Das ABC der kommenden Wirtschaft, Folge 3: Utopien für Arbeitnehmer und Unternehmen

September 21st, 2010 Kommentare deaktiviert für Das ABC der kommenden Wirtschaft, Folge 3: Utopien für Arbeitnehmer und Unternehmen

Vor­vie­len Jah­ren habe ich ein­mal in einem Buch über die Was­ser­tech­nik der römi­schen Anti­ke ein enorm ein­drucks­vol­les Bild gese­hen ich fin­de es lei­der nicht online), das das Prin­zip der ABC-Ver­trä­ge ganz gut wider­spie­gelt. Denn es han­delt sich um „sozia­le Was­ser­ver­tei­ler“. Zis­ter­nen oder Was­ser­ver­tei­ler waren mit drei unter­schied­li­chen Röh­ren­sys­te­men aus­ge­stat­tet, die jeweils in unter­schied­li­cher Höhe an der Zis­ter­ne ansetz­ten. (Hier ein Word-Doc, das die­ses Prin­zip mit Vitruv als Quel­len­an­ga­be wiedergibt).

Ein sozia­les Röh­ren­sys­tem – bedin­gungs­lo­se Was­ser­ver­sor­gung in Rom

Ganz unten in der Zis­ter­ne oder Ver­teil­stel­le, dort also, wo außer in aller­här­tes­ten Dür­re­pe­ri­oden immer Was­ser ist, setz­te das Rohr an, das zu öffent­li­chen Ver­teil­stel­len führ­te und damit allen Ein­woh­nern Was­ser bot. Dar­über setz­te ein Roh an, das „pri­va­te“ Ver­teil­stel­len – also Paläs­te, gro­ße Güter oder die Häu­ser von Wohl­ha­ben­den – ver­sorg­te. In Zei­ten knap­pen Was­sers wur­den die­se Ver­brau­cher also abge­schnit­ten, konn­ten sich aber in den öffent­li­chen Ver­teil­stel­len wei­ter­hin ver­sor­gen. Die drit­te Röh­re, sehr hoch anset­zend, führ­te nur in Über­fluss­zei­ten Was­ser – und ver­sorg­te dann Brun­nen, Was­ser­spie­le und ähn­li­che „Luxus­in­sti­tu­tio­nen“. Beein­dru­ckend dar­an ist der tech­ni­sche Auto­ma­tis­mus, der dafür sorgt, dass ein all­ge­mein geteil­tes gesell­schaft­li­ches Ziel erreicht wird. Not­we­ni­ges, Wün­schens­wer­tes und Luxus teil­ten sich nahe­zu von selbst auf. Es mag die eine oder ande­re Ver­hand­lung gege­ben haben, wel­che Ent­nah­me­stel­le an wel­ches Rohr darf oder muss. Aber die Grund­struk­tur als Abbil­dung gesell­schaft­li­chen Wil­lens funktioniert.

Ein sozia­les Ver­tei­lungs­sys­tem für Arbeit und Wohlstand

Ähn­lich soll auch das ABC-Sys­tem funk­tio­nie­ren. Jeder Ein­woh­ner soll einen A‑Vertrag haben und 20 Stun­den pro Woche arbei­ten, um sich und die Fami­lie zu ver­sor­gen. Damit ist ein (Über-)Leben oder gar auch ein gutes Leben mög­lich. Und zwar sogar in „Krisen“-Zeiten, da gegen­über jet­zi­gen 40-Stun­den-Ver­hält­nis­sen inner­halb kür­zes­ter Zeit die Kapa­zi­tät um bis zu 50% gesenkt wer­den und Lohn gespart wer­den kann. Arbeit­ge­ber müs­sen dann für sich berech­nen, wel­che Mischung aus A- und B‑Verträgen sie in ihrem Unter­neh­men bevor­zu­gen. Wer nur A‑Verträge hat, zahlt zwar ver­mut­lich weni­ger Löhne/Gehälter im Ver­gleich zu B‑Verträgen, die ver­mut­lich durch die höhe­re Abga­ben­last auch höher bezahlt wer­den müs­sen – hat dafür aber nicht die Fle­xi­bi­li­tät, da A‑Verträge nicht unter 20 Stun­den gesenkt wer­den kön­nen und ver­mut­lich län­ge­re Kün­di­gungs­fris­ten haben werden.

Was Arbeit­neh­mer davon haben

Als Arbeit­neh­mer mit bestehen­dem Arbeits­ver­trag kann ich ohne gro­ße Ver­än­de­rung in einen AB-Ver­trag über­wech­seln. Arbeit­ge­ber und ich spa­ren Arbeits­lo­sen- und Kran­ken­ver­si­che­rung. Davon pro­fi­tie­ren wir bei­de. Ich kann mehr kau­fen, das Unter­neh­men hat frei­es Inves­ti­ti­ons­ka­pi­tal. Ein Teil davon wird sicher­lich abge­schöpft wer­den müs­sen, um die GKV zu finanzieren.
Ich kann aber auch einen Blick auf mei­nen Lohn­zet­tel tun und dort fest­stel­len: Ein Drit­tel oder gar nur ein Vier­tel der Steu­ern, die ich zah­le, fal­len auf mei­nem A‑Vertrag an. Zwei Drit­tel oder gar drei Vier­tel auf mei­nem B‑vertrag. Soll­te ich nicht viel­leicht auf den B‑Vertrag ver­zich­ten, mit einem A‑Vertrag 20 Stun­den pro Woche arbei­ten und die ande­ren Stun­den seis mit Frei­zeit, eige­ner schöp­fe­ri­scher Tätig­keit, sozia­ler Hil­fe – oder ein­fach mit der Fami­lie ver­brin­gen? Wenn das Unter­neh­men möch­te, dass ich län­ger arbei­te, muss es mich mit guten Argu­men­ten dazu bewegen.
Wenn mei­ne Haupt­tä­tig­keit aber etwa im Schrei­ben von sel­ten gespiel­ten Thea­ter­stü­cken und spo­ra­disch gele­se­nen Blog­posts besteht, kann ich mir mit einem A‑Vertrag mit ver­tret­ba­rem Stun­den­auf­wand ein pas­sa­bles Grund­ein­kom­men sichern und behal­te trotz­dem genug Frei­raum, für die artes liberales.

Was Unter­neh­men davon haben

Inter­es­sant für Arbeit­ge­ber dürf­te die gewal­ti­ge Fle­xi­bi­li­tät sein, die etwa im Kün­di­gungs­me­cha­nis­mus liegt. Solan­ge noch B‑Verträge in einem Unter­neh­men exis­tie­ren, dür­fen A‑Verträge nicht gekün­digt wer­den. Dafür dür­fen die B‑Verträge rela­tiv schnell und ein­fach been­det wer­den. Das heißt Ein Unter­neh­men, das weit­ge­hend 40-Stun­den­kräf­te hat, kann sehr schnell die Work­force um nahe­zu 50% auf „Kurz­ar­beit“ set­zen. Da die B‑Verträge in 5er-Schrit­ten redu­zi­bel sind, lässt sich das bes­tens abtei­lungs­spe­zi­fisch regeln. Zugleich bleibt den Arbeit­neh­mern aber eine Grund­si­che­rung, die sozi­al­ab­ga­ben­frei und sehr nied­rig besteu­ert ist. Und die Arbeit­neh­mer haben die Mög­lich­keit, sich ohne Geneh­mi­gungs­pflicht des Arbeit­ge­bers nach einem B‑Vertrag bei einem belie­bi­gen ande­ren Arbeit­ge­ber umzu­se­hen. Da zugleich in Lebens­ge­mein­schaf­ten (oder auch Wohn­ge­mein­schaf­ten) jeder Part­ner einen A‑Vertrag abschlie­ßen kann, wird die Ver­tei­lung der Arbeit auf mehr Schul­tern gefördert.

Der ein­ge­bau­te Vollbeschäftigungsmechanismus

Da A‑Verträge sehr lukra­tiv sind für Arbeit­ge­ber (der Mit­ar­bei­ter erhält viel Net­to vom Brut­to, der Arbeit­ge­ber hat kei­ne Neben­kos­ten), wird die Suche nach A‑Verträgen inten­siv sein. Für den Arbeit­ge­ber hat eine hohe Zahl an A‑Verträgen vie­ler­lei Vor­tei­le: abge­se­hen von einer viel­leicht erhöh­ten Ver­wal­tungs­an­for­de­rung, die aber per IT und Self-Ser­vice extrem redu­ziert wer­den kann.

Der ein­ge­bau­te sozia­le Sicherungsmechanismus

Der Mit­ar­bei­ter hat die Mög­lich­keit, sei­nen B‑Vertrag (wenn er denn einen sol­chen haben möch­te) ent­we­der beim sel­ben Arbeit­ge­ber oder woan­ders zu schlie­ßen. War­um soll­te ein Auto­schlos­ser nicht bei Opel und VW gleich­zei­tig arbei­ten kön­nen? Ein IT-Admin nicht bei einer Bank und einer Ver­si­che­rung? Ein Maler nicht zugleich ange­stellt in einer Fir­ma und nach­mit­tags frei­be­ruf­lich? Der Brief­trä­ger mor­gens Brie­fe aus­tra­gen, nach­mit­tags auf eige­ne Rech­nung Eis ver­kau­fen? War­um nicht mor­gens im Finanz­amt rech­nen, nach­mit­tags blog­gen? Sowohl Job-Sha­ring als auch Employ­er-Sha­ring wer­den denk­bar. War­um soll­te, wer will, nicht zwei unter­schied­li­chen Tätig­kei­ten nach­ge­hen, so er dazu Lust hat? Und Nach­fra­ge besteht. Oder die B‑Vertragszeit als frei­be­ruf­li­che Tätig­keit anmel­den? Die aus­schließ­li­che Abhän­gig­keit von einem Arbeit­ge­ber wür­de auf­hö­ren, zugleich wäre die Auf­nah­me einer frei­be­ruf­li­chen Tätig­keit kein abrup­ter Übergang.

Ich den­ke, auf die­se Wei­se lie­ße sich der bereits ges­tern gefor­der­te Über­gang von der Indus­trie- oder Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft hin in eine Netz­werk­ge­sell­schaft (Boltanski/Chiapello) orga­ni­sie­re, ohne auf uto­pi­sche Selbst­blen­dun­gen her­ein­zu­fal­len – ohne aber auch in den Wahn der Alter­na­tiv­lo­sig­keit und des Schick­sal­haf­ten zu verfallen.

In wel­cher Wei­se die Sozi­al­sys­te­me funk­tio­nie­ren kön­nen und wer­den, soll­te mor­gen hier zu lesen sein.

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