Alles Gesendete ist nur ein Gleichnis #MediaDivina

Februar 23rd, 2013 § 2 comments

Folgt man der hier im Blog bereits vor­ge­stell­ten Hypo­the­se, dass Fern­se­hen im Gebiet der Kunst ope­riert, spe­zi­ell in dem Bereich den Kant als „Sche­ma­tis­mus“ (hier bzw. hier)beschrieb, jenem Bereich also, in dem sinn­li­che Anschau­un­gen und Ver­stan­des­be­grif­fe mit­ein­an­der ver­bun­den und mög­lichst zur Deckung gebracht wer­den, so lässt sich ein ande­rer Blick aufs Fern­se­hen wer­fen. Die­ser Blick ist ein durch­aus Kant-kom­pa­ti­bler und ermög­licht einen erneu­ten Blick auf das Phä­no­men der Ereig­nis- und Kata­stro­phen­fi­xie­rung von Fern­seh­nach­rich­ten einer­seits, der Mischung von „Nach­rich­ten“ und fik­tio­na­len For­ma­ten andererseits.

In den Blick rückt ein selt­sa­mes Ver­hält­nis von Wie­der­ho­lung und Neu­ig­keit. Von Ver­traut­heit und Unver­traut­heit, das ins­be­son­de­re Nach­rich­ten aus­zeich­net, die ein zeit­lich fest defi­nier­tes For­mat (den Begriff von Stan­ley Cavell auf­neh­mend) defi­nie­ren, in dem mög­lichst Uner­war­te­tes gezeigt wird, ein For­mat also, in dem Uner­war­te­tes erwar­tet oder gar gefor­dert ist. Man setzt sich vor den Fern­se­her in der Erwar­tung, das Uner­war­te­te, die Kri­se, die Kata­stro­phe, das Ereig­nis gelie­fert zu bekom­men. Und da, wo die Nach­rich­ten selbst nicht „von sich aus“ den Ein­druck erwe­cken, kata­stro­phisch zu sein, da setzt der Bericht alles dar­an, das Her­aus­ra­gen­de des­sen, was berich­tet wir, zu stär­ken und mög­lichst zur Kata­stro­phe zu stilisieren.

Die Kata­stro­phe, deren Ereig­nis­haf­tig­keit das Zumut­ba­re sprengt, ist in der Lage, den geplan­ten Fluss des Fern­se­hens zu unter­bre­chen. Die Flug­zeu­ge schlu­gen nicht nur im WTC ein, sie schlu­gen auch in die Fern­seh­pro­gramm­sche­ma­ta ein, die sie zer­stör­ten. Das Ereig­nis schlägt mit aller Macht zu. Und for­dert die Ver­ant­wort­li­chen dazu her­aus, uner­war­te­te For­ma­te wie­der­zu­ge­ben. Die Erzäh­lung setzt für einen Moment aus. Das kan­ti­sche Erha­be­ne hat zuge­schla­gen. Im Extrem­fall erschöpft es sich in der blo­ßen unkom­men­tier­ten Über­tra­gung von Bil­dern des Unvor­stell­ba­ren. Der Choc erschüt­tert das Pro­gramm­fun­da­ment. Inter­es­sant wird es in der Fol­ge, wenn nicht nur die stei­ner­nen Trüm­mer des WTC besei­tigt und durch einen Neu­bau ersetzt wer­den, son­dern das Fern­se­hen sei­ne Trüm­mer ein­sam­melt und ein Gebäu­de errich­tet. Ein Erzäh­lung. Das kur­ze Aus­set­zen der Erzäh­lun­gen und der gleich­zei­ti­ge, kan­tisch-erha­be­ne Ver­such, es in eine Erzäh­lung zu brin­gen und damit ver­stan­des­ge­mäß zu machen, las­sen die Grund­span­nung des Fern­se­hens greif­bar wer­den und schär­fen den Blick für das, was Stuart Hall die „struk­tu­rier­te Ver­mitt­lung von Ereig­nis­sen“ nann­te. Eine in sich para­doxa­le For­mu­lie­rung, sofern Ereig­nis­se das­je­ni­ge sind, was die Struk­tur einer­seits zer­schlägt, sie ande­rer­seits doch als Struk­tur erst mög­lich macht. Indem das Ereig­nis das Außer­halb jener Erzähl­struk­tur ankün­digt, aus dem her­aus es als Ereig­nis beob­acht­bar wird. Im Strom der Nach­rich­ten wird die ein­zeln Nach­richt als Uner­war­te­te doch zugleich in das Nach­rich­ten­for­mat inte­griert.  Das Ereig­nis, die Kata­stro­phe jedoch zei­gen, dass die Struk­tu­rie­rung für einen Moment aus­setzt und ver­wei­sen damit auf ihr Vorhandensein.

Was aber ist die Nach­richt? Nichts von dem, was die Nach­rich­ten brin­gen, hat Erin­ne­rungs­wert. Es hat nichts zu tun mit Chro­nis­ten­pflicht. Spä­tes­tens zwei oder drei Tage spä­ter ist die Nach­richt ver­ges­sen, wenn sie nicht in eine län­ge­re Erzäh­lung ein­ge­bet­tet und wie­der auf­ge­nom­men wird. Der Inhalt der Nach­rich­ten ist nach­ran­gig, wenn nicht gar bedeu­tungs­los im Ver­gleich zur Struk­tur. Nicht der Inhalt ist die Bot­schaft. Auch nicht (nur) das Medi­um. Son­dern die Struk­tur ist die Bot­schaft. Die Struk­tur, die jede neue Nach­richt nur zu einem Gleich­nis wer­den lässt.

Die Reli­gio­nen nut­zen inhalt­lich gefüll­te Gleich­nis­se. Das Fern­se­hen erzählt Struk­tur­gleich­nis­se – und zwar als eine Wet­te des mensch­li­chen, struk­tu­rier­ten, erzäh­len­den Ver­stan­des mit der Sinn­lich­keit. Die Wet­te lau­tet: Was auch immer an Ereig­nis­sen und Kata­stro­phen statt­fin­det – die Nach­rich­ten schaf­fen es, es in For­mat und Struk­tur zu brin­gen. Des­we­gen kommt es in den Fern­seh­nach­rich­ten nicht dar­auf an, was erzählt wird. Es kommt ledig­lich dar­auf an, dass es sich „struk­tu­riert“ ver­mit­teln lässt. Egal was pas­siert, wel­che Kata­stro­phe ein­tritt, wel­ches Ereig­nis ein­schlägt – es lässt sich in Struk­tur auf­be­rei­ten und zu einer Nach­richt umfor­men. Es lässt sich in Ver­stan­des­struk­tu­ren ein­bin­den – auf die unter­schied­lichs­ten Wei­sen. Poli­tik lässt sich – wie schon vor eini­ger Zeit hier beschrie­ben – in shakespeare’sche Schur­ken­dra­ma­tur­gien oder in Gro­schen­ro­man­dra­ma­tur­gie ein­bet­ten. Natur­ka­ta­stro­phen in Metaer­zäh­lun­gen von der mensch­li­chen Natur­zer­stö­rung oder natur­ge­setz­li­che Pro­zes­se. Auch in Geschich­ten von poli­ti­schem Ver­sa­gen. Nach­rich­ten­re­dak­tio­nen haben ein durch­aus gro­ßes Reper­toire sol­cher Erzäh­lun­gen, sol­cher Plots vor­lie­gen. Und sie wis­sen zugleich, dass sie sol­che Struk­tu­rie­run­gen vor­neh­men, wie sie von sich wei­sen, die Nach­rich­ten etwa zu mani­pu­lie­ren. Wie Stuart Hall schon schrieb – zurecht. Sie fäl­schen nicht Inhal­te. Son­dern sie struk­tu­rie­ren sie ledig­lich. Sie arbei­ten radi­kal kon­struk­ti­vis­tisch an einem Weltbild.

Dar­in wer­den si von den „fik­tio­na­len“ Bestand­tei­len des Pro­gramms unter­stützt, die letzt­lich nichts ande­res sind, als die Ein­übung in die struk­tu­rier­te Dar­stel­lung. Roman­zen und Kri­mis leis­ten nichts ande­res, als die lee­re Struk­tur mit belie­bi­gem Inhalt zu fül­len, um anschlie­ßend die blo­ße Struk­tur für die Nach­rich­ten­sen­dung ver­füg­bar zu machen. Das war eben­falls lan­ge Auf­ga­be der Kunst – zusam­men oder in Kon­kur­renz mit Reli­gi­on. Die Ver­samm­lung der Ein­zel­hei­ten in einen „sinn­vol­len“ Zusammenhang.

Löst man sich von einem her­kömm­li­chen Begriff von Mythos und ver­steht sei­nen struk­tu­rel­len Aspekt bei Aris­to­te­les, lässt sich die­se Ein­sicht bereits in der Poie­tik fin­den, wo es heißt, das Wich­tigs­te der Tra­gö­die sei der Mythos als systa­sis tôn prag­ma­tôn, also die Zusam­men­fü­gung der Din­ge bzw. Hand­lun­gen („prag­ma“ bezieht sich nicht nur auf die Pra­xis, es mint eher so etwas wie „Sach­ver­hal­te“). Die Komposition. 

Was ist dabei die Wet­te? Dass sich die Kri­sen, Kata­stro­phen und Ereig­nis­se in den Mythos ein­fü­gen las­sen. Dass also eine jede „brea­king news“ den Mythos viel­leicht kurz zu unter­bre­chen ver­mag, dann aber aus den Ein­schlags­trüm­mern sich wie­der ein Mythos erzeu­gen lässt, eine Erzäh­lung. Und die­se Wet­te wird dann zur ulti­ma­ti­ven Wet­te zwi­schen mensch­li­chem Begriffs­ver­stand (wenn man Begrif­fe nicht nur als sol­che sta­ti­scher Objek­te, son­dern auch zeit­li­cher Abfol­gen zulässt), wenn die sinn­li­chen Ereig­nis­se „live“ ein­tref­fen, wenn also der geschul­te Erzäh­ler­ver­stand gefor­dert ist, in „Echt­zeit“ i ein­tref­fen­den Signa­le und „Prag­ma­ta“ in eine Erzäh­lung ein­zu­fü­gen. Wenn jeder­zeit das Ereig­nis kata­stro­phal zuschla­gen kann und dann for­dert, in Echt­zeit ein­ge­bet­tet zu werden. 

Des­we­gen erfreu­en sich Fuß­ball­über­tra­gun­gen so gro­ßer Beliebt­heit. Hier wird die Wet­te zwi­schen dem erzäh­len­den Repor­ter und dem mehr oder min­der chao­ti­schen Platz­ge­sche­hen live aus­ge­tra­gen. Und dann, wenn die Kata­stro­phe zuschlägt, kommt es dar­auf an. Zwei „Ereig­nis­se“ mögen dafür als Bei­spiel dienen:

-        Über die Kata­stro­phe im Heysel-Sta­di­on von 1985 , sag­te der RTL-Liver­epor­ter Uli Potof­ski: „Ich habe kei­nen ein­zi­gen Kom­men­tar zum Spiel abge­ge­ben.“ Die Erzäh­lung ver­sag­te und lös­te hef­tigs­te Kom­pen­sie­rungs­be­we­gun­gen der Fern­seh­an­stal­ten aus, die mit einem Dau­er­feu­er an Berich­ten sich dar­um küm­mer­ten, in der „Nach­spiel­zeit“ eine Erzäh­lung aus dem Ereig­nis zu machen.

-        Am 1.4.1998 stürz­te vor dem Cham­pi­ons­le­ague-Halb­fi­na­le in Madrid ein Tor um, der Anpfiff ver­schob sich um 76 Minu­ten, wäh­rend derer RTL auf Sen­dung blieb und den (spä­ter für den Grim­me-Preis nomi­nier­ten) Mode­ra­to­ren Reif und Jauch über­las­sen blieb, die Zeit zu füllen.

Zwei Ereig­nis­se schla­gen in einer Form zu, die die „struk­tu­rie­ren­den Ver­mitt­ler“ völ­lig unvor­be­rei­tet tref­fen. Sin­gu­la­ri­tä­ten, deren ers­te dazu führt, dass die Erzäh­lung (bei Potof­ski) aus­setz­te, die Ver­stan­des­be­grif­fe vor der Über­macht des Sinn­li­chen kapi­tu­lier­ten. Deren zwei­te zur nahe­zu abso­lu­ten sinn­li­chen Lee­re führ­te und dem rei­nen kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­stand die Auf­ga­be über­ließ, die Lee­re zu fül­len. Ein­mal wur­de die Ver­stan­des­wet­te ver­lo­ren, ein­mal gewonnen.

Was aber immer geschieht, es kommt auf die Ein­zel­hei­ten nicht an, sie fül­len ledig­lich eine Struk­tur, der gegen­über sie nichts ande­res sind, als Gleich­nis­se. Gleich­nis­se von der Ver­stan­des­fä­hig­keit, noch mit jeder Nach­richt, Kri­se, Kata­stro­phe und jedem Ereig­nis erzäh­le­risch, mythisch fer­tig zu wer­den. Jeden­falls solan­ge, bis der Fern­se­her ausfällt.

 

 

§ 2 Responses to Alles Gesendete ist nur ein Gleichnis #MediaDivina"

  • kusanowsky sagt:

    “Der Inhalt der Nach­rich­ten ist nach­ran­gig, wenn nicht gar bedeu­tungs­los im Ver­gleich zur Struk­tur. Nicht der Inhalt ist die Bot­schaft. Auch nicht (nur) das Medi­um. Son­dern die Struk­tur ist die Bot­schaft. Die Struk­tur, die jede neue Nach­richt nur zu einem Gleich­nis wer­den lässt”

    Das ist ein sehr lehr­rei­cher Text.
    Ich hat­te mir so etwas ähn­li­ches schon mal beim Nach­den­ken über Pop­mu­sik gedacht. Bin aber mit dem Gedan­ken nicht zu recht gekommen.

    Die Struk­tur ist die Form (nicht die Bot­schaft), die durch das Medi­um zustan­de kommt und wel­che bei erfolg­rei­cher Aus­bil­dung das MEdi­um selbst gänz­lich ver­schwin­den lässt und statt­des­sen auf die Welt ver­weist. Empi­risch dürf­te es umge­kehrt zu sein, aber ideo­lo­gisch scheint es sich so zu ver­hal­ten. DIe Ideo­lo­gie ist wich­tig um die Auf­merk­sam­keits­be­reit­schaft zu sti­mu­lie­ren. Denn ein Durch­schau­en die­ses Spiels könn­te dazu füh­ren, Fern­se­hen lang­wei­lig zu finden.

  • Fritz sagt:

    Das ist wohl alles so, wie hier beschrie­ben. Wobei man wei­ter­ge­hend fra­gen kann, ob nicht das gan­ze moder­ne Leben nur dadurch erträg­lich wird, dass man einen Bewusst­s­ein­s­pan­zer zur Schock­ab­wehr auf­baut — so hat es Ben­ja­min gese­hen. Er hat es sogar, wenn ich mich nicht ganz falsch erin­ne­re, sehr ähn­lich aus­gdrückt, näm­lich dass dem Bewusst­sein (also Struk­tu­rie­rungs­in­stanz) die Rol­le zukommt, die Ereig­nis­se durch Erklä­run­gen zu “erle­di­gen”, um mit hnen fer­tig zu wer­den. Der moder­ne Mensch trai­niert sich dar­auf — die Medi­en sind die Trai­ner. Das kann man an den Nach­rich­ten bebach­ten, gen­aus gut an Seri­en und Gen­res, natür­lich auch bei Zei­tun­gen und — zack — da sind wir auch beim Inter­net, wo die Schocks noch dich­ter und chao­ti­scher auf ein­an­der­fol­gen. Da hilft beim Fer­tig­wer­den aller­dings Igno­ranz sowie dass die Auf­re­ger so schnell auf­ein­an­der­fol­gen, dass sie gegen­sei­tig erschla­gen. Am ehes­ten kann sich davon eine Form abset­zen, die schein­bar form­los ist: das Doku­men­ta­ri­sche, das eine ein­zig­ar­ti­ge Zwi­schen­stel­lung zwi­schen Jour­na­lis­mus und Erzäh­lung inne­hat. Das zeigt sich auch bei den bei­den von dir genann­ten Sportveranstaltungen.
    Die Span­nung zwi­schen dem schein­bar Immer­glei­chen und dem schein­bar Immer­neu­en hat übri­gens schon Die­ter Prokop sei­ner­zeit gut beschrie­ben in “Fas­zi­na­ti­on und Langeweile”.

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