Theatrale Werktreue und der Glaube an Objektivität

Juni 21st, 2010 Kommentare deaktiviert für Theatrale Werktreue und der Glaube an Objektivität

Bei der ver­brei­te­ten For­de­rung nach thea­tra­ler “Werk­treue” haben wir es nicht mit einer ästhe­ti­schen, son­dern einerm nahe­zu reli­giö­sen Impe­ra­tiv zu tun. Werk­treue ver­stan­den hier als die For­de­rung, eine Thea­ter­auf­füh­rung möge das, was sich der Autor gedacht oder vor­ge­stellt habe unge­bro­chen und “unver­fälscht” wie­der­ge­ben. Hin­ter die­ser For­de­rung steht der Glau­be an das Vor­lie­gen einer objek­ti­ven Welt oder einer Welt der Objek­ti­vi­tät, die durch objek­ti­ve Reprä­sen­ta­ti­on zu jeder Zeit und an jedem Ort objek­tiv wie­der­ge­ge­ben wer­den könn­te. Das Grund­dog­ma der Medi­en als “Medi­en”. Wenn Luh­mann lako­nisch for­mu­liert, was wir über die Welt wüss­ten, wüss­ten wir aus den Medi­en — schließt er Werk­treue­pre­di­ger an: aber es muss unbe­dingt die unver­stellt wie­der­ge­ge­be­ne Welt sein (hier hören wir Luh­mann lachen).

Die Nach­richt­en­gläu­big­keit setzt vor­aus, dass Medi­en dem Dar­ge­stell­ten durch die Dar­stel­lung nichts hin­zu­fü­gen oder weg­las­sen. Zum Bei­spiel kei­ne indi­vi­du­el­le Inter­pre­ta­ti­on oder Dar­stel­lungs­wei­se. Schon gar kei­ne künst­le­ri­sche. Nicht aus­zu­den­ken, wenn ein Kame­ra­mann oder Foto­graf es span­nen­der fän­de, Mer­kels Bei­ne zu zei­gen statt ihres Gesich­tes. Wenn sie also plötz­lich einen “künst­le­ri­schen” Spiel­raum bekä­men. Wobei aller­dings die Ent­schei­dung, Mer­kels Gesicht zu fil­men oder zu foto­gra­fie­ren eben­so Ent­schei­dung ist, wie der Legshot. Objek­tiv wären bei­de. Aber der Headshot ist nicht bemer­kens­wert, eli­diert die Wahr­neh­mung sei­ner Her­ge­stellt­heit, da er erwart­bar und vom Dis­po­si­tiv akzep­tiert ist.

Aller­dings wäh­len natür­lich unter­schied­li­che Kame­ra­leu­te und Foto­gra­fen ver­schie­de­ne Blick­win­kel — es muss ja bes­se­re und schlech­te­re geben. Und sie wäh­len unter­schied­li­che Zeit­punk­te — immer­hin muss eine Aus­wahl not­ge­dun­gen statt­fin­den. Haupt­sa­che sie bleibt objek­tiv. Wor­an aber bemisst sich die Objek­ti­vi­tät des Headshots? Mer­kel gähnt und lächelt kurz dar­auf. Wel­ches ist das objek­ti­ve Foto? Am Ende ent­schei­det dar­über der Regis­seur — Redak­teur, was hier der objek­ti­ve Bei­trag zu sei­ner objek­ti­ven Sto­ry ist. Heißt: nicht der Foto­graf der Objek­te ent­schei­det mit sei­nem Objek­tiv, was objek­tiv ist, son­dern der Redak­teur ent­schei­det anhand sei­ner Story/Geschichte.

Ich erspa­re mir die wei­te­re Fort­set­zung, weil der Redak­ti­ons­re­gis­seur natür­lich in die­sel­be Bre­douil­le gerät wie der Kame­ra­mann. Aus­wahl, Blick­win­kel, Ein­stel­lung, Zeit, Umfeld. Und am Ende wird dem Zuschau­er, der nicht dabei war, über­las­sen blei­ben zu ent­schei­den, was objek­tiv ist: FR, FAZ, BILD, WELT, ARD, ZDF, taz, RTLII. Wer bringt die objek­ti­ve Wahr­heit? Was objek­tiv ist, schreibt der Zuschau­er dem gese­he­nen zu. Was werk­treu ist, ent­schei­det der Zuschauer.

Dabei stürzt das gesam­te Glau­bens­sys­tem der Nach­rich­ten­welt wie ein vir­tu­el­les Kar­ten­haus in sich zusam­men, wo die schein­ba­re Objek­ti­vi­täts­sta­fet­te durch die Mög­lich­keit eines künst­le­ri­schen Ein­grif­fes (und sei es nur einen inter­pre­ta­to­ri­schen) bedroht wird. Wenn Regie-Team etwa nicht an Werk­treue und Welt­treue glau­ben, son­dern zei­gen, dass schon hier ein sti­lis­ti­sches Dis­po­si­tiv am Wer­ke ist, das beharr­lich durch bestimm­te Effek­te den Ein­druck erzeu­gen soll, Werk- und Welt­treue sei mög­lich und genau in die­sem vor­lie­gen­den Arte­fakt am Werk. Jeg­li­che Devi­anz ist ent­we­der aus Inkom­pe­tenz oder Kor­rup­ti­on abzu­lei­ten. In der Objek­ti­vi­täts­sta­fet­te gibt es kei­nen Platz für Sub­jek­te (der Spie­gel hat ja gar bis vor eini­gen Jah­ren die Autoren­an­ga­be in sei­nen Bei­trä­gen unter­las­sen). In dem Augen­blick, wo der Gedan­ke sich aus­brei­tet, es sei­en hier wäh­len­de und kon­stru­ie­ren­de Kräf­te am Werk, wird ein Glau­ben bedroht. Daher die Uner­bitt­lich­keit des schein­bar nur ästhe­ti­schen Werk­treue-Impe­ra­tivs. Und sei­ne Absur­di­tät. Cre­do quia absurdum.

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