Januar 7th, 2013 § Kommentare deaktiviert für Die Antiquiertheit des szenisches Schreibprozesses – Antwort an Frank Kroll § permalink
Frank Kroll, Leiter des Suhrkamp Theaterverlags, hat mir mit einem Kommentar auf den zweiten Teil zum Posting „Die Antiquiertheit des szenischen Schreibprozesses“ geantwortet. Ich habe Frank Kroll, der erfreulicherweise wieder hier zu bloggen begonnen hat, auf den Autorentheatertagen 2002 in Hamburg als ausgesprochen klugen und sehr angenehmen Menschen kennengelernt, wollte deswegen auch entsprechend sinnvoll auf seinen Kommentar antworten – was leider vom Umfang her einigermaßen aus dem Ruder lief. Deswegen habe ich mich entschieden, meine Antwort in mehrere Postings zu zerteilen und in den nächsten Tagen sukzessive hier zu veröffentlichen.
UPDATE: Der erste Beitrag ist jetzt hier online: Die (Neu)Entfaltung der szenischen Kraft – eine Antwort an Frank Kroll, Teil 1
November 22nd, 2012 § § permalink
Theater ist ganz selbstverständlich ein kollaborativer Prozess, aus dem, überraschenderweise, nur eine Funktion nahezu komplett ausgeschlossen ist: die Schreiber. Das sorgt dafür, dass „eigenständige“ Texte entstehen, mit denen Theater meistens in dieser Form, mit dieser Besetzung, in dieser Tonalität nichts anfangen können. Und es sorgt auch, aufgrund der damit verbundenen Ungewissheit hinsichtlich der Finanzierung der eigenen Arbeit, dafür, dass Schreiber nach einigen Texten aufgeben. Wer wäre so dumm, serienweise Texte zu produzieren, die keine Abnehmer finden? Die nur ein paarmal auf einer Nebenstätte gespielt werden? Die, selbst wenn sie Einnahmen erbringen, diese Einnahmen – aufgrund der langwierigen Vorlaufzeiten – so spät kommen, dass inzwischen irgendein Brotjob angenommen werden muss? Der üblicherweise durchaus für eine Auslastung in einem Maße sorgt, dass konzentriertes Schreiben dann nicht mehr möglich ist. Dass die ersten Arbeiten direkt eine Perfektion haben, dass mehrere Häuser sie spielen, ist zumeist nur dem jährlichen Hype-Autor gegönnt. Der zwei oder drei Texte später dann wieder in der Versenkung verschwindet. Oder einer Handvoll Großautoren von der Kategorie Handke, Strauß, Jelinek, die „es geschafft“ haben.
Hinter diesem Umgang mit Schreibern und Texten schlummert noch immer der Mythos vom Originalgenie, vom aus sich selbst und einsam schaffenden Schriftsteller, der in seinem Stübchen den Kampf mit sich und der Welt aufnimmt und als Sieg dieses Kampfes einen Text vorlegt. Diesen Mythos gilt es zu zertrümmern. Weil er der Arbeitsweise der Gegenwart nicht » Read the rest of this entry «
November 22nd, 2012 § Kommentare deaktiviert für Die Antiquiertheit des szenischen Schreibprozesses I § permalink
Die Funktion des Autors im Stadttheater der Gegenwart ist nichts weniger als eine Paradoxe. Einerseits als Publikumsmagnet auf Spielpläne und Plakaten eingesetzt, ist „der Autor“ und seine Auktorialität, seine Herrschaft über Sinn und Gestalt der Aufführung (in einem naiven Verständnis dieser Begriffe, die jeweils einzeln und in ihren Zusammenspiel allerdings zu befragen wären) doch in keinster Weise mehr garantiert. Regie versteht sich nicht mehr als bloße Interpretation, schon gar nicht als einer Treue gegenüber dem Textwerk verpflichtet. Das Selbstverständnis moderner und postdramatischer Regie umfasst explizit den Anspruch eines freien Umgangs mit vorliegenden sprachlichen Artefakten, inklusive der Streichung oder Umstellung, des textlichen Mesh-ups, der Einbeziehung nicht originär für die Bühne geschriebener Texte wie Romane, Drehbücher oder Dokumente und Textsorten unterschiedlichster Provenienz. Das sorgt für den Reichtum des aktuellen Theaters, auch wenn gelegentlich noch immer Häupter sich recken, die dem Autor und seiner Intention das Primat zurück erteilen wollen (wie zuletzt und wieder einmal Kehlmann). Diese Schlachten können als geschlagen, » Read the rest of this entry «
Oktober 8th, 2012 § Kommentare deaktiviert für Der Marienthaler Dachs – vom Verlag angenommen § permalink
Zu meiner nicht geringen Freude hat der Verlag der Autoren sich letzte Woche entschieden, den Marienthaler Dachs ins Verlagsprogramm aufzunehmen. Damit ist zwar zunächst nicht sehr viel, aber doch einiges gewonnen. Solange Theater sich nicht dazu durchringen, sich durch das Gebirge zu bewegen, das dieser Text ist, solange sie nicht verstehen, warum es ein solches Gebirge ist und warum es Laune und Lust machen könnte, Gebirge im Theater zu durchwandern, solange sie den Vorbereitungsaufwand und das Risiko scheuen, so lange bleibt dieser Text nur ein papiernes Gebirge.
Immerhin fast vier Jahre – seit November 2008 – hat die Arbeit an diesem Text gedauert. Um überhaupt daran arbeiten zu können, war ein neuer Rechner mit zwei Bildschirmen nötig. Zudem zeigte sich die sehr unschöne Begrenzung » Read the rest of this entry «
Mai 3rd, 2012 § § permalink
Wie letztens gepostet, haben die Intendanten im Deutschen Bühnenverein ein Experiment unternommen, um einen Fuß ins kalte Netz zu strecken. Zusammen mit Jovoto wurde ein “Creative Crowdsourcing” Projekt gestartet, bei dem die Plattform-Mitglieder keine geringere Frage beantworten sollten, als “Was ist das Theater der Zukunft?”. Das hat natürlich einiger Vordiskussionen bedurft im Kreis der Intendanten. Eine Klausurtagung mit eingeladenen Experten. Und Abstimmungsrunden, was man denn sinnvoll findet und was nicht. Solche Dinge wollen reiflich überlegt sein.
Zum Ergebnis lässt sich so wahnsinnig viel nicht sagen. Einige der auf der Veranstaltung vorgestellten Ideen waren einigermaßen originell oder schräg. Richtig angekommen sind sie bei den Theaterleuten, die die Ideen vorstellten, nicht. Letztlich, so hieß es, sei das Publikum so digital ja noch nicht, sondern informiere sich über Theater eher aus der gedruckten Zeitung. Weswegen man die “neuen Medien” mit Fingerspitzengefühl anpacken müsse. Selbst wenn man aus Fairnessgründen keine weiteren verbalen Auffälligkeiten wiedergibt, lässt sich schon hier ein ganz fundamentales Problem feststellen. Die Theaterleute auf dem Podium haben die Relevanz der — mit ca. 20 Jahren sicher nicht mehr “neuen” Medien — nicht erkannt. Sie geben sich mit dem Printpublikum zufrieden, ohne darüber nachzudenken, das dieses mit den Zeitungen selbst verschwinden könnte.
Der Ideenwettbwerb hatte für die panelanwesenden Theaterleute in etwa die praktische Relevanz wie der Malwettbewerb eines Sparkassenverbandes. Hübsche Dinge — aber doch nichts fürs Tagesgeschäft. Marketing und Werbung könne man sicher mit cleveren Ideen anreichern, um “junge Leute” (eine grauenvolle Formulierung von älteren Herrschaften, die die Welt nicht mehr verstehen) besser zu erreichen. Aber der Auftrag des Theaters sei ja nun doch, tradierte Inhalte in neue Gewänder zu kleiden. Das tue man ja schon. Etwa indem Figuren nur als Projektionen auf der Bühne präsent sein lasse. Und twittern und posten auf Facebook — tue man ja auch schon. Aber da könne man sicher noch etwas mehr tun. In Sachen Werbung.
Das wirkliche Desaster aber …
Auf der re:publica versammeln sich etwa 4.000 kreative, gesellschaftsinteressierte, politisch interessierte, in vielerlei Sinne kreative, vorwärts denkende und avantgardistische Köpfe. Und von diesem 4.000 haben es gerade einmal gut 30 (Panelteilnehmer und Orgateam abgezogen) in die Veranstaltung geschafft. In Zahlen: Dreißig. Eine zeitlich relativ gut gelegene (Warten auf die Lobo-Sause) Veranstaltung über das Theater lockt gerade einmal 30 Zuhörer an. Vielleicht sind die Theaterleute schon zu sehr gewohnt vor leeren Sälen zu spielen — der Saal 4 auf der re:publica bot geschätze 300 Sitzplätze — als dass es ihnen noch auffiele: Die katastrophale und gähnende Leere aber war ein überdeutliches Statement der “jungen Leute” dazu, was sie vom Theater halten. Und wenn Theaterleute nicht beginnen zu verstehen, dass Theater in der entstehenden Netzgesellschaft (das Wort fiel immerhin einmal) nicht heißt, andere Werbung zu machen, die PR twittern zu lassen und noch ein paar Projektoren mehr aufzustellen, sondern dass es vielmehr darum geht, als gesellschaftliche und sich als gesellschafts“kritisch” verstehende Institution die künstlerische und intellektuelle Auseinandersetzung zu suchen, die eigenen künstlerischen Mittel und organisatorischen Prozesse zu überprüfen, grundsätzlich und umfassen infrage zu stellen und gegebenenfalls neu zu erfinden, kurz: Theater in der Netzgesellschaft zu werden — dann werden die Theater über kurz oder lang so leer sein, wie heute Saal 4 auf der re:publica. Und das haben sie auch so verdient.
Gewonnen hat am Ende übrigens — Hamlet. Kein Witz. Vorgestellt wurde eine “argumented (sic!) reality” app fürs iPad, mit der User interaktiv … äh … irgendwie entscheiden können, woran Hamlet stirbt. Oder so. Egal. Der Gewinner darf sich freuen, das Preisgeld sei ihm gegönnt. Realisiert wird das vermutlich nicht. Und wenn doch: Geld bekommt er vermutlich nicht dafür. Außer dem Preisgeld.
Erfreulicherweise ergab sich nach diesem Kasperlethater eine spannende Unterhaltung mit Christian Römer von der Boell-Stiftung, bei der ich am 25. Mai an einer Podiumsveranstaltung zum Urheberrecht teilnehmen werde, und @twena Tina Lorenz, auf deren Vortrag “Theater und digitale Medien – ein Trauerspiel” morgen um 11.15 ich mich sehr freue. Dieses Posting ist als Folge dieses Gesprächs zu verstehen.
März 12th, 2012 § Kommentare deaktiviert für (As)soziologisches Theater: Die Arbeitslosen von Marienthal und die Verlierer von Wittenberge § permalink
Vor etwa 80 Jahren brachen Soziologen in den österreichischen Ort Marienthal nahe Wien auf, um eine sozialpsychologische Studie über ein im Ganzen arbeitsloses Dorf zu verfassen. Es entstand eines der wichtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts, die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Buch, Wikipedia, Materialien). Anders als der Name des Ortes, bleiben die Bewohner im Buch anonym. Keine Namen, keine Charakterisierungen, die Fremden die Identifizierung Einzelner ermöglichten.
Vor einigen Jahren brach nun erneut eine Gruppe von Soziologen, begleitet von Theaterleuten, auf, um diese Studie nachzuspielen, zu wiederholen, zu erneuern. Unter Leitung von Heinz Bude besuchten sie Wittenberge in Brandenburg, um eine Studie über eine Verliererstadt anzustellen, in der Ausgangslage fast ähnlich zu Marienthal. Im direkten Vergleich der daraus entstandenen Bücher ist das Wittenberge-Buch „ÜberLeben im Umbruch“ (hier die Projektwebseite) zunächst eine herbe Enttäuschung. Die beobachteten Bewohner wollten nicht so recht mitspielen.
In Marienthal konnten die Forscher noch verschleiern, was ihre wahre Absicht war. Mit Mitteln nachrichtendienstlicher Agententätigkeit konnten sie sich einschleusen, das Vertrauen der Bewohner gewinnen und Einsichten über das beobachtete Leben generieren, bei dem die Beobachteten sich nicht beobachtet wähnten – und sich deswegen nicht für die Beobachtung inszenieren:
Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben einzufügen hatte. (28)
Vielfältige Tricks kamen zur Anwendung, die die unverstellte Meinung oder die wahre Situation der Menschen zum Vorschein bringen sollte: Institutionen und Initiativen wurden geschaffen. Selbst die eingerichteten ärztlichen Behandlungen dienten zur Erhebung von Material. Man gewinnt „unauffällige Einblicke“, „Vertrauen“, „Kontrolle“, verschafft sich Aufzeichnungen durch Schnittzeichenkurse, lockt Mädchen durch einen Turnkurs an und horcht Eltern in der Erziehungsberatung aus. Im Verlauf des Textes finden sich gelegentlich Erklärungen, welcher kreativer Methoden man sich bediente, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und verdeckt Informationen zu sammeln. Ein Beispiel:
Die Erhebungsarbeit in Marienthal begann damit, daß wir hundert Familien einen Hausbesuch abstatteten, um sie nach ihren besonderen Wünschen bei einer von uns geplanten Kleideraktion zu fragen. Diese Besuche wurden dazu benutzt, durch Beobachtungen und Gespräche Material über die Grundhaltung dieser Familien zu sammeln. Als dann die Kleider bei uns abgeholt wurden, fragten wir die Betreffenden nach ihren Lebensgeschichten, die gewöhnlich breitwillig erzählt wurden. Dieselben » Read the rest of this entry «
Februar 22nd, 2012 § § permalink
Gestern erschien auf nachtkritik.de (hier) ein Artikel von mir zu der in theateraffinen und antirassistischen Krisen im Netz heftig geführten Debatte zum Thema “Blackfacing”, der Praxis also, weiße Darsteller durch Gesichtsbemalung “Schwarze” darstellen zu lassen. Die Erbittertheit dieser in zahllosen Kommentaren und Beiträgen ausgetragenen Diskussion wartet mit der einigermaßen überraschenden Situation auf, dass beide Seiten sich in der Ablehnung des Rassismus zutiefst einig sind, auf der einen Seite aber rassistische Praktiken von Antirassisten angeprangert und nachvollziehbar begründet werden, andererseits sich Theaterleute mit Verweis auf “harmlose” Theatertraditionen verteidigen, für die ebensogute Argumnte ins Feld zu führen sind. In dem Artikel unternehme ich — mit einer Volte über die Luhmann’sche Figur des “Unterschieds, der einen Unterschied macht” — den Versuch, die gemeinsame Quelle von Rassismus und einer rollenzentrierten Theatertradition freizulegen, mit dem Ziel zu einer gründlicheren Reflexion der Fragestellung und möglichen Konsequenzen für Theaterpraxis zu kommen.
Da der Artikel umfangreich ist und sich vermutlich hier im Blog schlecht lesen lässt, gibt es ihn hier als PDF-Download.
Um die Debatte un das ewige Krisen in sich ähnelnden Kommentaren nicht über zusätzliche Plattformen zu zerstreuen, deaktiviere ich in diesem Posting ausnahmsweise die Kommentarfunktion und lade zu Kommentar und Diskussion auf nachtkritik.de ein.
Nachtrag: Inzwischen ist ein interessanter weiterer Text von Jürgen Bauer zu der Diskussion auf nachtkritik.de (hier) erschienen, der sich mit den Erscheinungsformen von Blackfacing differenziert auseinander setzt.
Wer hier lesen möchte, kann das im Folgenden tun: » Read the rest of this entry «
September 6th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Aus dem Maschinenraum: “Der Marienthaler Dachs” — zweiter Akt fertig § permalink
Vierzehn Monate Arbeit stecken drin: Der zweite Akt vom “Marienthaler Dachs” ist, naja, in Rohform fertig. Jetzt noch der Dritte und dann ist das endlich von der Leiste. Alles in allem bisher ungefähr 2,5 Jahre Arbeit. Frage mich, ob irgendeine Dramaturgie irgendwann irgendwo sich die Arbeit macht, das auch nur anzusehen. Im Endzustand wird es auf A2 oder A1 ausgedruckt, vier, teilweise fünf parallele Handlungsorte und Handlungsstränge, die die Besucher einladen, sich von Ort zu Ort zu begeben, sich ihre eigene Geschichte zusammenzusurfen oder zu ‑flanieren. Oder in der Wirtschaft ein Bier zu nehmen. Inspired by “Die Arbeitslosen von Marienthal”, einem der wahrscheinlich größten Bücher des 20.Jahrhunderts.
Anyway, ich bin jetzt erst mal platt.
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August 18th, 2011 § § permalink
In der neuesten ARD/ZDF-Onlinestudie bin ich über einen Vertipper gestolpert, der mir sehr gefiel:
Nicht nur die gelegentliche zeitversetzte Nutzung von Fernsehsendungen oder Ausschnitten daraus via Internat hat sich seit 2008 von 14 Prozent auf 29 Prozent verzweifacht, … (hier Seite 4f.)
Das „Internat“ ist ein wunderbares Bild für die traditionelle, dokumentbasierte Nation: Räumliches Zusammenwohnen unter Aufsicht von Autoritäten, Zugangs- und Ausgangsbeschränkungen und autoritäre Festlegungen sowohl der Formen und Regeln sowohl des Zusammenlebens als auch dessen, was zu lehren und zu lernen, zu wissen und zu können ist. Die Nation war (und ist noch) ein Internat, Internationalität die Zusammenarbeit von Internaten. (N.B.: Vielleicht ist es gar kein Zufall, dass die erfolgreichste Romanserie der letzten Jahre gerade in einem Internat spielt, einem letzten zauberhaften Traum dieser nur noch als historische Wohlfühlreminiszenz taugenden Lebensform). Die Leitdifferenzen, die dieses Internat ausmachten, werden nun von der Internetionalität kassiert: Raumgrenzen, Autoritätspositionen, verbindliche Regeln und Wahrheiten finden sich nicht vor-geschrieben in der Netion. Weniger Organisation, ist sie eher Selbstorganisation oder Autopoiesis. Die herrschende Lehrmeinung wird zur geteilten Meinung, die verbindliche Erzählung wird, wie letztens geschrieben, in einem Geflecht von Erzählungen aufgelöst, die zwar noch erzählt werden, für die es aber immer schwieriger wird, sich durchzusetzen. Noch mag zeitversetztes Ansehen der Massenmedien einen Rest solcher Erzählmacht im Internat zeigen. Aber – aller litaneihaft wiederholten Beteuerungen in der ARD/ZDF-Studie zum Trotz – es wird mehr und mehre eine Erzählung unter vielen anderen. In der Studie heisst es auch (hier auf Seite 15):
Wenn es darum geht, ein Massenpublikum zu mobilisieren, reicht kein Medium an das Fernsehen heran.
Das ist natürlich eine wunderbare Verdrehung der Tatsachen – denn Massenmedien mobilisieren natürlich nicht wirklich. Es reicht vielmehr kein anderes Medium an die Fähigkeit der Massenmedien heran, die Massen zu immobilisieren. Man sitzt still im Internat eingesperrt und glotzt fern.
Endliche und unendliche Diskussion
Zu den Kernfähigkeiten der immobilisierenden Internation gehörte es, Diskussionen dramatisch aufzubereiten, auf den binären Entscheidungspunkt zuzuspitzen und dann durch Entscheidung zu beenden. Die Vielfalt des Stimmen- und Erzählungsgewirrs ist nichts Neues. Die Internation führte nur einen Prozess ein, der eben die Grautöne in Schwarz/Weiß überführte und dann Schwarz oder Weiß, Schwarz oder Rot als Kernalternativen herausstellte. Diese Reduktion fand insbesondere über die möglichst öffentliche Debatte (in Parlamenten oder Massenmedien) statt. Erst wird debattiert, dann kann abgestimmt werden. Und damit ist fest-gesetzt was Gesetz wird. Diese Fähigkeit eignet der Netion nicht, in der die Debatten ausufern durch tendenziell unendliche Vermehrung der Debattenteilnehmer, Debattenplattformen und Debattenbeiträge. Das ist das Problem, das sich mit der entstehenden Netion auftut und das nicht einfach » Read the rest of this entry «
August 14th, 2011 § § permalink
Von dem weissgarnix-Mitblogger Frank Lübberding ist in der FAZ hier ein Artikel zu lesen, in dem er mit gewisser Wut Medien Mitschuld gibt an den Verwerfungen an der Börse. Dabei scheint er diese Behauptung ansatzweise für ungeheuerlich oder skandalogen zu halten. Mit einer Formulierung, die hier aus dem Blog stammen könnte, schreibt er:
Die Finanzmärkte werden aber als ein […] Drama inszeniert. […]Die Medien lauschen jedem Statement und posaunen es in die Welt. Um die inhaltliche Relevanz solcher Stellungnahmen geht es nicht. Die größte Posaune in diesem Orchester ist der Online-Ticker. […] Jedes Katastrophen-Szenario bekommt seine Plausibilität, weil es mit den Erwartungen des Publikums übereinstimmt. Es ist süchtig geworden nach Neuigkeiten. So machen die Medien aus der Volatilität eines Handelstages ein Drama, das sich bestens vermarkten lässt
Und als eine Art Quintessenz lässt sich lesen:
Medien und Märkte leben in einer symbiotischen Beziehung.
Das klingt nach einer klugen Einsicht – aber das Rabbit Hole geht tiefer, als Lübberding zumindest an dieser Stelle andeutet. Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Spekulation sowohl in der Finanzwelt wie in der Medienwelt gerade als Gesamtzustandsbeschreibung dienen kann. Sowohl die mediale als auch die finanzmarktliche Spekulation lässt sich von unsortierten Neuigkeiten (Lübberdings Live-Ticker) und Gerüchten zum Handeln verleiten. Der Börsianer kauft oder verkauft, der Journalist haut eine verkaufbare oder nicht-verkaufbare Meldung raus.
Märkte und Medien – und Politik
Das seltsame singulare tantum „die Märkte“ lebt mit dem anderen singulare tantum „die Medien“ nicht nur in einer symbiotischen Beziehung. Vielmehr sind mediale und märktliche Spekulation letzten Endes dasselbe. „Die Märkte“ reagieren auf Meldungen der Medien. Es gibt keinen Tradersaal ohne Ticker und Laufbänder, die aus Medieninhalten gespeist werden. Ähnlich den eingeblendeten Aktienkursen fungieren die durchlaufenden Meldungen aus den unterschiedlichen Quellen und Ecken der Welt als Handlungsgrundlage für Trader. „Die Märkte“ hängen ab von „den Medien“. Zugleich liefern sie wiederum Meldungen für „die Medien“. Gerade in scheinbar krisenhaften Situationen wie in den letzten Wochen konzentrieren sich „die Medien“ auf die Handelsverläufe an der Börse. „Der DAX“ wird mit seinen Bewegungen zum Hauptgegenstand der Live-Tickerei. Dabei ist der DAX selber nichts als ein kommunikationsermöglichendes Konstrukt. Wie andere Indices auch, bildet er eine mehr oder minder zufällige Auswahl von Unternehmens-Aktienwerten ab und generiert damit einen zeitlich darstellbaren Verlauf. Er hat keine Aussage – es sei denn, er wird in eine Erzählung integriert. Die Erzählung der gesamtwirtschaftlichen Situation und Entwicklung etwa. Diese Erzählung erzählen „die Medien“. Und sie erzählen sie im politischen Umfeld und leiten daraus Handlungsaufforderungen an „die Politik“ ab. Etwa diejenige, die Staatsverschuldung zu korrigieren.
Die “Entkopplung von der Realwirtschaft”
Gelegentlich lässt sich in Kommentaren die Diagnose oder die Kritik lesen und hören, dass „die Märkte“ sich von der Realwirtschaft abgekoppelt hätten. Darin schwingt die Erwartung mit, dass der Aktienwert eines Unternehmens gefälligst seine wirtschaftliche Situation wieder zu spiegeln habe. Als wäre der Aktienwert eine Art Wirtschaftsthermometer, das in einer quantifizierten Angabe unumstößlich zeigt, welchen Wert ein Unternehmen hat. So naiv das schon immer gewesen sein mag – diese Koppelung ist nur eine der möglichen Koppelungen. Notwendig war und ist sie nicht. Denn der Wert einer Aktie wird nicht von einer Ratingkommision bestimmt, sondern von Handelnden Akteuren, die den Preis der Aktie unter sich ausmachen. Die gelegentliche aufgeregte Verblüffung, dass Kurse „fundamental gesunder“ oder „grundsolider Unternehmen“, die vielleicht sogar konstanten Gewinn abwerfen, sinkt, während Phantasieunternehmen wie diejenigen der Hightech-Bubble vor der Jahrtausendwende, ins Unermessliche steigen, zeigt die noch vorhandene Naivität bei einigen Beobachtern. Sie sind den alten Erzählformen noch verhaftet. Sie glauben noch an das Drama.
Die Macht der Erzählung
In der Hochzeiten der Dokumentgesellschaft war es Aufgabe der Massenmedien, nicht nur die als Nachrichten zu präsentierenden Geschehnisse auszuwählen, sondern insbesondere auch, eine Geschichte daraus zu generieren, die sich von „Ausgabe zu Ausgabe“ (der Zeitung, der Radio- oder Fernsehnachrichtensendung) weiter erzählen ließ. Diese Geschichte setzte aus Geschehnissen an und leitete daraus Vorblicke auf möglicherweise Geschehendes bzw. Forderungen an die Akteure ab, wie denn zu handeln sei. Im Chaos des Alltags sorgt das Medium für Orientierung. Aus den Handlungsforderungen wird Druck auf verantwortliche politische Akteure generiert, indem man sich der willfährigen Opposition bedient. Irgendeiner von denen wird schon etwas fordern, das in die mediale Story passt.
Diese Erzählkunst war auch im Bereich der Börse gefragt. Die Kursbewegungen sollten von Zeichendeutern – den Auguren der römischen Antike durchaus vergleichbar – aufgenommen und in eine Erzählung eingefügt werden. Es sind die Erzählungen, die jeden Abend in den Börsenberichterstattungen der Fernsehkanäle stattfinden, ebenso die Erzählungen in den » Read the rest of this entry «