Das Postdrama

Januar 22nd, 2016 Kommentare deaktiviert für Das Postdrama

Immer wie­der ver­wun­dern sich Gesprächs­part­ner über den Namen die­ser Sei­te. Fra­gen, ob das denn auf das „post­dra­ma­ti­sche Thea­ter“ anspie­le und das doch selt­sam sei, weil post­dra­ma­ti­sches Thea­ter doch epo­chal nach (also zeit­lich dahin­ter) iso­liert geschrie­be­nen und kom­plett und geschlos­sen auf­ge­führ­ten Dra­men situ­iert sei. Es also doch selt­sam sei, dass jemand, der sol­che iso­liert geschrie­be­nen zusam­men­hän­gen­den Tex­te (man­chen nen­nen die­se Tex­te gar „Dra­men“) pro­du­zie­re, sich an die­se gegen­wär­ti­ge Thea­ter­kon­zep­ti­on anschlie­ße. Da das ja doch gera­de das Gegen­teil sei und sich im Übri­gen post­dra­ma­ti­sche Thea­ter­ma­cher für alles mög­lich inter­es­sie­ren – aber sicher nicht für iso­liert geschrie­be­ne zusam­men­hän­gen­de „geschlos­se­ne“ Tex­te, die ja doch „Wer­ke“ von „Autoren“ und damit eben das Gegen­teil von usw. Und ob ich denn wohl „Wer­ke“ … und „Autor“ … wo ich doch geschrie­ben habe, dass …

Das ist ver­ständ­lich. Der Name die­ser Web­sei­te aber nimmt nicht Bezug auf post­dra­ma­ti­sches Thea­ter son­dern auf das Post­dra­ma. Anfangs war die Über­le­gung, den Begriff „post­thea­tra­les Dra­ma“ ein­zu­set­zen. Das war zu lang. Und blöd. Und so wur­de es das Post­dra­ma. Das ist kür­zer. An die­ser Stel­le mögen wort­witz­ge­neig­te Leser sämt­li­che Spä­ße mit dem „Post“-Begriff durch­ki­chern. Das Post­dra­ma ist der Text, der nach dem Dra­ma kommt, das es zugleich noch ist und nicht mehr ist. „Die alte Form des Dra­mas ermög­licht es nicht, die Welt so dar­zu­stel­len, wie wir sie heu­te sehen.“ (Brecht) Das ist ein Schritt.

Man könn­te ver­lan­gen, das für das Post­dra­ma ein Mani­fest geschrie­ben wer­de. Ich mag kei­ne Mani­fes­te. Des­we­gen hier also

Kein Mani­fest für das Postdrama

  1. Das Post­dra­ma ist nicht nur nicht psy­cho­lo­gisch, son­dern nicht-psy­cho­lo­gisch. Es inter­es­siert sich nicht für die Tie­fen­di­men­si­on, die ver­bor­ge­nen See­len­kräf­te, die ver­gan­ge­nen Trau­ma­ta, die ver­gan­ge­nen Kon­flik­te mit den Eltern oder Kin­dern, das inne­re Nach­le­ben der Ver­stor­be­nen oder was auch immer. Das Post­dra­ma hat Figu­ren, aber es füllt sie nicht aus, son­dern expo­niert sie als mehr oder min­der kon­kre­te Strich- und Riss­zeich­nun­gen. Oder tech­ni­sche Explo­si­zi­ons­skiz­zen. Oder wie (un)komische Comic­fi­gu­ren. Wei­te­rer Hin­wei­se bedarf es nicht, es soll­te jetzt schon hin­rei­chend undeut­lich gewor­den sein, was kei­ne Figur im Post­dra­ma nicht ist.
  2. Das Post­dra­ma ist nicht-mime­tisch und nicht-rea­lis­tisch. Es spie­gelt kei­ne Wirk­lich­keit oder Rea­li­tät wie­der und behaup­tet es auch nicht. Es stellt weder die Welt und das Leben dar wie sie sind (waren/sein wer­den), noch wie sie sein soll­ten oder könn­ten (auch nicht, „wie wir sie heu­te sehen“). Es ist einer gewis­sen Ver­wun­de­rung dar­über ver­wandt, dass es so etwas wie Welt oder Leben geben soll­te oder könn­te. Oder Rea­li­tät. Oder Wirk­lich­keit. Nicht, dass es nicht mög­lich wäre, dass es sie geben könn­te. Aber wenn es sie geben könn­te oder sie gar vor­aus­ge­setzt wer­den, hält das Post­dra­ma es für ver­wun­der­lich. Ins­be­son­de­re die Fol­gen, die dar­aus ent­ste­hen, dass gesagt wird, es sei ja nun mal so und so. Und man des­we­gen Krieg füh­ren müs­se. Oder hei­ra­ten. Oder nicht hei­ra­ten. Oder arbei­ten. Oder etwas ertra­gen. Oder es nicht ertra­gen. Oder behaup­ten, es sei gar nicht so oder so, son­dern ganz anders, näm­lich so und so. Und man des­we­gen Krieg füh­ren müs­se. Oder hei­ra­ten. Oder nicht hei­ra­ten. Oder arbei­ten. Oder etwas ertra­gen. Oder es nicht ertragen.
  3. Das Post­dra­ma ist syn­the­tisch. Es baut nichts nach. Es baut eher vor. Es baut ein Gefü­ge von Gescheh­nis­sen vor. Das ver­stand Aris­to­te­les bekannt­lich unter der omi­nö­sen Voka­bel μῦθος“: σύνθεσισ τῶν πραγμάτων. Ein Gefü­ge von Gescheh­nis­sen, das kei­ner psy­cho­lo­gi­schen Figu­ren (gar Men­schen) bedür­fe. Das Dra­ma gibt vor, Men­schen beim Tan­go­tan­zen zei­gen zu kön­nen. Das Post­dra­ma wür­de zwei Oran­gen Tan­go tan­zen las­sen. In Men­schen­kos­tü­men. Oder Eis­bä­ren­fel­len. Per­fek­ten Tango!
    Wenn Sie ver­su­chen, Tan­go aus dem Buch zu ler­nen, wer­den Sie auf Zeich­nun­gen von Fuß­ab­drü­cken sto­ßen, die mit Stri­chen ver­bun­den und num­me­riert sind. Das ist sehr post­dra­ma­tisch. Tan­go­tan­zen hin­ge­gen ist dra­ma­tisch. Dabei zuzu­se­hen ist unter­hal­tend. Wer beim Zuse­hen unter­hal­ten wer­den möch­te, kann das tun. Wer den Tan­go ver­ste­hen möch­te, ist beim Post­dra­ma bes­ser auf­ge­ho­ben. Wer sich beim Ver­ste­hen-Möch­ten unter­hal­ten möch­te, kann das tun.
  4. Das Post­dra­ma braucht kei­ne Schau­spie­ler son­dern Spie­ler, kei­ne Actors son­dern Akteu­re. Dar­in lehnt es sich an vie­les ande­res an, zum Bei­spiel an die atti­sche Tra­gö­die, die dem Vor­ur­teil unbe­darf­ter Zuschau­er, es auf der Büh­ne mit Men­schen zu tun zu haben, dadurch begeg­ne­te, dass den Akteu­ren unbe­weg­li­che Mas­ken vor die Gesich­ter gehängt wur­den. Eine sehr gute Idee. Aller­dings waren auf den Mas­ken sti­li­sier­te mensch­li­che Gesich­ter zu sehen. Was bedau­er­lich ist. Und bei His­to­ri­kern und Exper­ten zu Miss­ver­ständ­nis­sen führ­te. Es hät­ten auch Oran­gen­mas­ken sein können.
    Wür­den Oran­gen spre­chen, wären sie sehr geeig­ne­te Akteu­re für das Post­dra­ma (sie könn­ten sehr gut “Men­schen” spie­len — vor­aus­ge­setzt sie haben es gelernt). Wenn sie denn woll­ten. Zumal es kei­ne weib­li­chen und männ­li­chen Oran­gen gibt, was den Oran­gen vie­les ein­fa­cher macht. Aber Oran­gen spre­chen nicht. Viel­leicht haben sie sich dafür ent­schei­den. Gemeinsam.
    Donald Duck ist eine Ente, die spre­chen kann. Aller­dings eine männ­li­che. Wei­ße. Hete­ro­se­xu­el­le. Die nur in einem Buch lebt. Der.
    Mir ist kein Krieg bekannt, der von Oran­gen begon­nen wur­de. Oran­gen hän­gen im Wesent­li­chen ein­fach so her­um. Lei­der enden sie häu­fig als Orangensaft.
  5. Das Post­dra­ma braucht kei­ne Zuschau­er son­dern Beob­ach­ter. Das sind die Ver­ste­hen-Möch­ter. Oder eigent­lich eher noch die Ver­ste­hen-Ver­ste­hen-Möch­ter. Ver­ste­hen-Möch­ter-Ver­ste­hen-Möch­ter. Und so wei­ter. Die Oran­gen beim Tan­go­tan­zen zuhö­ren wür­den – und Dra­ma­ti­kern beim Pres­sen von früh­kind­lich trau­ma­ti­sier­ten Orangen.
  6. Das Post­dra­ma ist theo­re­tisch. Es lässt nicht die Welt ver­ste­hen. Nur ihre Zusam­men­hän­ge. Ohne die Fül­lung. Es zeigt die star­ken und schwa­chen Kräf­te, die in Ato­men wirk­sam sind. Ohne Ato­me. Dafür mit Oran­gen. Oder Eis­bä­ren­fel­len. Es geht also um Mecha­nis­men. Um den Tanz. Die Tän­ze. Vorgänge.
  7. Das Post­dra­ma ist ana­gnos­tisch. Sie sol­len im Post­dra­ma nicht aus­ru­fen: “Par­dauz! Ja, so ist das.” Sie sol­len aus dem Post­dra­ma her­aus­ge­hen und irgend­wann aus­ru­fen: “Das ist ja ganz famos post­dra­ma­tisch, was mir hier wie­der­fährt.” Wenn Sie hin­zu­fü­gen: “Die Wirk­lich­keit ahmt ja das Post­dra­ma ganz präch­tig nach.” soll­ten sie in ein wei­te­res Post­dra­ma gehen. Wegen der Sache mit der Wirk­lich­keit. Und den Oran­gen. Mei­den Sie bis dahin Oran­gen­pres­sen. Und Krie­ge. Und las­sen Sie sich nicht von Enten anquat­schen. Ler­nen Sie Tan­go tan­zen. Aus Büchern. Ohne Musik. Mit einer Oran­ge. Im EIs­bä­ren­fell. Und dann besu­chen Sie einen Kur­sus, in dem Ihnen das Nicht-Tan­go-Tan­zen bei­gebracht wird. Bis Sie es per­fekt nichtkönnen.
  8. Das Post­dra­ma ist rekon­struk­ti­vis­tisch. Das soll­te jetzt kei­ner wei­te­ren Erklä­rung bedür­fen. Es ist nicht von einer der Ver­nunft und Logik wider­spre­chen­den Absur­di­tät. Im Gegen­teil. Es ist nicht unpo­li­tisch. Im Gegen­teil. Stel­len Sie sich Ange­la Mer­kel als Oran­ge vor. Im Eis­bä­ren­fell. Dann ver­ste­hen Sie. Etwas.
  9. Beob­ach­ter lachen nicht über Mario Barth. Son­dern über sei­ne sinn­lo­sen Bemü­hun­gen, sie zum Lachen zu bringen.
  10. Kei­ne Kunst. Handwerk.
  11. Wenn Sie ver­stün­den, was ich mei­ne, müss­te ich mir nicht die Mühe machen, Post­dra­men zu schreiben.

Abschluss­prü­fung: Kei­ner und Nie­mand sit­zen in der U‑Bahn. Kei­ner pupst. Nie­mand lacht. Warum?

P.S: Wenn Sie eine Oran­ge sehen, den­ken Sie nicht an Post­dra­men. Wenn Ihnen das gelingt, sind Sie auf bes­tem Wege.

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