Drama und Ideologie 8: Die Krise der politischen Erzählungen

September 9th, 2014 Kommentare deaktiviert für Drama und Ideologie 8: Die Krise der politischen Erzählungen

Auf dem Jour­na­lis­ten-Bran­chen­por­tal Mee­dia fin­det sich heu­te ein inter­es­san­ter Text von Ste­fan Win­ter­bau­er (Hier). Dar­in wird die Kri­se des Jour­na­lis­mus aus­nahms­wei­se nicht als Auf­la­gen­kri­se, son­dern als Kri­se der Erzäh­lung beschrie­ben: Anläss­lich der gest­ri­gen Sen­dung von Frank Plas­bergs „Hart aber Fair“ wird geschil­dert, wie die Ver­su­che, dort zu einer gemein­sa­men Erzäh­lung des Ukrai­ne-Kon­flikts zu kom­men, gleich­zei­tig in einer „Gegen­öf­fent­lich­keit“ in den digi­ta­len, sozia­len Medi­en kon­fron­tiert ist, die par­al­lel ihre eige­nen Erzäh­lun­gen ent­war­fen. Er schreibt:

Die Gegen­öf­fent­lich­keit arti­ku­liert sich im Zuge der Ukrai­ne-Kri­se erst­mals in gro­ßem Stil. Dass das Phä­no­men wie­der ver­schwin­det, ist unwahr­schein­lich. Für die klas­si­schen Medi­en ist dies eine der größ­ten Her­aus­for­de­run­gen der Digi­ta­li­sie­rung. Wie kön­nen Medi­en ihre Glaub­wür­dig­keit ret­ten oder zurück­ge­win­nen? Wie kön­nen sie dem Publi­kum deut­lich machen, dass es sich lohnt ihnen zu vertrauen?

Nun ist es sicher­lich etwas zu kurz gegrif­fen zu behaup­ten, hier arti­ku­lie­re sich eine Gegen­öf­fent­lich­keit zum ers­ten Mal. Die Geschich­te der Gegen­öf­fent­lich­kei­ten ist bereits im ana­lo­gen Zeit­al­ter rela­tiv lang (Bei­spiel: „Kein Blut für Öl“ im ers­ten Golf­krieg), wird noch erheb­lich umfang­rei­cher im Digi­tal­zeit­al­ter – von Online-Peti­tio­nen, über Pla­gi­ats-Jäger bis hin zu den Phä­no­me­nen des Ara­bi­schen Früh­lings. Trotz­dem bleibt die Beschrei­bung des Zusam­men­hangs von Ukrai­ne-Kri­se und erzäh­len­den Gegen­öf­fent­lich­kei­ten inter­es­sant zu beob­ach­ten, die Win­ter­bau­er hier anreißt.

Die Plas­berg-Sen­dung

Ich habe die Sen­dung mit dem Titel „Wla­di­mir Putin – der gefähr­lichs­te Mann Euro­pas? ges­tern gese­hen – und war von Beginn an über­rascht. Es saßen in der dort vor­wie­gend jour­na­lis­ti­sche „Erzäh­ler“: die rus­si­sche Jour­na­lis­tin Anna Rose, der ehe­ma­li­ge WDR-Inten­dant Fritz Pleit­gen, der Mos­kau­er Focus-Kor­re­spon­dent Boris Reit­schus­ter, der Jour­na­list und Fil­me­ma­cher Hubert Sei­pel. Zwi­schen ihnen der Kanz­ler­amts­chef Peter Alt­mei­er, der nicht zuletzt Auf­se­her der poli­ti­schen Erzäh­ler ist: des Bundesnachrichtendienstes.

Zwi­schen die­sen Erzäh­lern ent­spann sich nun: der Kampf der Erzäh­lun­gen, der auf eigen­ar­ti­ge Wei­se an Aki­ra Kur­o­sa­was Ras­ho­mon erin­ner­te, eines Fil­mes, der „den sel­ben“ Vor­fall vier­mal erzäh­len lässt, von vier unter­schied­li­chen Stand­punk­ten aus und dar­aus vier unter­schied­li­che Erzäh­lun­gen von etwas gewinnt, von dem es ein „das­sel­be“ nicht mehr gibt.

Bei Plas­berg tra­ten sehr gezielt ein­ge­la­de­ne jour­na­lis­ti­sche Erzäh­ler an, erzähl­ten – und kamen zu sehr unter­schied­li­chen Erzäh­lun­gen des­sen, wovon es sicher am Ende, ver­mut­lich aber von Anfang an kein „dasselbe“gibt. Waren hier und da Ele­men­te auch strit­tig, so waren sich doch die Erzäh­lun­gen im Wesent­li­chen dar­in ähn­lich, dass sie vie­le gemein­sa­me Ele­men­te ver­wen­de­ten, sie aber unter­schied­lich zusam­men­füg­ten, zu unter­schied­li­chen Erzäh­lun­gen mit unter­schied­li­chen dar­aus fol­gen­den Kon­se­quen­zen. Das im Ein­zel­nen zu rekon­stru­ie­ren, wür­de hier zu weit füh­ren, zumal die ein­zel­nen unter­schied­li­chen Erzäh­lun­gen weit­ge­hend schon vor­her eini­ger­ma­ßen bekannt waren.

Inter­es­san­ter ist die Beob­ach­tung, dass eben Erzäh­ler hier gegen­ein­an­der antre­ten, Jour­na­lis­ten, die in ihren unter­schied­li­chen Erzäh­lun­gen (mehr oder weni­ger prä­gnant) deut­lich wer­den las­sen, dass ihre Erzäh­lun­gen bestimm­te Gefü­ge von Zusam­men­hän­gen sind, die mit­ein­an­der inkom­pa­ti­bel sind. Es ist nicht nur ein Streit dar­über, was jetzt pas­sie­ren soll­te. Es ist vor allem der Streit, was „Sache“ ist – und was dar­aus zu fol­gern ist. Die Kon­se­quenz: Die Ukrai­ne-Kri­se lässt in gro­ßer Deut­lich­keit die Kri­se der Erzäh­lun­gen sicht­bar wer­den, die sich ver­stärkt durch die Par­al­le­li­tät alter und neu­er Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel ergibt. Es wird sicht­bar, dass das alte Leit-Erzähl­me­di­um, die Media Divina Fern­se­hen ihre Erzähl­kraft ver­lo­ren hat.

Denn es strei­ten nicht nur in der Media Divina die Erzäh­ler, son­dern – wie Ste­fan Win­ter­bau­er berich­tet – in zahl­rei­chen klei­nen Debat­ten ver­hed­dern sich auch in der digi­ta­len und sozia­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­welt die Erzäh­lun­gen inein­an­der, fal­len in Glau­bens­grüpp­chen aus­ein­an­der und bau­en sich ihre eige­nen Erzäh­lun­gen. Win­ter­bau­er attes­tiert eine „Glaub­wür­dig­keits­kri­se“ der Mas­sen­me­di­en, die er für rele­van­ter hält als den Medi­en­wan­del und die Auf­la­gen­kri­se der Zei­tun­gen. Der zen­tra­le Bestand­teil die­ser Dia­gno­se aller­dings ist „Glau­ben“ und „Glaub­wür­dig­keit“, weil er an etwas rührt, was Mas­sen­me­di­en als Erzäh­ler immer vor­aus­set­zen, wor­auf sie auf­bau­en müs­sen, ohne es doch selbst her­stel­len zu kön­nen. Das macht die­sen Sach­ver­halt in der hie­si­gen Blog­pos­ting-Rei­he „Dra­ma und Ideo­lo­gie“ inter­es­sant, weil sich Anschluss­fä­hig­keit an die Tri­via­li­tä­ten des Aris­to­te­les, von denen in den letz­ten Pos­tings die­ser Rei­he (hier, hier, hier und hier) die Rede, her­stel­len lässt.

Aris­to­te­les und der poli­ti­sche Groschenroman

Die Erzäh­lung ist, im Anschluss an die letz­ten Bei­trä­ge zu Aris­to­te­les hier im Blog, eine Zusam­men­fü­gung von Prak­ti­ken (σύνθεσιν τῶν πραγμάτων), die Aris­to­te­les mit dem miss­ver­ständ­li­chen Wort μῦθος bezeich­net, die von einem Gefü­ge­ma­cher (μυθοποιός) erstellt wird, indem Prak­ti­ken zu einem Zusam­men­hang gefügt wer­den. Die­ses Gefü­ge hat sich dem Kri­te­ri­um des Mög­li­chen und Not­wen­di­gen (τὸ εἰκὸς τὸ ἀναγκαῖον) zu fügen. Ele­men­te wer­den zu einem Zusam­men­hang zusam­men­ge­setzt, neue Ele­men­te müs­sen, damit eine Erzäh­lung wei­ter erzählt wer­den kann, sich in die­ses Gefü­ge ein­fü­gen lassen.

2010 hat­te Frank Schirr­ma­cher in der FAZ (hier) einen schö­nen Arti­kel, der beschrieb „wie man ein ver­dammt guter Poli­ti­ker wird“ – und dabei behaup­te­te: „Poli­ti­sche Glaub­wür­dig­keit im neu­en Medi­en­zeit­al­ter ist kei­ne mora­li­sche, son­dern eine lite­ra­ri­sche Kate­go­rie.

In kri­ti­scher Absicht, anläss­lich des Prä­si­di­al­wahl­kamp­fes zwi­schen Chris­ti­an Wulff und Joa­chim Gauck, deckt Schirr­ma­cher die aris­to­te­li­schen Geset­ze des poli­ti­schen Gro­schen­ro­mans auf:

Wir lesen Thril­ler, weil wir an einem Leben teil­neh­men wol­len, das auf­re­gen­der ist als das unse­re. Aber wol­len wir das auch in der Poli­tik? Und erzwingt die­se media­le Erwar­tung nicht eine Poli­tik, die nach den Geset­zen der aris­to­te­li­schen Dra­men­theo­rie abläuft, aber nicht mehr nach den Geset­zen der Demokratie?

Das Pro­blem aller­dings ist, dass die­se Kri­tik kri­ti­sie­ren will, was sie nicht kri­ti­sie­ren kann: Jour­na­lis­ti­sches Erzäh­len fügt sich immer und jeder­zeit den aris­to­te­li­schen Kate­go­rien des Gefü­ges. Auch dann, wenn man, wie Schirr­ma­cher, als Jour­na­list eine Erzäh­lung über die Erzäh­lung von Jour­na­lis­ten zusam­men­fügt: „Poli­tik wird jetzt als Fort­set­zungs­ro­man beschrie­ben, dank der Nach­rich­ten­por­ta­le im Netz, die wie­der­um vom Fern­se­hen gefüt­tert wer­den, das wie­der­um von Poli­ti­kern genährt wird.“ – das beschreibt Jour­na­lis­mus von ihren Anfän­gen an. Und Schirr­ma­cher war zu klug, um ernst­haft glau­ben zu kön­nen, es gäbe jen­seits der poli­ti­schen Gro­schen­ro­ma­ne eine Wahr­heits-Erzäh­lung, die sich ande­ren, als den von ihm als ästhe­ti­sche benann­ten Geset­zen füg­te. Er mar­kiert die­ses Wis­sen, indem er schein­ba­ren Gegen­be­griff in Anfüh­rungs­zei­chen setzt: „Wahr­heit“. Denn die­se Wahr­heit ist in jour­na­lis­ti­schen Erzäh­lun­gen – egal ob in Zei­tung, Radio oder Fern­se­hen – eben immer erzähl­te Wahr­heit. Er schreibt:

Poli­ti­sche Erzäh­lun­gen fol­gen nicht poli­ti­schen, son­dern stren­gen ästhe­ti­schen Geset­zen. Sie haben nichts mit der „Wahr­heit“ zu tun, nicht mit dem, was wirk­lich so gewe­sen ist, oder gar der Abwä­gung von Mei­nun­gen – im Gegen­teil, sie brau­chen Zuspit­zung, Kon­flikt und Span­nungs­bö­gen, sie fol­gen Geset­zen aus­ge­feil­tes­ter Berech­nung. Wir sind im Begriff, nur noch eine Poli­tik zu hono­rie­ren, die die­ser Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie folgt.

Und er for­dert nicht etwa eine nicht-erzähl­te jour­na­lis­ti­sche „Wahr­heit“ als Alter­na­ti­ve der jour­na­lis­ti­schen Erzäh­lung – er for­dert vielmehr:

Ein ver­dammt guter Poli­ti­ker wäre einer, der kei­ne Figur im Medi­en­un­ter­hal­tungs­ro­man unse­rer Epo­che wäre, son­dern selbst zum Autor unse­rer nächs­ten Jah­re wird.

Er for­dert, dass der Poli­ti­ker selbst zum Erzäh­ler wird – was, wie viel­leicht am Ende die­ses Pos­tings klar wird, kei­nes­wegs eine so ein­fa­che und unge­fähr­li­che For­de­rung ist.

Bei Plas­berg wur­de das Auf­ein­an­der­pral­len sol­cher erzäh­le­ri­schen jour­na­lis­ti­scher Gefü­ge beob­acht­bar. Die Erzäh­lung trifft auf Gegen­er­zäh­lun­gen, und ver­schie­de­ne die­ser Erzäh­lungs-Gefü­ge tref­fen auf­ein­an­der, wobei jede Erzäh­lung die jeweils andere(n) inso­fern ein­zu­bau­en ver­sucht, indem sie sie zu Pro­pa­gan­da der Gegen­sei­te erklärt. Das führt dazu, sich ein­ge­hen­der mit Erzäh­lun­gen im poli­ti­schen Raum zu befas­sen – und mit ihrer Kri­se sowohl bei Jour­na­lis­ten als auch bei Politikern.

Erzäh­lun­gen und Singularitäten

Wann, wie und wo Erzäh­lun­gen ent­ste­hen, mag viel­fäl­tig sein und kei­ner ein­heit­li­chen Erzäh­lung über das Erste­hen von Erzäh­lun­gen fol­gen. Gele­gent­lich aber las­sen sich Erzäh­lun­gen in ihrem Ent­ste­hen beob­ach­ten, ins­be­son­de­re dann, wenn am Anfang etwas steht, was als Sin­gu­la­ri­tät benannt wer­den kann. Ein Ereig­nis, Eine Zäsur, ein Skan­da­lon, etwas „Uner­klär­li­ches“, also etwas, das sich nicht ein­fach in eine Erzäh­lung ein­fü­gen zu las­sen scheint. Die bei­den berühm­ten Flü­ge der Malay­sia Air­lines sind dafür Beispiele.

MH370 – die ver­blas­sen­de Singularität

Der plötz­lich ver­schwun­de­ne Flug MH370 war eine sol­che Sin­gu­la­ri­tät, die in mas­sen­me­dia­len Mel­dun­gen gemel­det, aber nicht in eine Erzäh­lung ein­ge­fügt wer­den konn­te. Ein Flug­zeug ver­schwin­det spur­los – und nie­mand kennt die Erzäh­lung dar­um her­um. Vie­ler­lei Spe­ku­la­tio­nen (die ers­te For­mu­lie­rungs­ver­si­on von Erzäh­lun­gen, zumeist so lan­ge, wie sich noch kei­ne soli­den Erzäh­lun­gen bil­den lie­ßen) wer­den hek­tisch vor­ge­tra­gen, Akti­vi­tä­ten ent­fal­tet, die fak­ten­för­mi­ge Ele­men­te zum Vor­schein brin­gen sol­len, aus denen sich zumin­dest eine Erzäh­lung fügen lässt. Was nicht garan­tiert, dass am Ende all­ge­mein­ver­bind­lich eine ein­zel­ne Erzäh­lung ste­hen wird, was aber dazu führt, dass eine Erzäh­lung vor­liegt, die das Ver­schwin­den des Flug­zeugs zu einem End­punkt nach, nach dem (an Aris­to­te­les ori­en­tiert) nichts mehr folgt. Ein Gefü­ge, eine Ver­ket­tung, eine Erzäh­lung. Die­se Erzäh­lung liegt noch nicht vor, trotz­dem ist Flug MH370 eben­so von der media­len Ober­flä­che ver­schwun­den wie zuvor vom Radar. Die Sin­gu­la­ri­tät verblasst.

MH17 – die sich ver­stär­ken­de Singularität

Ganz anders die Erzäh­lung von Flug MH17, der über der Ukrai­ne abstürz­te. Hier waren fast sofort nach der Sin­gu­la­ri­tät Erzäh­lun­gen zu fin­den: Abschuss durch Sepa­ra­tis­ten, Abschuss durch die rus­si­sche Armee, Abschuss durch ande­re Mäch­te. Meh­re­re Erzäh­lun­gen stan­den sich gegen­über, deren kei­ne die ande­ren zu domi­nie­ren ver­moch­te. Kei­ne Erzäh­lung war in der Lage, die Anhän­ger ande­rer Erzäh­lun­gen in Zwei­fel zu brin­gen, wes­we­gen die Erzäh­lun­gen offi­zi­ell unter­bro­chen wur­den. Wäh­rend zunächst – je nach erzäh­le­ri­scher Über­zeu­gung – jedem Betrach­ter eine Erzäh­lung über­zeu­gend erschien, wur­den die Erzäh­lun­gen durch die Unter­su­chung aus­ge­setzt, es wer­den Unter­su­chungs­be­rich­te vor­ge­legt, die mit gro­ßer Vor­sicht ver­su­chen, vor­schnel­le Erzäh­lun­gen zu ver­mei­den, und die dadurch die Sin­gu­la­ri­tät immer sin­gu­lä­rer erschei­nen las­sen. Was anfangs klar schien, wird zuneh­mend Rät­sel­haft. Und zu erwar­ten ist wohl, dass die Dau­er der Ermitt­lun­gen dazu füh­ren wird, dass auch die­se Sin­gu­la­ri­tät all­mäh­lich ver­blasst, nach­dem sie bereits zu Beginn maxi­ma­le Wir­kung ent­fal­tet hatte.

Die Macht der Singularitäten-Konstruktion

Sin­gu­la­ri­tä­ten als Anfangs­punk­te mög­li­cher Erzäh­lun­gen haben enor­me Macht, sie wer­den von den­je­ni­gen, die bestimm­te Zie­le ver­fol­gen, bewusst ein­ge­setzt, um in der Öffent­lich­keit einen erzäh­le­ri­schen Kau­sa­li­täts­rah­men zu instal­lie­ren, mit dem eige­nes Han­deln begrün­det wer­den soll und auf Zustim­mung zu tref­fen hof­fen darf: Weil X geschah, ist es das Rich­ti­ge Z zu tun:

  • Weil in Ex-Jugo­sla­wi­en ein angeb­li­cher Huf­ei­sen­plan ver­folgt wird, müs­sen NATO-Jets ohne UN-Man­dat und damit völ­ker­rechts­wid­rig im Koso­vo bombardieren.
  • Weil Sad­dam Hus­sein über Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen ver­fügt, müs­sen wir völ­ker­rechts­wid­rig in den Irak ein­mar­schie­ren und ihn stürzen.
  • Weil Al Quai­da eine dämo­ni­sche Macht ist, die sich in der palast­ar­ti­gen Berg­fes­tung Tora Bora ver­steckt, müs­sen wir mit allen Mit­teln in Afgha­ni­stan in den Krieg ziehen.

Das Gemein­sa­me an die­sen drei Erzäh­lun­gen ist, dass sie jeweils auf bewusst kon­stru­ier­ten Sin­gu­la­ri­tä­ten auf­setz­ten: kein Huf­ei­sen­plan, kei­ne Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen, kein Tora Bora.

Die Macht der gemach­ten Singularitäten

Auf der ande­ren Sei­te wer­den Sin­gu­la­ri­tä­ten bewusst pro­du­ziert, um bestimm­te Erzäh­lun­gen in Gang zu set­zen. Die fol­gen­reichs­te die­ser Sin­gu­la­ri­tä­ten waren die Anschlä­ge von 9/11. Aus hei­te­rem Him­mel stür­zen Flug­zeu­ge in Häu­ser. Und in den Stun­den und Tagen danach lässt sich ver­fol­gen, wie die US-Admi­nis­tra­ti­on sich bemüht, sie in ein Gefü­ge ein­zu­ord­nen. Es ist inter­es­sant die Reden von Geor­ge W. Bush vom Abend des 11. Sep­tem­ber 2001und vom 20. Sep­tem­ber 2001 nach­zu­le­sen, um zu ver­fol­gen, wie das Gefü­ge ent­stand, das seit­her erzählt wird und für das eine dämo­ni­sche Macht ent­wi­ckelt wur­de: Al Quai­da. Eine Macht, die es nicht gab, bevor die US-Regie­rung von ihr sprach (so jeden­falls eine mög­li­che Erzäh­lung, die der BBC-Doku­men­tar­film­erzäh­ler Adam Cur­tis in The Power of Night­ma­res) vor­stellt (hier online zu sehen). Die Sin­gu­la­ri­tät zwang dazu, ein zure­chen­ba­res Gegen­über zu fin­den, dem die Sin­gu­la­ri­tät als schuld­haf­te Tat zuge­ord­net wer­den kann, um dar­aus in eine Racheer­zäh­lung über­ge­hen zu kön­nen. Die wei­te­ren Kapi­tel die­ser Erzäh­lung sind bekannt – und begin­nen, mit dem zeit­li­chen Abstand von der Sin­gu­la­ri­tät, lang­sam in ihrer bewuss­ten Gefügt­heit sicht­bar zu werden.

Erzäh­lun­gen und Kriege

Die Ver­gan­gen­heit bringt unzäh­li­ge Bei­spie­le für fik­ti­ve Sin­gu­la­ri­tä­ten, mit denen zum Krieg ent­schlos­sen Grup­pen oder Regie­run­gen den Krieg her­bei­ge­führt haben: die genann­ten, inzwi­schen als sol­che ein­ge­räum­ten Fik­tio­nen eben­so, wie Hit­lers „Seit 5 Uhr 45 wird zurück­ge­schos­sen“ als Kriegs­be­ginn gegen Polen. Zu beach­ten aber wäre eben­so, wie die Ver­stri­ckung in bestimm­te Erzäh­lun­gen dazu füh­ren kann, dass sich in krie­ge­ri­sche Zustän­de hin­ein­be­wegt wird, eben weil die Gefügt­heit der Erzäh­lun­gen nicht mehr in Rech­nung gestellt wird. Hypo­the­tisch ist anzu­neh­men, dass sich eine sol­che Situa­ti­on gera­de gefähr­lich auf­tut im Zusam­men­hang mit der Ukrai­ne, da sich Regie­run­gen des soge­nann­ten Wes­tens (getrie­ben von der seit lan­gem nach einer exis­tenz­be­grün­den­den Erzäh­lung von Reprä­sen­tan­ten der NATO – wie man erzäh­len könn­te) eine Erzäh­lung zu stri­cken begin­nen, von den impe­ria­lis­ti­schen Absich­ten ein­zel­ner Regie­run­gen oder Figu­ren, denen (im Zwei­fels­falls sogar krie­ge­risch) gegen­über zu tre­ten ist.

Die sin­gu­lä­ren Figuren

Die ein­fachs­ten Erzäh­lun­gen sind Kon­flikt­er­zäh­lun­gen wie „Wir gegen Al Quai­da“, ins­be­son­de­re dann, wenn sie sich noch auf eine iden­ti­fi­zier­ba­re Per­son her­un­ter bre­chen las­sen, wie Osa­ma bin Laden. Mas­sen­me­dia­le Erzäh­lun­gen sind (viel­leicht ins­be­son­de­re dann, wenn sie Bil­der zei­gen müs­sen, was mit Per­so­nen ein­fa­cher zu machen ist, als mit abs­trak­ten Zusam­men­hän­gen) rou­ti­ne­mä­ßig dar­auf aus­ge­rich­tet, zen­tra­le Figu­ren zu defi­nie­ren. Dar­über hat­te ich hier im Blog ja schon geschrie­ben, im Anschluss an Frank Schirr­ma­chers The­se, das Poli­ti­sche wer­de in mas­sen­me­dia­len Berich­ten zum Gro­schen­ro­man. Mas­sen­me­di­en erzäh­len – und damit sind sie auf ganz selbst­ver­ständ­li­che Wei­se von erzäh­len­den Gro­schen­ro­ma­nen nicht weit ent­fernt. Und sie wer­den des­to stär­ker zu die­sem Gen­re, je mehr sie sich auf die Per­so­na­li­sie­rung der Erzäh­lung zube­we­gen, indem also tat­säch­lich mythi­sche (im Sin­ne von: mär­chen­haf­te) Über­fi­gu­ren auf­tre­ten. Als sol­che eig­nen sich Regie­rungs­chefs und Anfüh­rer unter­schied­lichs­ter Pro­ve­ni­enz. In der Ukrai­ne-Kri­se ist die­se mythisch-dämo­ni­sche Figur Vla­di­mir Putin, beson­ders gut zu erle­ben auf Print-Titels „Stoppt Putin“ – oder eben ges­tern bei Plas­berg, der sich in wei­ten Tei­len um Putin drehte.

Am Ein­fachs­ten las­sen sich sol­che Figu­ren in Sin­gu­la­ri­tä­ten ver­wan­deln, wenn sie durch ein­fa­chen Ver­gleich in bestehen­de Erzäh­lun­gen ein­ge­bun­den wer­den kön­nen: die Asso­zia­ti­on Sad­dam Hus­s­eins mit Hit­ler war dafür eben­so ein Bei­spiel, wie die Asso­zia­ti­on Osa­ma Bin Ladens mit dem Anti­chris­ten in Tei­len der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik-Öffent­lich­keit („Ach­se des Bösen“). Des­we­gen ist es nicht über­ra­schend, dass sowohl ein deut­sches Regie­rungs­mit­glied (Wolf­gang Schäub­le am 31.04.2014; Quel­le), wie auch ein Mit­glied der bri­ti­schen Mon­ar­chie (Prinz Charles am 22.05.2014, Quel­le ) und dann noch der bri­ti­sche Pre­mier­mi­nis­ter Came­ron (02.09.2014; Quel­le) bereits mit Putin-Hit­ler-Asso­zia­tio­nen in den Mas­sen­me­di­en prä­sent waren.

Das Pro­blem an einer sol­chen Erzäh­lung ist, dass nie­mand genau weiß, inwie­weit die beschrie­be­ne sin­gu­lä­re Figu­ren bereit ist, an der Erzäh­lung mit­zu­wir­ken. Ins­be­son­de­re der rus­si­sche Prä­si­dent sorgt für zahl­rei­che Irri­ta­tio­nen, die sich mal fügen las­sen, mal dem Gefü­ge zu wider­spre­chen schei­nen, was nicht etwa die Bri­sanz der Lage ent­schärf­te (indem man annäh­me, er wür­de eben kein Teil einer dämo­ni­schen Sin­gu­la­ri­täts-Erzäh­lung sein), son­dern die­se noch ver­stärkt, weil das Aus­set­zen der Erzäh­lung für die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger eine höhe­re Bri­sanz und Gefähr­lich­keit birgt, als die deut­li­che Ein­bind­bar­keit in irgend­ei­ne Erzäh­lung. Man könn­te die gesam­te spiel­theo­re­ti­sche Stra­te­gie des kal­ten Krie­ges ver­mut­lich sehr gut als den weit­ge­hend erfolg­rei­chen Ver­such bezeich­nen, bei­de Kon­flikt­par­tei­en an einer gemein­sa­men Erzäh­lung teil­ha­ben zu las­sen. Kri­ti­sche Situa­tio­nen ent­stan­den jeweils an den Punk­ten (Kuba-Kri­se), wo eine Sei­te die Züge der ande­ren Sei­te in der gemein­sa­men Erzäh­lung nicht mehr ein­zu­ord­nen wusste.

Die Kri­se der Erzählungen

Der anfangs erwähn­te Arti­kel in Mee­dia weist nun auf die Kri­se der Erzäh­lun­gen hin, die durch die Ver­meh­rung öffent­li­cher Erzäh­lun­gen durch digi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en ent­steht. Das ist inso­fern ein wich­ti­ger und inter­es­san­ter Hin­weis, als es dar­auf hin­weist, dass die Situa­ti­on der Kuba-Kri­se zur Dau­er­si­tua­ti­on dann zu wer­den droht, wenn kei­ne gemein­schaft­li­che, siche­re Ein­bin­dung aller Par­tei­en in eine gemein­sa­me Erzäh­lung mehr gelingt, mehr noch: wenn nicht ein­mal die eige­ne Erzäh­lung mehr als stär­ker als meh­re­re ande­re Erzäh­lun­gen gel­ten kann.

Das kann nicht nai­ve Fei­er einer posi­ti­ven Kraft von Erzäh­lun­gen bedeu­ten – die Ver­gan­gen­heit, ins­be­son­de­re des euro­päi­schen und asia­ti­schen 20. Jahr­hun­derts zei­gen deut­lich, wel­che Mas­sen­mor­de Ein­zel­er­zäh­lun­gen, die für ver­bind­lich erklärt wer­den, haben kön­nen. Und viel­leicht sind die isla­mi­ti­schen Erzäh­lun­gen der Gegen­wart die (hof­fent­lich) vor­läu­fig letz­ten sol­cher mör­de­ri­schen Erzäh­lun­gen. Star­ke Erzäh­lun­gen sind nicht unbe­dingt Schwa­chen vor­zu­zie­hen. Die Tra­gö­die, die von der Gegen­wart zu erzäh­len wäre, wäre aber, das auch schwa­che Erzäh­lun­gen oder eine Viel­zahl von sich wider­spre­chen­den Erzäh­lun­gen, dass auch der Wider­streit also nach dem Ende der Gro­ßen Erzäh­lun­gen, nicht zu grö­ße­rer Fried­fer­tig­keit füh­ren. Weder die neo­kon­ser­va­ti­ven Groß­erzäh­lun­gen der Regie­rung Geor­ge W. Bushs oder die reli­giö­sen Groß­erzäh­lun­gen wel­cher Glau­bens­ge­mein­schaft auch immer, noch die Klei­ner­zäh­lun­gen Barack Oba­mas tra­gen zu höhe­rer Fried­fer­tig­keit bei.

Dass die Kri­se der „erzäh­len­den“ Mas­sen­me­di­en, ihre Hin­wen­dung zu sin­gu­la­ri­täts­ver­wand­ten Mel­dun­gen anstel­le von reflek­tier­ten Bei­trä­gen und Repor­ta­gen, in die­ser Situa­ti­on eben­so wenig unbe­dingt för­der­lich sind wie die poli­ti­sche Gleich­schal­tung von Mas­sen­me­di­en in Dik­ta­tu­ren (bei der der Dik­ta­tor zugleich zum ein­zi­gen Erzäh­ler wird – was die obi­ge For­de­rung Schirr­ma­chers, Poli­ti­ker mögen zu Autoren wer­den, mehr als zwie­späl­tig macht), ist ein Gesichts­punkt, der in dem kur­zen Arti­kel von Mee­dia deut­lich wird. Die sich immer stär­ker als kri­sen­haft zei­gen­de Welt­la­ge ist viel­leicht nicht nur, aber auch eine Kri­se der Erzählungen.

To be con­tin­ued. Maybe.

 

 

 

 

 

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