Von der Internation zur Netion: Überlegungen zum Raum des Politischen und zur postdramatischen Opensourcokratie

August 18th, 2011 § 4 comments

In der neu­es­ten ARD/ZDF-Online­stu­die bin ich über einen Ver­tip­per gestol­pert, der mir sehr gefiel:

Nicht nur die gele­gent­li­che zeit­ver­setz­te Nut­zung von Fern­seh­sen­dun­gen oder Aus­schnit­ten dar­aus via Inter­nat hat sich seit 2008 von 14 Pro­zent auf 29 Pro­zent ver­zwei­facht, … (hier Sei­te 4f.)

Das „Inter­nat“ ist ein wun­der­ba­res Bild für die tra­di­tio­nel­le, doku­ment­ba­sier­te Nati­on: Räum­li­ches Zusam­men­woh­nen unter Auf­sicht von Auto­ri­tä­ten, Zugangs- und Aus­gangs­be­schrän­kun­gen und auto­ri­tä­re Fest­le­gun­gen sowohl der For­men und Regeln sowohl des Zusam­men­le­bens als auch des­sen, was zu leh­ren und zu ler­nen, zu wis­sen und zu kön­nen ist. Die Nati­on war (und ist noch) ein Inter­nat, Inter­na­tio­na­li­tät die Zusam­men­ar­beit von Inter­na­ten. (N.B.: Viel­leicht ist es gar kein Zufall, dass die erfolg­reichs­te Roman­se­rie der letz­ten Jah­re gera­de in einem Inter­nat spielt, einem letz­ten zau­ber­haf­ten Traum die­ser nur noch als his­to­ri­sche Wohl­fühl­re­mi­nis­zenz tau­gen­den Lebens­form). Die Leit­dif­fe­ren­zen, die die­ses Inter­nat aus­mach­ten, wer­den nun von der Inter­ne­tio­na­li­tät kas­siert: Raum­gren­zen, Auto­ri­täts­po­si­tio­nen, ver­bind­li­che Regeln und Wahr­hei­ten fin­den sich nicht vor-geschrie­ben in der Neti­on. Weni­ger Orga­ni­sa­ti­on, ist sie eher Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on oder Auto­poie­sis. Die herr­schen­de Lehr­mei­nung wird zur geteil­ten Mei­nung, die ver­bind­li­che Erzäh­lung wird, wie letz­tens geschrie­ben, in einem Geflecht von Erzäh­lun­gen auf­ge­löst, die zwar noch erzählt wer­den, für die es aber immer schwie­ri­ger wird, sich durch­zu­set­zen. Noch mag zeit­ver­setz­tes Anse­hen der Mas­sen­me­di­en einen Rest sol­cher Erzähl­macht im Inter­nat zei­gen. Aber – aller litan­ei­haft wie­der­hol­ten Beteue­run­gen in der ARD/ZDF-Stu­die zum Trotz – es wird mehr und meh­re eine Erzäh­lung unter vie­len ande­ren. In der Stu­die heisst es auch (hier auf Sei­te 15):

Wenn es dar­um geht, ein Mas­sen­pu­bli­kum zu mobi­li­sie­ren, reicht kein Medi­um an das Fern­se­hen heran.

Das ist natür­lich eine wun­der­ba­re Ver­dre­hung der Tat­sa­chen – denn Mas­sen­me­di­en mobi­li­sie­ren natür­lich nicht wirk­lich. Es reicht viel­mehr kein ande­res Medi­um an die Fähig­keit der Mas­sen­me­di­en her­an, die Mas­sen zu immo­bi­li­sie­ren. Man sitzt still im Inter­nat ein­ge­sperrt und glotzt fern.

End­li­che und unend­li­che Diskussion

Zu den Kern­fä­hig­kei­ten der immo­bi­li­sie­ren­den Inter­na­ti­on gehör­te es, Dis­kus­sio­nen dra­ma­tisch auf­zu­be­rei­ten, auf den binä­ren Ent­schei­dungs­punkt zuzu­spit­zen und dann durch Ent­schei­dung zu been­den. Die Viel­falt des Stim­men- und Erzäh­lungs­ge­wirrs ist nichts Neu­es. Die Inter­na­ti­on führ­te nur einen Pro­zess ein, der eben die Grau­tö­ne in Schwarz/Weiß über­führ­te und dann Schwarz oder Weiß, Schwarz oder Rot als Kern­al­ter­na­ti­ven her­aus­stell­te. Die­se Reduk­ti­on fand ins­be­son­de­re über die mög­lichst öffent­li­che Debat­te (in Par­la­men­ten oder Mas­sen­me­di­en) statt. Erst wird debat­tiert, dann kann abge­stimmt wer­den. Und damit ist fest-gesetzt was Gesetz wird. Die­se Fähig­keit eig­net der Neti­on nicht, in der die Debat­ten aus­ufern durch ten­den­zi­ell unend­li­che Ver­meh­rung der Debat­ten­teil­neh­mer, Debat­ten­platt­for­men und Debat­ten­bei­trä­ge. Das ist das Pro­blem, das sich mit der ent­ste­hen­den Neti­on auf­tut und das nicht ein­fach weg­ge­wischt wer­den kann. S21 weist dar­auf hin. Wo die Dis­kurs­macht nicht die Mög­lich­keit hat, eine Zäsur ein­zu­füh­ren und nicht set­zen kann, was Gesetz sein soll, tre­ten immer neue Argu­men­te, Mit­red­ner auf, die die Debat­te in Ewig­keit füh­ren kön­nen. Wie schwan­kend zudem die Mehr­hei­ten in sol­chen Debat­ten sein kön­nen, zeigt der gera­de voll­zo­ge­ne Atom­aus­stieg. Volks­ent­schei­de kön­nen sol­che Pro­ble­me nur ober­fläch­lich lösen oder kaschie­ren, wäre doch nach dem Volks­ent­scheid immer auch vor dem Volks­ent­scheid, könn­te einer den ande­ren ablö­sen. Vor allem könn­ten orga­ni­sier­te Akti­vis­ten und Lob­by­ver­bän­de, schlag­kräf­tig orga­ni­sier­te Trup­pen, bes­ser in der Lage sein, Ein­fluss zu mobi­li­sie­ren, die erst im Nach­hin­ein wie­der­um zu mas­si­ver Gegen­wehr bei der unter­le­ge­nen „Min­der­heit“ füh­ren wird, die gar nicht Min­der­heit son­dern schwei­gen­de Mehr­heit gewe­sen sein könn­te. Die Behaup­tung „Ihr habts doch so gewollt“ ruft auto­ma­tisch das „Ich doch nicht“ der Unter­le­ge­nen auf den Plan und erzeugt Gegen­be­we­gung. Die tra­di­tio­nel­le Demo­kra­tie­form lös­te vor allem das Pro­blem, unter­lie­gen­de Min­der­hei­ten ruhig zu stel­len, ihnen den Ein­druck zu geben, in einem fai­ren Wett­streit unter­le­gen zu sein und des­we­gen die Nie­der­la­ge akzep­tie­ren zu müs­sen. Des­we­gen gehört – neben den letz­tens ange­führ­ten Wet­ter­pro­phe­ti­en, die Über­tra­gung von Sport­wett­be­wer­ben als qua­si poli­tisch dekon­tex­tua­li­sier­te Ein­übung des Akzep­tie­rens von Nie­der­la­gen zum inners­ten Wesen der Live-Mas­sen­me­di­en: Ver­lie­ren üben im spie­le­ri­schen Umfeld berei­tet auf das Akzep­tie­ren poli­ti­scher Nie­der­la­gen vor und ver­spricht, dass es immer ein nächs­tes Spiel geben wird, bei dem die Chan­ce auf Sieg besteht. Wo Dik­ta­tu­ren mas­si­ve Pro­ble­me haben, Sport­ver­an­stal­tun­gen in ihren Fern­seh­pro­gram­men zu akzep­tie­ren, in denen die Nie­der­la­ge mög­lich ist, nut­zen tra­di­tio­nel­le Inter­nat-Demo­kra­tien gera­de die Über­tra­gung der kol­lek­ti­ven Nie­der­la­ge als poli­ti­sche Sandkastenübung.

Das Pro­blem des Betroffenheitsaktivismus

Die vor­han­de­ne Demo­kra­tie­form orga­ni­sier­te zudem bewusst die Unter­schei­dung zwi­schen Ent­schei­dern und Betrof­fe­nen ver­gleich­bar der Form, die aus der Recht­spre­chung bekannt ist. Per­sön­li­che Inter­es­se­lo­sig­keit soll durch die­se Orga­ni­sa­ti­on pro­du­ziert und vor­aus­setz­bar wer­den, wenn Ent­schei­dun­gen anste­hen. So wenig ein Opfer über Täter zu Gericht sit­zen darf, so wenig darf der poli­ti­sche Ent­schei­der Pri­vat­in­ter­es­sen ver­fol­gen. Es gehört zum schwers­ten Vor­wurf an gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche Ent­schei­der, letzt­lich nur die Eigen­in­ter­es­sen zu bedie­nen – und selbst wenn es sich nur um ein paar Bonus­mei­len oder ver­bil­lig­te Urlau­be han­delt, führt das Auf­de­cken von mög­li­chen ent­schei­dungs­be­ein­flus­sen­den Pri­vat­ver­güns­ti­gun­gen zum sofor­ti­gen Ende einer poli­ti­schen Karriere.

Gleich­zei­tig ist aber das Inter­es­se an einem bestimm­ten Aus­gang von Ent­schei­dun­gen natür­lich bei denen ungleich höher, die selbst betrof­fen sind. Die eige­ne Akti­vi­täts­be­reit­schaft steigt in dem Maße, in dem von einer Ent­schei­dung per­sön­li­che Vor- oder Nach­tei­le abhän­gen. Dar­auf weist etwa der Umfang der Debat­te rund um das The­ma Netz, Netz­kom­mu­ni­ka­ti­on und Netz­po­li­tik bei denen hin, die das Netz für sich als wich­ti­gen Lebens­teil ver­ste­hen – im Ver­gleich zu frie­dens­po­li­ti­schen, umwelt­po­li­ti­schen oder sozi­al­po­li­ti­schen Debat­ten etwa. Wer einen wesent­li­chen Teil des All­tags im Netz ver­bringt, ist geneig­ter, aktiv für bestimm­te netz­be­zo­ge­ne Ent­schei­dun­gen zu wer­ben (auch hier in die­sem Blog gele­gent­lich, jetzt gera­de zum Bei­spiel). Das über­rascht nicht. Es zeigt aber, dass wenn die Tren­nung zwi­schen Ent­schei­dern und selbst­mo­ti­vier­ter Par­ti­zi­pa­ti­on ein­fach kas­siert wird, die Wahr­schein­lich­keit hoch ist, dass radi­ka­le Eigen­in­ter­es­sen ten­den­zi­ell über­mäch­ti­gen Ein­fluss auf Ent­schei­dun­gen haben.

Die Insze­nie­rung des ein­fa­chen Gegensatzes

Zum Wesen der doku­ment­ba­sier­ten Inter­nat-Demo­kra­tie gehör­te die von Mouffe/Laclau geschil­der­te Fähig­keit, die als dia­me­tra­le Pro/Contra Gegen­sät­ze auf­be­rei­te­ten Mei­nungs­ge­flech­te auf der poli­ti­schen Büh­ne durch strei­ten­de Par­tei­en auf­zu­fan­gen und zu kana­li­sie­ren (hier im Blog etwas pole­misch auf­be­reu­tet vor Lek­tü­re des Tex­tes, hier eini­ge wei­te­re Gedan­ken in Aus­ein­an­der­set­zung mit Mau­rice Gau­chet). Der poten­zi­el­le Bür­ger­krieg der unter­schied­li­chen Mei­nun­gen oder die poten­zi­ell unend­li­che Viel­stim­mig­keit der Mei­nun­gen fin­det sich in der Dya­de Regierungspartei/Opposition reprä­sen­tiert, kana­li­siert und pazi­fi­ziert durch die Paro­le: Du magst dei­ne Prä­fe­ren­zen und Wün­sche gegen­wär­tig nicht durch­set­zen, weil sie von der Oppo­si­ti­on ver­tre­ten wer­den – aber bei der nächs­ten Wahl besteht die Chan­ce, dass dei­ne Par­te an die Macht und damit dei­ne Wün­sche zur Rea­li­sie­rung kom­men. Die­ser insti­tu­tio­na­li­sier­te Wunsch-Auf­schub ist ver­bun­den mit der Spe­ku­la­ti­on auf das schlech­te Gedächt­nis der Wäh­ler, die beim tat­säch­li­chen Macht­wech­sel schon ver­ges­sen haben wer­den, was sie eigent­lich woll­ten (oder was in Koali­tio­nen nicht durch­setz­bar ist, aus Ver­trags­bin­dungs­grün­den nicht änder­bar usw.)

Spät­dra­ma­ti­sche Inszenierungsversuche

Gegen­wär­ti­ge Bestre­bun­gen, Bür­ger­fo­ren als eine Art Honey­pot auf­zu­bau­en, in dem sich die Streit­häh­ne dann die Köp­fe ein­re­den kön­nen, wäh­rend neben­an bequem wei­ter­re­giert wird, sind untaug­lich, auf die­se Pro­blem­la­ge zu reagie­re, der die Neti­on sich stel­len muss. In Kon­se­quenz geht es um die Fra­ge der Hand­lungs­fä­hig­keit, die auch die Neti­on braucht, wenn sie nicht nur eine rie­si­ge Schwatz­bu­de sein/werden/bleiben will. Die spät­dra­ma­ti­schen Ver­su­che, die Zahn­pas­te wie­der in die Tube zu drü­cken zeig­ten sich im ver­gan­ge­nen Jahr beson­ders fas­zi­nie­rend rund um S21: Man spiel­te „Das Fern­seh­ge­richt tagt“, stell­te has­tig zwei Par­tei­en zusam­men (wenn auch kei­ne poli­ti­schen Par­tei­en mehr im Grun­de) und ver­such­te durch Schlich­tungs­spruch von Rich­te­rin Bar­ba­ra Geiß­ler dem Dilem­ma zu ent­kom­men – dem die­ser sich aller­dings lis­tig ver­wei­ger­te, indem er mit sei­nem Schlich­tungs­spruch etwas vor­stell­te, was in der zwei­wer­ti­gen Par­tei­en­lo­gik nicht vor­kommt. Eine drit­te Vari­an­te, die damit ers­tens das schö­ne Dra­ma zer­stört (über­ra­schen­de Wen­dun­gen durch bis­her nicht auf­ge­tre­te­ne Par­tei­en sind in der ortho­do­xen Dra­ma­tur­gie nicht vor­ge­se­hen) und aus der Tra­gö­die des unauf­lös­li­chen, unver­söhn­li­chen Kon­flik­tes eine Komö­die oder Kla­mot­te mach­te. Man lese nur in der Wiki­pe­dia-Defi­ni­ti­on des Deus ex Machi­na statt „Gott“ ein­fach „Hei­ner Geiß­ler“, um das Aus­maß der Komik genie­ßen zu können:

In der anti­ken Tra­gö­die gab es tra­gi­sche Kon­flik­te, die sich nicht immer kraft mensch­li­cher Hand­lun­gen ‚lösen‘ lie­ßen. Ihre Behe­bung oder Ent­schei­dung erfolg­te ‚von oben‘ durch das über­ra­schen­de Ein­grei­fen einer Gott­heit, die dem Gesche­hen die Schluss­wen­de gab. Der Deus ex machi­na schweb­te in einer kran­ähn­li­chen Hebe­ma­schi­ne, der soge­nann­ten Thea­ter­ma­schi­ne, über der Büh­ne oder lan­de­te auf dem Dach des Büh­nen­hau­ses. Damit woll­te man die Macht der Göt­ter in der anti­ken Vor­stel­lung dar­stel­len, und in der Tat waren ihre Ein­grif­fe in das Büh­nen­ge­sche­hen oft über­ra­schend. (hier)

Das Pro­blem der weg­fal­len­den Problemlösung

So para­dox es zunächst klingt: Ein groß­teil der auf­zie­hen­den Pro­ble­me der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie rührt daher, dass die­se Orga­ni­sa­ti­ons­form die Lösung für ein Pro­blem dar­stell­te – und dass es nun, da es die­ses Pro­blem nicht mehr gibt, die Lösung zum Pro­blem wird. Das zu lösen­de Pro­blem war: Wie kön­nen in einem Flä­chen­staat, in dem der Sou­ve­rän (also das Volk) nicht mehr regel­mä­ßig an den öffent­li­chen Debat­ten und Ver­samm­lun­gen teil­ha­ben (es sei denn, es wohnt zufäl­li­ger­wei­se in der Haupt­stadt) und was noch wich­ti­ger ist: mit­ent­schei­den kann, poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen mit demo­kra­ti­schem Ant­litz getrof­fen wer­den? Schließ­lich war die Demo­kra­tie eine Erfin­dung von Stadt­staa­ten, die das Zusam­men­woh­nen von Ent­schei­dern und Betrof­fe­nen ein­fach vor­aus­set­zen konn­te – im Flä­chen­staat wird die Ent­fer­nung zum Pro­blem. Die Lösung bestand in der Dele­ga­ti­on: Loka­le Wahl­be­zir­ke wähl­ten ihren Ver­tre­ter und gaben ihm hin­rei­chend Geld, damit er im poli­ti­schen Macht­zen­trum „vor Ort“ regu­lär und kon­stant anwe­send und tätig sein konn­te. Dar­in über­la­gern sich natür­lich loka­le Aus­wahl­kri­te­ri­en mit Inhalt­li­chen – wes­we­gen das deut­sche Wahl­sys­tem die Mischung aus (loka­len) Direkt­man­da­ten und (über­re­gio­na­len) Lis­ten kennt. Der Abge­ord­ne­te mit Direkt­man­dat hat sich in sei­nem Wahl­be­zirk gele­gent­lich sehen und spre­chen zu las­sen, um den Ein­druck zu ver­mit­teln, er ver­tre­te die Regi­on tatsächlich.

Die­ses Abge­ord­ne­ten­sys­tem löst das Pro­blem der räum­li­chen Distan­zen. Das gan­ze Land ist durch Dele­gier­te ver­tre­ten, die wie­der­um idea­li­ter die durch sie Reprä­sen­tier­ten in der Haupt­stadt „ver­tre­ten“. Als Neben­ef­fekt stellt sich die zah­len­mä­ßi­ge Reduk­ti­on der Pro­zess­be­tei­lig­ten ein: da eini­ge zehn- oder hun­dert­tau­send Bür­ger durch nur eine Per­son „ver­tre­ten“ wer­den, wird die Zahl der Betei­lig­ten im poli­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zess über­schau­bar. Die Tat­sa­che der räum­li­chen Distanz, die zunächst das Pro­blem bot, wie die Ent­fern­ten im Ent­schei­dungs­pro­zess ver­tre­ten sind, was dazu führ­te das (Aus-)Erwählte als Dele­gier­te in die Haupt­stadt geschickt wer­den, macht es mög­lich, eine gro­ße Zahl von Men­schen durch eine rela­tiv klei­ne Zahl von Dele­gier­ten ver­tre­ten zu las­sen. Und mit die­ser klei­nen Zahl, deren per­sön­li­che oder indi­vi­du­el­le Prä­fe­ren­zen zudem noch durch den Frak­ti­ons­zwang beschnit­ten wer­den, lässt sich recht gut ein Ent­schei­dungs­pro­zess basteln.

Nun aber fällt das Aus­gangs­pro­blem der räum­li­chen Dif­fe­renz weg: Die Neti­on ist jeder­zeit über­all. Unab­hän­gig von Raum und Uhr­zeit kann jeder im Netz jeder­zeit auf die gesam­te poli­ti­sche Infor­ma­ti­on in Echt­zeit zugrei­fen, sie in Echt­zeit mit ande­ren Betei­lig­ten dis­ku­tie­ren – und sogar abstim­men wäre kein Pro­blem. Anders als in älte­ren Zei­ten, da nur der phy­sisch Anwe­sen­de im Par­la­ment die phy­si­sche Hand heben konn­te, wäre jetzt der vir­tu­el­le Abge­ord­ne­te denk­bar, der sich über Tele­pre­sence-Instal­la­tio­nen in den Ple­nar­saal über­tra­gen bzw. den Saal zu sich über­tra­gen lässt, der sei­ne Rede­bei­trä­ge über die­sen Kanal abgibt, der sei­ne Stim­me über die­sen Kanal abgibt. Und es ist jetzt nur noch schwer­lich ver­mit­tel­bar, war­um das nur ein Dele­gier­ter tun darf – und nicht bei­spiels­wei­se ich. Mit dem Weg­fall der Raum­dif­fe­renz und der dar­aus resul­tie­ren­den Unmög­lich­keit, aus dem ent­fern­tes­ten Win­kel des Lan­des aktiv im Debat­ten- und Ent­schei­dungs­pro­zess ein­ge­bun­den zu sein, fällt auch die Über­zeu­gungs­kraft der Lösung weg. Es ist jetzt mög­lich, auf Hal­lig Hoo­ge, auf der Zug­spit­ze oder auf einem Han­dels­schiff irgend­wo auf den Welt­mee­ren in Echt­zeit zuge­schal­tet zu wer­den. Die Dele­ga­ti­ons­lö­sung stellt sich plötz­lich in neu­em Lich­te dar: Als han­de­le es sich um eine eli­tä­re Misch­po­ke, die sich das Recht der poli­ti­schen Ent­schei­dung in Hin­ter­zim­mer­kun­ge­lei­en gegen­sei­tig zuschiebt und den eige­nen Macht­er­halt sichert – so jeden­falls lesen sich die Dia­gno­sen in Macht­wer­ken über die soge­nann­te Post­de­mo­kra­tie etwa bei Crouch. Kei­ner der Dele­gier­ten muss­te in der Ver­gan­gen­heit Kom­pe­tenz zu beson­de­ren The­men­stel­lun­gen nach­wei­sen. Im Gegen­teil: The­ma­ti­sche Kom­pe­tenz wür­de einen Regio­nal­ver­tre­ter eher ver­däch­tig gemacht haben, eigent­lich eher ein The­ma als die loka­le Wäh­ler­schaft und Land­schaft zu ver­tre­ten. Inhalt­li­che Ahnungs­lo­sig­keit war damit der Preis, der für das Dele­ga­ti­ons­sys­tem gezahlt wur­de – und an das man sich gewöhnt hat.

Wenn nun aber die Legi­ti­ma­ti­on die­ses Ent­schei­dungs­ver­fah­rens ent­fällt, wenn sich räum­li­che Distanz tech­no­lo­gisch über­brü­cken lässt – dann wäre eigent­lich zu for­dern, dass die „Exper­ten“ sich zu den strit­ti­gen The­men aus­tau­schen. Das Stutt­gar­ter Bahn­hofs­thea­ter spiel­te das ja als Kom­pe­tenz­ver­samm­lung vor, ähn­lich ver­su­chen Ethik‑, Enquete- usw. Kom­mis­sio­nen Fach­kom­pe­tenz zu ver­sam­meln, um Dele­gier­te zu bera­ten. Die Fra­ge aber lau­tet: Was legi­ti­miert jetzt noch die Dele­gier­ten?  Ihre Betrach­tung schlägt um, sie erschei­nen als klei­ner Kreis unin­for­mier­ter, eli­tis­ti­scher, ver­ban­del­ter Brem­ser, die zwar zu allen mög­li­chen The­men in den Mas­sen­me­di­en Stel­lung neh­men, bei kei­nem The­ma aber wirk­lich über fun­dier­tes Fach­wis­sen ver­fü­gen. Da die Not­wen­dig­keit ent­fällt, ent­fern­te Bevöl­ke­rungs­grup­pen im Zen­trum zu reprä­sen­tie­ren, ste­hen die Reprä­sen­tan­ten plötz­lich selbst als Pro­blem am Pranger.

Die Inter­ne­ti­on als Open­so­ur­co­kra­tie – statt Mitmachstaat

Nach­dem die alte Inter­nat-Demo­kra­tie also glän­zend das Pro­blem lös­te, eine gro­ße Mas­se sehr ver­streut leben­der Men­schen durch Dele­gier­te sowohl auf eine ent­schei­dungs­fä­hi­ge Klein­grup­pe zu ver­klei­nern, als auch im Macht­zen­trum prä­sent zu hal­ten, stellt sich nun­mehr die Fra­ge: Wie lässt sich die gigan­ti­sche Mas­se an poten­zi­ell an der Betei­li­gung an Ent­schei­dungs­pro­zes­sen Inter­es­sier­ten, wie lässt sich die Mas­se von Enga­gier­ten und Exper­ten in den demo­kra­ti­schen Pro­zess der Neti­on inte­grie­ren? Wie las­sen sich Ent­schei­dungs­pro­zes­se orga­ni­sie­ren, die nicht ein­fach nur das alte Sys­tem lahm­le­gen, son­dern die enga­gier­te Mas­se in einer Form betei­li­gen, die den­noch nicht nur aus kurz­fris­ti­gem, eigen­in­ter­es­se­ge­leite­ten Betrof­fen­heits­ak­ti­vis­mus und finanz­mäch­ti­gen Lob­by­grup­pen besteht? Solan­ge man den Über­gang von der Inter­na­ti­on zur Inter­ne­ti­on nicht als im Gan­ge begreift, solan­ge man nicht begreift, dass es nicht dar­um geht, die alten Struk­tu­ren nur mit neu­en pseu­do-par­ti­zi­pa­ti­ven Gewän­dern zu bemän­teln, solan­ge man nicht begreift, dass sich hier fun­da­men­tal die Orga­ni­sa­ti­ons­form demo­kra­ti­scher Betei­li­gung ver­schiebt, so lan­ge wird sich nicht ein­mal ansatz­wei­se eine Lösung andenken las­sen. Die Inter­nat-Demo­kra­tie lös­te ein Pro­blem, das es nicht mehr gibt. Das ist das Problem.

Gegen­über der an frü­he Par­tei­ta­ge der Grün­den gemah­nen­den Uto­pie des „Alle kön­nen sich basis­de­mo­kra­tisch einbringen“-Mitmachstaats, der sich wie alle sei­ne Vor­gän­ger in Geschäfts­ord­nungs­de­bat­ten erschöpft bis der Größ­te anzu­neh­men­de Umfal­ler die Macht ergreift und Außen­mi­nis­ter wird,  scheint mir, dass die Ori­en­tie­rung an der Open Source Bewe­gung mit ihren vor­han­de­nen, aber trans­pa­ren­ten, dis­kurs­fä­hi­gen und legi­ti­mi­täts­be­dürf­ti­gen Regu­la­ri­en frucht­bar sein kann. Sie zeigt eini­ge beden­kens­wer­te Mög­lich­kei­ten – die für den einen oder ande­ren Uto­pis­ten aller­dings ver­mut­lich ent­täu­schend sein wer­den. Denn natür­lich gibt es hier kei­nen macht­frei­en Dis­kurs. Open Source heißt nicht: Jeder­mann kann ein bis­serl rum­pro­gram­mie­ren und sei­nen Kot in das Gesamt­kon­strukt kopie­ren. Sehr span­nend im Sin­ne einer dif­fe­ren­zier­ten Betrach­tung der Open Source und Crowd­sour­cing Pro­zes­se fin­de ich Arbei­ten von Andre­as Schmidt, etwa  Jus­ti­ce by Slavery? The mea­nings of crowd­sour­cing und sei­ne nüch­ter­ne Gegen­über­stel­lung von „Alle machen mit“-Crowdsourcingutopien und den pro­blem­lö­sen­den „Vir­tuo­sen“.

Zwi­schen­be­mer­kung: Mein Wis­sen über Ent­schei­dungs­pro­zes­se in Open Source Pro­jek­ten ist extrem gering – ich betrach­te die­se Aus­füh­run­gen des­we­gen ledig­lich als Start­punkt für eine Aus­ein­an­der­set­zung, nicht als Ergeb­nis­prä­sen­ta­ti­on. Sach­dien­li­che Kom­men­tar­hin­wei­se sind höchst willkommen!

Open Source setzt auf trans­pa­ren­te Peer Review. Jeder mag auf die quell­of­fe­ne Soft­ware zugrei­fen, mit ihr arbei­ten kön­nen. Sei­ne Arbeit muss des­we­gen aber noch lan­ge nicht in der Soft­ware wirk­lich enden. Die Peers ent­schei­den, was auf­ge­nom­men, umge­setzt´, rea­li­siert wird. Open Source ist, wenn ich es recht ver­ste­he,  kei­ne „Jeder ist gleich­viel wert und hat gleich­gro­ßen Ein­fluss“ Bewe­gung. Es ist eine trans­pa­ren­te, legi­ti­mi­täts­be­dürf­ti­ge, Kom­pe­tenz- und Repu­ta­ti­ons­re­la­ti­ve Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on. Das setzt sie ins­be­son­de­re dem doku­men­ta­ri­schen Soft­ware-Deve­lo­p­ment-Pro­cess ent­ge­gen, in dem letzt­lich wie im Inter­nat gear­bei­tet wird.

Es ist und bleibt ja ein Irr­tum, dass im „Mit­mach­web“ plötz­lich alle krea­tiv, pro­duk­tiv und par­ti­zi­pa­tiv aktiv wer­den. Der „Pro­sumer“ ist kein fest­ste­hen­der Typus, son­dern das Ter­ti­um, das über der Dya­de Pro­du­zent-Kon­su­ment steht, aber inner­halb der damit beschrie­be­nen User­schaft natür­lich mas­si­ve Dif­fe­ren­zen zulässt: Für die Meis­ten ist der „pro­duk­ti­ve“ Anteil im Netz noch immer das Schrei­ben von Emails und gele­gent­li­che Chat­ten, Face­boo­ken usw. Das Ver­schwin­den der Tren­nung zwi­schen Infor­ma­ti­on, die „Lean Back“ (so dif­fe­ren­zier die ARD/ZDF Stu­die  ganz hübsch) rezi­piert im Gegen­satz zum „Lean For­ward“ der Par­ti­zi­pa­ti­on, Krea­ti­on, Kom­mu­ni­ka­ti­on ist bei den meis­ten Onli­ner noch nicht ange­kom­men oder viel­leicht auch nicht erwünscht – stel­len sie doch zudem fest, dass die­se Kom­mu­ni­ka­ti­on dazu ten­diert, nicht ein­fach etwas über etwas zu sagen, son­dern damit wie­der­um im Raum des Poli­ti­schen aktiv zu wer­den. Die­se Grup­pe umfasst der Pro­sumer aller­dings eben­so, wie die Blog­ak­ti­vis­ten, Power-Twee­ter oder Goog­le-Sur­plus­ser, denen es gelin­gen mag, aus der Fil­ter Bubble der Netz­ak­ti­ven her­aus­zu­ra­gen und jen­seits der Sce­ne wahr­nehm­bar zu wer­den (etwa in Enquete Kom­mis­sio­nen – was macht eigent­lich http://digitalegesellschaft.de/?). Anders als die Dya­de Regierende/Regierte, die in die Logik der Inter­na­ti­on gehört, ist Pro­du­zent-Kon­su­ment kei­ne kate­go­ria­le Unter­schei­dung, son­dern eine gra­du­el­le Dif­fe­ren­zie­rung, die alle Betei­lig­ten im Kon­zept des Pro­sumen­ten ver­sam­melt – mit unter­schied­li­chen Gra­den der Akti­vi­tät. In der Inter­na­ti­on konn­te es Nicht-Regie­ren­de geben. In der Neti­on kann es kei­ne Nicht-Pro­sumen­ten geben. Zuge­ge­be­ner­ma­ßen ist das alles ziem­lich vage. Die Kon­zep­te der Neti­on, der Open­so­ur­co­kra­tie, des demo­kra­ti­schen Pro­sumers bedür­fen der Aus­ar­bei­tung bevor sich eine Netio­nal­ver­samm­lung in der Pauls­kir­che einfindet.

Die Pira­ten! Die Piraten?

Ich ste­he der Pira­ten­par­tei maxi­mal skep­tisch gegen­über: zunächst lau­fen si Gefahr den Feh­ler zu repro­du­zie­ren, der die Grün­dung der Grü­nen dar­stell­te. Als die­se Par­tei in den 80ern ent­stand sorg­te sie dafür, dass brei­te Bür­ger­be­we­gun­gen mit unter­schied­li­chen For­de­run­gen, ins­be­son­de­re Anti-AKW, Umwelt­schutz, Frie­dens­be­we­gun­gen in die­se Orga­ni­sa­ti­on mün­de­ten – und die Arti­ku­la­ti­on der Anlie­gen in der sei­ner­zeit mas­sen­me­di­al not­wen­di­gen Form der öffent­li­chen Demons­tra­ti­on ziem­lich schlag­ar­tig ende­te. Der inhalt­li­che Akti­vis­mus wur­de zu einer Geschäfts­ord­nungs- und Hier­ar­chie­bil­dungs­strei­te­rei, die in ihrer Sinn­lo­sig­keit his­to­ri­sche Aus­ma­ße hat. Inter­ne Rich­tungs­strei­te­rei­en lähm­ten die inhalt­li­che Arbeit und ver­hin­der­ten, dass der Druck auf die bestehen­de Regie­rung auf­recht erhal­ten wur­de.  Die Grün­dung der Grü­nen war der Tod für Bür­ger­initia­ti­ven. Viel­leicht fin­det sich irgend­wann ein­mal ein poli­tik­wis­sen­schaft­li­cher Dok­to­rand, der nach­zeich­net, wie sehr die­se Umlei­tung der For­de­run­gen von Bür­ger­initia­ti­ven in inner­par­tei­li­che Selbst­zer­flei­schungs­en­er­gien das Errei­chen der Zie­le tat­säch­lich behin­dert hat, wie vie­le Jah­re ver­lo­ren gin­gen.  Das­sel­be Schick­sal droht einer netz­po­li­ti­schen Bewe­gung, die Par­tei sein will, anstatt außer­halb des Par­tei­en­geflechts Druck auf Par­tei­en auszuüben.

So ehren­wert auch die Liquid Demo­cra­cy Ansät­ze sind – sie sind m.E. nicht geeig­net, die Her­aus­for­de­run­gen einer Neti­on zu adres­sie­ren. Wenn das Net sich durch etwas bestim­men lässt, dann durch sei­ne Dezen­tra­li­tät. Eine Liquid Demo­cra­cy Platt­form als neu­es, ledig­lich elek­tro­ni­sches oder vir­tu­el­les Inter­nat im Inter­net zu errich­ten, folgt der alten Logik. Viel­leicht ist es ein zwi­schen­zeit­li­cher Lösungs­an­satz – aber nicht wirk­lich Lösung. Die Her­aus­for­de­rung besteht viel­mehr dar­in, die zahl­lo­sen vor­han­de­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men und Platt­for­men in ihrer Dezen­tra­li­tät zu belas­sen und zu stär­ken – und den­noch die Betei­li­gung in demo­kra­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen zu ermög­li­chen. Die tat­säch­li­che Lösung aller­dings ist kei­ne tech­ni­sche Lösung. Tech­nik könn­te even­tu­ell Ent­schei­dungs­fin­dungs­pro­zes­se unter­stüt­zen und abbil­den – die Pro­zes­se aber sind unab­hän­gig von der Tech­no­lo­gie zu dis­ku­tie­ren. „Ne neue Web­sei­te“ wäre kein Ansatz.

P.S. Wer sich trotz grö­ße­ren Inter­es­ses am Thea­ter als an poli­ti­schen For­mal­de­bat­ten bis hier durch­ge­le­sen hat, mag den Gedan­ken erwä­gen, wie ein Netio­nal­thea­ter sich an die Stel­le der Natio­nal­thea­ter-Inter­na­te set­zen und wie es aus­se­hen könnte.

 

§ 4 Responses to Von der Internation zur Netion: Überlegungen zum Raum des Politischen und zur postdramatischen Opensourcokratie"

  • adrian oesch sagt:

    zuerst ein kom­pli­ment. in mei­nen augen ein wirk­lich guter arti­kel, dankeschön.

    und dann noch einen einwand.

    zu den pira­ten und lqfb. ist eine dezen­tra­le ent­schei­dung nicht ein para­do­xon? wer auch immer ent­schei­det, wie­vie­le auch immer dies tun und wo auch immer eine ent­schei­dung getrof­fen wird. eine ent­schei­dung ist ein ein­ma­li­ges ereig­nis, und kann des­we­gen nur zen­tral sein. in dem sin­ne hal­te ich lqfb für eine sehr lobens­wer­te ent­wick­lung, die der neti­sie­rung schon im gros­sen mas­se berück­sich­tigt. die pira­ten müss­ten sich mei­ner mei­nung nach eben nicht unbe­dingt inhalt­lich von den ande­ren par­tei­en unter­schei­den, son­dern vor­al­lem strukturell.

    unter­schei­dest du zwi­schen neti­on und inter­ne­ti­on? wenn neti­on das pen­dant zur nati­on ist, bezweif­le ich deren exis­tenz. das netz kennt kei­ne nationen.

    mehr viel­leicht bei wie­der­hol­ter lektüre.

  • Alwin sagt:

    Unter­grün­di­ges Zen­trum dei­ner Aus­füh­run­gen, auf das sich die Beweis­füh­rung fokus­siert, ist wohl: Dezen­tra­li­tät beja­hen (belas­sen und stärken).
    “Wenn das Net sich durch etwas bestim­men lässt, dann durch sei­ne Dezentralität.”

    “Ist aber die Begier­de nach dem Zen­trum, als Funk­ti­on des Spiels, nicht das Unzer­stör­ba­re?” (Der­ri­da, Ellip­se, in: Die Schrift und die Differenz)

    Schein­bar! :)

  • Postdramatiker sagt:

    Dan­ke für die Kom­men­ta­re. Ich ver­such mal Antworten:

    @adrian

    unter­schei­dest du zwi­schen neti­on und internetion? 

    Tou­ché. Wenn es einen Unter­schied zwi­schen Neti­on und Inter­ne­ti­on geben kann, wird er sicher anders sein als der zwi­schen Inter­nat und Inter­na­ti­on. Man müss­te sich mit Ver­su­chen beschäf­ti­gen, sol­che Gren­zen zu zie­hen, die es ja gibt. Nicht nur in Chi­na, son­dern etwa mit den regional/sprachlichen Aus­steue­run­gen von Web­sei­ten wie You­Tube und Face­book, die aller­dings mit ihrer Künst­lich­keit und den ein­fa­chen Umge­hungs­me­cha­nis­men zugleich zei­gen, dass es eben kei­ne Inter­nats­mau­ern mehr sind, die hier undurch­läs­sig hoch­ge­zo­gen wer­den. Ich habe kei­ne abschlie­ßen­de Mei­nung dazu, viel­leicht ermög­licht das Begriffs­paar Neti­on und Inter­ne­ti­on aber, bestimm­te Phä­no­me­ne auf der Grund­la­ge die­ser Dif­fe­renz zu beob­ach­ten und genau­er zu qualifizieren.

    @alwin

    “Ist aber die Begier­de nach dem Zen­trum, als Funk­ti­on des Spiels, nicht das Unzerstörbare?”

    Unmit­tel­ba­re Replik: Ich wäre vor­sich­tig damit, (schlech­te) Ange­wohn­hei­ten zu unver­än­der­li­chen bzw. unzer­stör­ba­ren Kon­stan­ten zu machen. Des­we­gen auf Der­ri­das Fra­ge die Ant­wort: Nein. Sie scheint nur unzer­stör­bar, ist aber kul­tu­rel­les Kon­strukt, das sich eine Zeit­lang sicher bes­tens bewährt hat, jetzt aber in der Bewäh­rungs­pro­be in den Ver­dacht gerät, über­wun­den wer­den zu müs­sen. Mono­the­is­mus, Zen­tral­per­spek­ti­ve, Mon­ar­chie waren kul­tu­rel­le Erschei­nungs­for­men der Begier­de nach dem Zen­trum — das heißt nicht, dass die Begier­de nichts ande­res als sei­nen Gegen­stand wäh­len kann, als aus­ge­rech­net das Zen­trum. Bzw. dass viel­leicht alle nach dem Zen­trum stre­ben — aber nicht alle nach dem­sel­ben Zen­trum. Ant­wort bleibt inso­fern ein Stück offen. Aber:

    @Alwin+adrian
    Ver­mut­lich macht es Sinn das Begriffs­paar Zen­trum-Dezen­tra­li­sie­rung ähn­lich aus dem Schwarz-Weiß zu lösen wie das Pro­du­zen­ten-Kon­su­men­ten, Regie­rung-Regier­ten-Gespann. Der Gedan­ke, dass Schwarz und Weiß kei­ne Gegen­sät­ze son­dern ledig­lich zwei schein­bar pro­mi­nen­te Punk­te auf einer Grau­wert­ska­la sind, führt m.E. da wei­ter. Das haben auch her­kömm­li­che Zen­tral­re­gie­run­gen lan­ge schon erkannt und ihre eige­nen loka­len Unter­zen­tren, ihre Stadt­hal­ter­schaf­ten, Gemein­den, Land­krei­se, Bun­des­län­der usw. erschaf­fen, die als “Unter­zen­tren” fun­gie­ren und damit eben­falls auf das Raum­pro­blem reagie­ren: Man­che Fra­ge­stel­lun­gen las­sen sich aus der Haupt­stadt nicht lösen, da sie zu fern ist. Und die De-Zen­tra­li­tät des Net­zes heißt ja nun nicht Zen­tren­lo­sig­keit: Es han­delt sich ledig­lich um erheb­lich mehr Zen­tren, mehr Platt­for­men, mehr Foren usw. Und es han­delt sich um eine Mehr­zahl, teil­wei­se hier­ar­chisch kas­ka­dier­ter Ent­schei­dun­gen (auch heu­te schon) inner­halb eines Ent­schei­dungs­pro­zes­se. Heißt: Es wird auch in Zei­ten des Net­zes eine Art Zen­tral­in­stanz geben (dar­auf deu­tet Andre­as Schmidt im Ver­link­ten Arti­kel zum The­ma Crowdsourcing/Virtuosen ja hin), es wird zugleich in zahl­lo­sen Unter­zen­tren Debat­ten und ggf. “loka­le” Ent­schei­dun­gen geben, die teil­wei­se auf die zen­tra­le Ent­schei­dung Ein­fluss neh­men, teil­wei­se nur “loka­len” (aber nicht im räum­li­chen, son­dern eher im the­ma­ti­schen Sin­ne) Ent­schei­dun­gen sind. Die größ­te Her­aus­for­de­rung für die gegen­wär­ti­ge Orga­ni­sa­ti­on von Poli­tik und poli­ti­scher Ent­schei­dung oder poli­ti­scher Macht­aus­übung ist m.E. der Umgang mit die­sen Grau­wer­ten, zumal die Zen­tral­re­gie­rung nie vor­her­sa­gen noch bestim­men kann (wie es der Wunsch nach Volks­ent­schei­den ja zu imple­men­tie­ren ver­sucht), wann wel­che Mei­nungs­bil­dungs- und Ent­schei­dungs­pro­zes­se in Gang gesetzt werden.

  • Alwin sagt:

    “Ver­mut­lich macht es Sinn das Begriffs­paar Zen­trum-Dezen­tra­li­sie­rung ähn­lich aus dem Schwarz-Weiß zu lösen wie das Pro­du­zen­ten-Kon­su­men­ten, Regierung-Regierten-Gespann.”

    Ja, so sehe ich das auch. Wür­de mich des­halb mei­ner­seits von ver­ein­sei­ti­gen­den und essen­tia­li­sie­ren­den Pau­schal­aus­sa­gen wie “Das Inter­net ist dezen­tral” (denen ja immer auch eine gehö­ri­ge Por­ti­on wishful thin­king eig­net: wer könn­te auch heu­te aus­schlies­sen, dass jene hei­te­re­re Man­nig­fal­tig­keit von obers­tem Regie-Pos­ten her ange­lei­ert und meis­ter­haft insze­niert wird?) eher fern­hal­ten. Ist´s nicht viel­mehr ein Kräf­te­spiel aus zen­tra­li­sie­ren­den Stre­bun­gen (der bün­deln­den Aus­rich­tung und Zusam­men­fas­sung) und gegen­stre­bi­gen dis­se­mi­na­to­ri­schen Ten­den­zen? EIN Zen­trum ist ohne­hin KEIN Zen­trum: als Zen­trum ist´s immer schon in sich gespal­ten und gedop­pelt, des­we­gen der Ver­weis auf die Ellip­se mit den zwei Brenn­punk­ten. Viel­leicht ist es das, was du als Grau­wert bezeichnest.

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