen der letz­ten Jah­re unter dem Namen „Finanz­kri­se“ klar. Das Oder­hoch­was­ser war viel­leicht das letz­te Mal, dass poli­ti­sches und natur­ge­wal­ti­ges Han­deln mit­ein­an­der ver­schränkt und zur gro­ßen Erzäh­lung wur­den. Seit etwa 2007 wur­de die Erzäh­lung umge­stellt auf die Ver­bin­dung zwi­schen Bör­sen­händ­ler­tum und poli­ti­schem Han­deln. Das viel­fäl­ti­ge Gesche­hen der Bör­se wird dazu zu einem Gesamt­bild, einem „Wet­ter“ gleich, auf­be­rei­tet, in ein grö­ße­res „Kli­ma“ inte­griert. Und es wird mit Sinn versehen.
Wet­ter hat kei­nen Sinn, der Wet­ter­be­richt hat den Sinn zu zei­gen, dass mensch­li­che Wis­sen­schaft in der Lage ist, nach­zu­wei­sen, dass die Natur Geset­zen unter­liegt und dadurch in der Lage ist, Vor­her­sa­gen zu tref­fen. Der Bör­sen­be­richt ver­sam­melt die chao­ti­schen Bör­sen­ge­scheh­nis­se zu einem gan­zen, aus dem Sinn destil­liert wer­den soll. Der Sinn, dem die Bör­sen­be­we­gung folgt. Die Bot­schaft, die dar­aus ent­steht: Einer­seits die refle­xi­ve Bot­schaft der Aus­kunft über sich selbst. Denn die Zah­len sol­len besa­gen, wie der Markt steht und sich ver­hält. Erst durch künst­li­che Kumu­la­ti­on der Daten lässt sich sagen. Ob es reg­net oder die Son­ne scheint an der Bör­se. Der Bör­sen­be­richt erklärt nicht, was das Wet­ter von mor­gen ist, son­dern er sagt, wie das Wet­ter heu­te ist bzw. war. Der Bör­sen­be­richt IST das Wet­ter, das als Sinn aus den Daten abge­lei­tet wer­den kann. Zugleich lei­tet es die Bot­schaft dar­aus ab, die „die Märk­te“ damit aus­sa­gen wol­len – ins­be­son­de­re an „die Politik“.
Es ist kein Zufall, dass die Bör­se ihren Sta­tus (zumin­dest in Deutsch­land, wo ich es beob­ach­ten konn­te) zu genau dem Zeit­punkt ein­zu­neh­men begann, als die soge­nann­te New Eco­no­my im Zusam­men­hang mit den gro­ßen Zukunfts­hoff­nun­gen durch das Inter­net ihren Höhen­flug hat­te. Bör­se und Inter­net hän­gen struk­tur­gleich zusam­men. Bör­se ist jenes dezen­tra­le Mul­ti-User-Netz­werk, das sich kom­mu­ni­ka­tiv als Inter­net erfahr­bar macht. Und Fern­se­hen über­nimmt die Auf­ga­be, die­ses chao­ti­sche Netz­werk wie ein Wet­ter­ge­sche­hen in den Blick zu neh­men und inter­pre­ta­to­risch auf­zu­be­rei­ten. Wer von der „Netz­ge­mein­de“ spricht, kann genau­so von der Bör­se sprechen.
Und mit dem Umstieg von der Meteo­ro­lo­gie zum Bör­sen­gu­ru tritt das Fern­se­hen in eine neue Zeit, neue Welt ein. Es macht eine neue Welt.

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