Theater als Sesshaftmachung des rasenden Publikums — Paul Virilio und Loriot

Juni 15th, 2011 Kommentare deaktiviert für Theater als Sesshaftmachung des rasenden Publikums — Paul Virilio und Loriot

Schö­ner Gedan­ke, den ich über die Lek­tü­re von Vis­manns Medi­en der Recht­spre­chung bei Paul Viri­lio (Rasen­der Still­tand, 150) fand:

In der Stadt ent­stan­den und folg­lich bedingt durch das Phä­no­men der Sess­haft­ma­chung, hat­te die Thea­ter­auf­füh­rung immer zum obers­ten Ziel, den Zuschau­er an der Bewe­gung zu hin­dern. Die Pracht der anti­ken Zir­kus­se und Thea­ter läßt letzt­lich die Erfin­dung eines aller­ers­ten sta­ti­schen Vehi­kels erken­nen, das patho­lo­gi­sche Sess­haft­ma­chen eines auf­merk­sa­men Zuschau­ers, der die Auf­füh­rung des opti­schen Lei­bes des sich bewe­gen­den Schau­spie­lers verfolgt.

Nun — es ist die deut­sche Über­set­zung eines fran­zö­si­schen Tex­tes. Trotz­dem dürf­te sich die Dop­pel­deu­tig­keit von “bewe­gend” auch dort fin­den (ich habe es nicht über­prüft). Der still­ge­setz­te Zuschau­er schaut den Bewe­gun­gen des Akteurs zu, der sich bewe­gen darf, um sich dadurch selbst bewe­gen zu las­sen und zwar, indem er unbe­wegt bleibt. Las­sen wir die Fra­ge außen vor, der sich die Schau­spiel­theo­rie seit dem 18. Jahr­hun­dert wid­me­te, näm­lich die­je­ni­ge, ob ein selbst “inner­lich” beweg­ter Schau­spie­ler bewe­gen­der sei als ein unbe­weg­ter Bewe­ger, ein pro­ton kino­un aki­ne­ton um es mit Aris­to­te­les zu sagen. So fin­det sich den­noch eine durch­aus inter­es­san­te Bewe­gung von Still­stel­lung und Bewe­gung, die sich gegen­sei­tig durch­drin­gen. Der beweg­te Mensch wird sess­haft gemacht, fest­ge­setzt, still­ge­stellt und still gestellt (nun­ja — im anti­ken Thea­ter dürf­te nicht viel Stil­le geherrscht haben, ver­mut­lich eher ver­gleich­bar einer heu­ti­gen Kas­per­thea­ter­uf­füh­rung vor Kin­der­gar­ten­kin­dern oder einem Zweit­li­ga Fuß­ball­spiel…), um ihn bewe­gen zu können.

“Patho­lo­gisch” nennt Viri­lio das. Pathos und logos - das sind die Bewe­ger. Der Logos, der ein Pathos aus­lö­sen soll, der die ins schei­ba­re Pas­si­vum gedräng­ten Zuschau­er mit Empa­thie, Anti­pa­thie, Sym­pa­thie viel­leicht auch Neu­ro­pa­thie ver­se­hen soll (nach Aris­to­te­les dient das ja der pathe­ti­schen Kathar­sis). Und es sind zu einem gro­ßen Teil die logoi, die für die­se pathe­ma­ta sor­gen. Patho­lo­gie ist des­we­gen eine sehr pas­sen­de Bezeich­nung für die thea­tra­le Ver­an­stal­tung. Das Thea­ter als patho­lo­gi­sches Insti­tut. Das aber die Zuschau­er des­we­gen nicht zum bl0ßen Pas­si­vum macht, weil sie aktiv dort­hin gegan­gen sind, mit der Ent­schei­dung, sich patho­lo­gi­sie­ren zu las­sen, das Thea­ter betra­ten. Sie lau­fen nicht davon, gehen nicht weg, las­sen sich nicht nur still­stel­len als wäre sie poli­zei­lich fest genom­men und im Thea­ter fixiert worden.

Die schein­ba­re Pas­si­vi­tät der Still­sit­zen­den ent­puppt sich als die Akti­vi­tät, die im bewußt gewoll­ten Sit­zen statt­fin­det. Inso­fern ist Adams Ant­wort auf die Fra­ge Got­tes: “Was machst du da?” kon­se­quent “Ich mache Nichts.” Und die wei­te­re Nach­fra­ge kann nichts ande­res zuta­ge för­dern als “Ich sit­ze hier” und wei­ter “Ich möch­te hier sit­zen … Ich woll­te immer nur hier sit­zen”. Gott kann nicht anders als rasend wer­den ob sei­ner Ent­schei­dung, sit­zen zu wol­len. Zwar heißt Adam hier Herr­mann und Gott ist in der Küche. Aber noch am Ende zeigt Adam-Herr­mann die schein­ba­re Para­doxa­li­tät des pas­siv Akti­ven wenn er laut­hals schreit: “Ich schreie dich nicht an.”

Im Nichts­tun unbe­wegt aus­har­rend lässt sich Her­mann patho­lo­gi­sie­ren von der ver­bor­ge­nen Akteu­rin in der Küche — bis hin zum Aus­bruch sei­ner Bewegt­heit, bis also zur E‑Motion, die er den­noch unbe­wegt im Ses­sel sit­zend voll­zieht. Es ent­puppt sich die Pas­si­vi­tät als iner­te Akti­vi­tät. Lori­ots genia­ler Sketch führt das “patho­lo­gi­sche Sess­haft­ma­chen eines auf­merk­sa­men Zuschau­ers, der die Auf­füh­rung des opti­schen Lei­bes des sich bewe­gen­den Schau­spie­lers ver­folgt” in nuce vor. Und es zeigt sich, dass es alles ist — nur nicht pas­siv. Pas­sio­niert — ja. Lei­dend — ja. Nicht aber pas­siv, da es der Akti­on des Sit­zens, die als sol­che mit Motiv gewählt wur­de, folgt. Die Fra­ge “Was machst du” mit “sit­zen” zu beant­wor­ten, als han­de­le es sich um ein ganz nor­ma­les Ver­bum wie häm­mern, kochen, kämp­fen, bau­en usw., zeigt die Akti­vi­tät. Her­mann wird nicht geses­sen. Er sitzt. Aktiv. Dabei aber wird er be-han­delt von der Gat­tin. Oder von den Akteu­ren auf der Büh­ne. In der Akti­on des Sit­zens ist er inso­fern nicht an der Bewe­gung gehin­dert — son­dern er ent­schei­det sich zur Akti­vi­tät des Sit­zens, in der er sich patho­lo­gi­sie­ren und bewe­gen lässt. Akti­ves Sit­zen um sich pas­siv be-han­deln und bewe­gen zu las­sen von einem sich aktiv bewe­gen­den Schau­spie­ler, der gleich­zei­tig pas­siv beob­ach­tet wird — wobei er sich wie­der­um der Beob­ach­tung aktiv aus­stellt durch Betre­ten der Bühne.

Am Ende sind es also zwei Akti­va (der Schau­spie­ler und der Sit­zen­de), die zugleich zwei Pas­si­va sind (der Beob­ach­te­te und der Bewegt-Wer­den­de), indem sie zugleich wie­der­um aktiv sind (der Spie­len­de und der Beob­ach­ten­de). Auf den Letz­te­ren weist Lori­ots Abhand­lung hin. Denn Her­mann tut: Nichts. Er sieht Nichts. Liest Nichts. Geht Nicht. Er hat sich für die Akti­vi­tät des Sit­zens ent­schie­den und wird dabei — wie­der­wil­lig — von der halb­ver­bor­ge­nen Akteu­rin in der Küche bewegt. Bis hin zum e‑motionalen Erupt. Denn sie emp­fiehlt ihm etwas Akti­ves zu tun (was er ja bereits tut, indem er sitzt). Er hin­ge­gen lehnt ab, etwas zu tun, bzw. Ande­res zu tun als: Nichts. Nichts tun ist also nicht etwa Nichts­tun. In der Akti­vi­tät des Sit­zens wird das Nichts tun selbst zur Akti­vi­tät, das die Gat­tin rasend macht. Her­mann und Gat­tin tun : Sie etwas, er nichts. Trotz­dem tun beide.Und wäh­rend sie sich immer rasen­der in der Küche bewegt (“Ich ren­ne den gan­zen Tag hin und her” — wie zu sehen ist), ver­sucht sie, ihn zum Lesen, Spa­zie­ren­ge­hen, sonst­was zu bewe­gen. Und schafft es am Ende in immer rasen­de­rer Bewe­gung, ihn zum Aus­bruch zu bewegen.

“An der Bewe­gung” zu hin­dern, wie Viri­lio schreibt, ist also ein sehr ambi­ges Unter­fan­gen des thea­tra­len Dis­po­si­tifs, das den Unbe­weg­ten bewegt, denn die Sess­haft­ma­chung ist und bleibt patho-logisch und setzt den in Bewe­gung, der sich aus der Bewe­gung hin­ge­setzt hat, um sich sit­zend bewe­gen, viel­leicht sogar zum Aus­bruch oder Aus­gang bewe­gen zu las­sen. Rasen­der Still­stand in der Küche/Bühne (tat­säch­lich geht hier offen­bar nichts vor­an), sta­ti­sches Vehi­kel im Wohnzimmer/Zuschauerraum.

Man stel­le sich die­se Sze­ne als Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Büh­ne und Zuschau­er­raum vor.

 

P.S. Zum nach­le­sen gibts den Sketch hier.

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