Der Fluch der nicht-entfremdeten, selbstverwirklichenden Arbeit

Juni 24th, 2010 Kommentare deaktiviert für Der Fluch der nicht-entfremdeten, selbstverwirklichenden Arbeit

Was haben Uto­pis­ten und Frei­heits­kämp­fer nicht geträumt: von einer Arbeits­welt ohne Ent­frem­dung. Ohne Robo­ter­i­sie­rung und Mecha­ni­sie­rung des Men­schen. In der der Arbei­ter nicht mehr nur das Teil als see­len­lo­ses Teil pro­du­ziert, son­dern als Teil eines Gan­zen wahr­ge­nom­men, aner­kannt, gewür­digt wird — und selbst den Stolz dar­auf genie­ßen kann, sich in ein gan­zes Nicht-Ich (mit)entäußert zu haben, aus dem er sich selbst anblickt und als Ich ver­wirk­li­chen kann. Eine Arbeits­welt, die den gan­zen Men­schen mit all sei­nen Fähig­kei­ten und Fer­tig­kei­ten, mit Herz und Hirn ein­be­zieht und sei­ne Uner­setz­lich­keit und Ein­zig­keit herausstellt.

Ein schö­ner — Alb­traum, wie sich zuneh­mend zeigt. Schon Boltanski/Chiapello haben dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Geist des Kapi­ta­lis­mus sich ger­ne von sei­nen Kri­ti­kern und Geg­nern inspi­rie­ren und revi­ta­li­sie­ren lässt. So auch von den 68er-For­de­run­gen nach nicht-ent­frem­de­ter, selbst­ver­wirk­li­chen­de Arbeit. Und die Kon­se­quenz? Beschreibt im Frei­tag ges­tern ein schö­ner Arti­kel (hier) von Prof. Andre­as Lan­ge (hier) vom Deut­schen Jugend­in­sti­tut (hier). Ich erlau­be mir, einen Absatz zu zitie­ren (Her­vor­he­bun­gen von mir):

Im Über­blick gese­hen bedin­gen Pro­zes­se der Ent­gren­zung des Wirt­schafts- und Arbeits­sys­tems, dass gegen­über dem Refe­renz­zeit­raum der sech­zi­ger bis acht­zi­ger Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts ers­tens der rela­ti­ve Anteil von Arbeits­plät­zen mit den Merk­ma­len Auto­no­mie und Kom­ple­xi­tät der Anfor­de­run­gen gestie­gen ist – ver­knüpft mit jeweils spe­zi­fi­schen Mischun­gen von Vor- und Nachteilen. {…}

Zwei­tens hat sich die Qua­li­tät von Arbeits­an­for­de­run­gen mit Blick auf das Sub­jekt ver­än­dert. Dabei geht es zuerst dar­um, dass erwerbs­tä­ti­ge Per­so­nen ihre sub­jek­ti­ven Poten­zia­le mehr als bis­her sys­te­ma­tisch in die Arbeits­pro­zes­se inte­grie­ren müs­sen – sprich Krea­ti­vi­tät, Ver­ant­wort­lich­keit und Inno­va­ti­vi­tät müs­sen von den Per­so­nen mehr als bis­her ein­ge­bracht wer­den. Arbei­ten­de haben mehr und tief­ge­hen­der als bis­her Antei­le ihres per­sön­li­chen Poten­zi­als in sich frei­zu­le­gen und einer öko­no­mi­schen Ver­wer­tung im Arbeits­pro­zess zur Ver­fü­gung zu stel­len. Das Anfor­de­rungs­pro­fil lau­tet, Bereit­schaft und die Kom­pe­tenz zur akti­ven Selbst­steue­rung in und für Arbeit in erwei­ter­ter Form zu ent­wi­ckeln und zur Ver­fü­gung zu stel­len. Die auf den ers­ten Blick gestal­tungs­of­fe­ne­ren Arbeits­be­din­gun­gen, bei­spiels­wei­se in Form des Ver­zichts auf eine offi­zi­el­le Doku­men­ta­ti­on der Arbeits­zei­ten, füh­ren nicht sel­ten dazu, dass die Erfül­lung der Arbeits­auf­ga­ben im Sin­ne einer sub­jek­tiv als wich­tig ein­ge­schätz­ten per­sön­li­chen Leis­tung Ten­den­zen der sys­te­ma­ti­schen und chro­ni­fi­zier­ten Selbst­über­for­de­rung beinhaltet.

Ich emp­feh­le den gan­zen Arti­kel zur Lek­tü­re. Und hab mir das Buch des Ver­fas­sers (ama­zon) Ent­grenz­te Arbeit — ent­grenz­te Fami­lie: Grenz­ma­nage­ment im All­tag als neue Her­aus­for­de­rung auch direkt geor­dert. Aber noch mal die Fra­ge mit Blick auf die her­vor­ge­ho­be­nen Punk­te: Sind das nicht wesent­li­che Bestand­tei­le einer mar­xis­ti­schen Tra­di­ti­on, die die nicht-ent­frem­de­te Arbeit herbeisehnte?

Im Marx­haus in Trier (link) hab ich vor 2 Wochen gera­de die­sen Wand­ein­trag foto­gra­fiert (lei­der pass­te der ent­frem­de­te Bereich links nicht mit aufs Bild …)

Inschrift Marx-Haus Trier

Inschrift Marx-Haus Trier

Der nächs­te Schritt ist bereits gegan­gen: Der Pro­le­ta­rie­rer wird in der Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft selbst zur Ware. “Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der Ware” bekommt einen bizar­ren Zweit­sinn. Das zusam­men gerech­net mit der Beschrei­bung von Lan­ge bzw. Boltanski/Chiapello — inci­pit Sich Gesell­schaft leis­ten. Und eine selt­sa­me neue Welt.

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