Überwachung, Beobachtung, Wahrgenommensein in Digitalien

August 30th, 2010 § 3 comments

Inder phi­lo­so­phi­schen Tra­di­ti­on ist der Zusam­men­hang zwi­schen Sein und Wahrnehmung/Beobachtung alles ande­re als ein­fach oder harm­los. Solch ein Rück­blick in die Tra­di­ti­on kann viel­leicht den Beob­ach­tungs­phä­no­me­nen im Zeit­al­ter des Inter­net eine inter­es­san­te Dimen­si­on ver­schaf­fen — einer­seits zwi­schen der Seins­kon­sti­tu­ti­on, die durch Wahr­neh­mung ent­steht, ande­rer­seits die Bedro­hung durch den Betrachter.

Der ersehn­te Blick

Über­sprin­gen wir mal Par­men­i­des und ande­re Onto­lo­gen und kom­men direkt zu Geor­ge Ber­ke­leys “Esse est per­ci­pi” — “Sein heißt wahr­ge­nom­men wer­den”. Und erlau­ben wir uns, ohne jeden inter­pre­ta­to­ri­schen und dis­kur­si­ven Bal­last eine Über­tra­gung ins Netz — so wird unmit­tel­bar augen­fäl­lig, dass für alles, was im Netz statt­fin­det, ein Ande­rer von­nö­ten ist. Sei es ein Mail-Emp­fän­ger, ein Chat­part­ner, ein Web­sei­ten­be­su­cher, ein Blog-Leser, ein Blog­kom­men­ta­tor, ein Video­b­e­trach­ter usw. Und die Seins­di­men­si­on des ein­zel­nen Sei­en­den ist quan­ti­fi­zier­bar. Ein mil­lio­nen­fach ange­se­he­nes You­Tube-Video “ist” (genau wie sein Macher) mehr als ein nur weni­ge Male geschau­tes. Ein Blog mit vie­len Besu­chern und Kom­men­ta­ren “ist” mehr als ein wenig gele­se­nes und unkom­men­tier­tes. Das “Sein” ist dabei nicht nur im Gegen­satz zum Nicht­sein — son­dern eine kan­tisch gespro­chen “inten­si­ve Grö­ße”, die er das Rea­le der Wahr­neh­mung zu sein urteil­te. Der Rea­li­täts­grad eines Dings ist quan­ti­ta­tiv different:

Also hat jede Rea­li­tät in der Erschei­nung inten­si­ve Grö­ße, d.i. einen Grad. Wenn man die­se Rea­li­tät als Ursa­che (es sei der Emp­fin­dung oder ande­rer Rea­li­tät in der Erschei­nung, z.B. einer Ver­än­de­rung) betrach­tet: so nennt man den Grad der Rea­li­tät, als Ursa­che, ein Moment, z.B. das Moment der Schwe­re, und zwar dar­um, weil der Grad nur die Grö­ße bezeich­net, deren Appre­hen­si­on nicht suk­zes­siv, son­dern augen­blick­lich ist. (KrV 209; hier)

Eine Web­sei­te, ein Chat­part­ner, ein Mail­part­ner, ein Blog, der mehr Wahr­neh­mung hat bekommt mehr Rea­li­tät und damit wie­der­um mehr “Wir­kung”. Das hat Kant so nicht gemeint — ver­steht sich. Kant sprach von phy­si­schen Objek­ten, nicht von Kom­mu­ni­ka­ti­ons­grö­ßen. Den­noch lässt sich das Prin­zip “rau­ben”. Ein Web­in­halt, der nicht wahr­ge­nom­men wird, “ist” nicht. Ein Web­in­halt der oft wahr­ge­nom­men wird, “ist” mehr. Die­ses Phä­no­men kennt jeder, der ein Blog betreibt und auf die Stats schielt, jeder Wer­be­trei­ben­de, der Visits misst, jeder Video-Uploa­der, Musik-Uploa­der, Bild-Uploa­der. Und es kennt auch der Beob­ach­ter, der sich an der inten­si­ven Rea­li­tät der Wahr­neh­mun­gen (etwa durch den Goog­le-Such­al­go­ryth­mus oder die Sor­tier­funk­ti­on “beliebteste/meistgesehene/meistkommentierte”) die Such­ergeb­nis­se auf­be­rei­ten lässt. Der Pro­du­zent setzt sich dabei der Unge­wiss­heit des Nicht-Wahr­ge­nom­men­wer­dens aus. Mit Chlod­wig Poth: “Ver­mut­lich guckt wie­der kein Schwein.”

Der bedroh­li­che Blick

Der all­wis­sen­de und ins­be­son­de­re alles sehen­de Gott, der sich im sym­bo­li­schen Auge der Barock­kunst beson­ders ein­drück­lich ver­an­schau­lich­te, eröff­net die ande­re Dimen­si­on des Beob­ach­ters und des Bli­cken­den. Der “Big Brot­her” oder der Foucault’sche Über­wa­cher. Zunächst scheint dies ein Jemand zu sein, der beob­ach­tet, urteilt und straft. Wäre es so sim­pel, könn­te man hof­fen, nicht gese­hen wor­den zu sein (dem Dieb in der Nacht gleich). Tat­säch­lich aber ist die Über­wa­chung so ein­fach nicht zu fas­sen — ist doch die Über­wa­chung selbst gar nicht nötig. In den Beob­ach­te­ten das Wis­sen um sei­ne Beob­ach­tet­heit zu pflan­zen, ist das eigent­li­che Ziel die­ser Über­wa­chun­gen. Der Auf­ruf des Gläu­bi­gen, jeder­zeit so zu han­deln, als wür­de ein Gott ihn betrach­ten und für alles was er tut (und gar denkt) zur Ver­ant­wor­tung ziehen.

Fou­cault zeigt die­sen Mecha­nis­mus in “Über­wa­chen und Stra­fen” sehr ein­drucks­voll an den nach Bent­hams Plan gebau­ten “pan­op­ti­schen” Gefäng­nis­sen. Es kommt gar nicht dar­auf an, dass der Zel­len­in­sas­se sieht, dass er beob­ach­tet wird. Viel­mehr ist es in Haft­an­stal­ten erheb­lich wir­kungs­vol­ler, die Schei­ben des Wach­turms so zu ver­spie­geln, dass der Gefan­ge­ne nicht weiß, wann ein Blick ihn tref­fen könn­te und wann nicht. Denn dann wird ihn der inter­na­li­sier­te Blick jeder­zeit tref­fen. Hun­der­te Gefan­ge­ne kön­nen gleich­zei­tig in der Illu­si­on gehal­ten wer­den, der Blick des Auf-Sehers gäl­te in die­sem einen Moment aus­schließ­lich ihm selbst. Und sie wer­den die Fra­ge nach dem Blick ins­be­son­de­re dann stel­len, wenn sie im Begriff ste­hen, etwas zu tun, was mut­maß­lich dem Auf­se­her nicht gefal­len könnte.

Im Gegen­satz zu dem ers­ten, das Sein inten­si­vie­ren­den Blick, ist die­ser Blick der Dis­zi­pli­nie­ren­de (Fou­cault). Und im Netz erhält die­ser dis­zi­pli­nie­ren­de Blick wie­der­um eine ande­re Dimen­si­on, die der lei­di­gen Street­View Debat­te ent­nom­men wer­den kann. Es ist nicht so sehr der Blick des Zen­sors oder Bestraf­ers. Es ist — als Gegen­stück des gött­li­chen Blicks — ein “dia­bo­li­scher” Blick. Der “Ande­re”, der eben noch als Seins-brin­ger agier­te, indem er mei­ne eigen­mäch­tig ins Netz gestell­ten Inhal­te in der Wei­se rezi­pier­te, wie es mir gefiel, wen­det sich nun in einen unheim­li­chen Voy­eur, der durch sei­ne Fähig­keit der stil­len Beob­ach­tung zu einem “schlech­ten Gewis­sen ohne Inhalt” mutiert. Es ist ein Beob­ach­ter, der den Beob­ach­te­ten ent­mäch­tigt, weil er ein­fach als Beob­ach­ter nicht vor-gese­hen war. Weil er sich erdreis­tet zu schau­en, ohne dazu expli­zit ein­ge­la­den gewe­sen zu sein.

Es han­delt sich ja zumeist gar nicht dar­um, dass tat­säch­lich inkri­mi­nier­ba­re Inhal­te (oder Haus­fas­sa­den) vor­lie­gen. Die­je­ni­gen, die sol­che Inhal­te pro­du­zie­ren wis­sen sehr wohl, wie man sie uner­wünsch­ten Bli­cken und Netz­sper­ren ent­zieht. Es ist ein Gewis­sen, das sich mel­det, ohne dass ein Beob­ach­ter iden­ti­fi­ziert wer­den und auf sei­ne Regeln und Geset­ze befragt wer­den könn­te. Es ist das Gewis­sen selbst, das nur in der Fra­ge besteht: “Was könn­te irgend­je­mand mit die­sen Inhal­ten anstel­len, die ich ins Netz gestellt habe?” Und die jewei­li­ge  Beset­zung des Diabo­lus erzählt sehr viel über den (ver­meint­lich) Beob­ach­te­ten. Es kann “der Staat” sein, ein “Ein­bre­cher”, ein “kapi­ta­lis­ti­sches Unter­neh­men”, ein “Arbeit­ge­ber — der Mög­lich­kei­ten sind unbe­grenzt vie­le. Und sie fin­den vor allem in einem para­no­iden oder par-ästhe­ti­schen Bereich statt.

Nicht wer mit wel­cher Per­spek­ti­ve schaut und das Rea­le stei­gert — son­dern dass nicht klar ist, wer wann mit wel­chen Regeln schaut (und ob über­haupt jemand schaut) ist der dis­zi­pli­nie­ren­de Blick. Wer sich auf die Sin­ge­bör­se stellt, möch­te von mög­lichst vie­len ande­ren infra­ge kom­men­den Sin­gles betrach­tet wer­den — aber zugleich nicht von Freun­den, Eltern, Kol­le­gen oder Ehe­part­nern dabei “erwischt” werden.

Der dop­pel­te Blick des Anderen

Zugleich ersehn­ter Rea­li­täts­stei­ge­rer eines Netz­in­hal­tes — ist jeder Netz­in­halt auch den Bli­cken des poten­zi­el­len Diabo­lus aus­ge­lie­fert. Die Unsi­cher­heit, ob die Erwünsch­ten kom­men wer­den, wird mit der Angst ver­wo­ben, dass der Fal­sche kom­men könn­te. Einen per­sön­li­chen Inhalt in den kom­mu­ni­ka­ti­ven Kon­tin­genz­raum, der das Web ist, hin­aus zu stel­len, heißt, sich der Unsi­cher­heit und Sor­ge aus­zu­set­zen. Die­ser Unsi­cher­heit und Sor­ge kann nicht aus­ge­wi­chen wer­den. Es sei denn, man stel­le ein Ange­bot nur für sich ein (aber wozu dann das Web)? Oder man schaff­te eine Garan­tie­in­sti­tu­ti­on, die vor “dem Ande­ren” schützt. Aber auch die­se Insti­tu­ti­on wäre selbst ein “Ande­rer”, der mit sei­nen dann expli­zi­ten Regeln das Foucault’sche Pan­op­ti­kon wie­der errich­ten wür­de. Und das wäre für das Web grau­en­vol­ler als jede Kontingenzangst.

Nach­ge­tra­ge­nes Post­scrip­tum: Ist viel­leicht der ersehn­te Ande­re der­sel­be wie der dia­bo­li­sche Ande­re — der nur des­we­gen beängs­ti­gend ist, weil er beim Beob­ahc­ten nicht beob­ahc­tet wer­den kann? Weil also das gan­ze Netz per­ma­nent eine ver­spie­gel­te Schei­be ist, in der sich erst zeigt, wer zu sehen gibt? Wes­we­gen alle, die zu sehen sind, for­dern, dass auch alle andern sicht­bar sein mögen? Das wür­de die Vehemnz der Kri­tik derer, die Street­View bejah­ren an jenen, die glau­ben, sehen zu dür­fen und sich dabei selbst nicht sehen las­sen wol­len (und seis nur die Fas­sa­de)? Viel­leicht müss­te man Levi­n­as her­an­zie­hen? Damit wären wir dann zuletzt in der phi­lo­so­phi­schen Ethik (des Net­zes?) gelandet.

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