Theoros und Beobachter: Nachtrag

Oktober 30th, 2010 § 5 comments

Mir fiel gera­de ein, dass sich der zuletzt hier beschrie­be­ne Riss in der Wahr­neh­mung, den das Bewußt­sein, es mit Thea­ter zu tun zu haben, mit sich bringt, viel­leicht zwei­er­lei Ver­wandt­schaf­ten aufweist:

Nimmt man Kus­anow­skis Unter­schei­dung von Per­for­mat und Doku­ment (hier und in zahl­rei­chen wei­te­ren Pos­tings) auf, müss­te man text­ge­bun­de­nes Thea­ter (also das Thea­ter der euro­päi­schen Tra­di­ti­on) als ein kom­ple­xes Spiel zwi­schen die­sen bei­den betrach­ten. Denn das geschrie­be­ne und doku­ment­för­mi­ge “Werk-Stück “wird in der Per­for­mance schein­bar zum Per­for­mat. Es liegt aber — für den um Thea­ter wis­sen­den Beob­ach­ter — ein Text zugrun­de. Die­se Text­grund­la­ge sorgt — neben ande­rem — dafür, dass der Beob­ach­ter die Auf­füh­rung als nicht mehr blo­ßes Per­for­mat, son­dern als text­re­la­tiv und damit zumin­dest doku­men­ta­risch betrach­tet. “Doku­men­ta­risch” heißt damit aller­dings eben nicht — wie es die mime­sis-Theo­rie annimmt — dass ein bestimm­ter Aus­schnitt der Wirk­lich­keit hier nach­ge­ahmt wird, also Thea­ter ein Doku­ment aus dem gesche­he­nen Per­for­mat erzeugt. Son­dern dass es durch Bezug auf den — von Werk­treue-Anwäl­ten ja ger­ne laut­stark pos­tu­lier­ten — Bezug auf das Text-Doku­ment einen doku­men­ta­ri­schen Touch erhält. Es ist aller­dings jeder­zeit weni­ger doku­men­ta­risch als das Text­do­ku­ment (oder die als Rück­zugs­po­si­ti­on gebuch­te “Inten­ti­on des Autors, die sich im Text doku­men­tiert), son­dern durch den Über­gang in die Per­for­mance wird es not­wen­di­ger­wei­se ein per­for­mier­tes Doku­ment. Zugleich ist es für den­je­ni­gen, der vom Text nichts weiß, dem aber gesagt wird, dass es sich um Thea­ter han­delt, mehr Doku­ment als das vor Beginn und nach Ende der Vor­stel­lu­ung Erleb­te, da es sich gewis­sen Kate­go­rien fügr, die die Dra­ma­tur­gie ein­führt. Oder der mythos.

Ers­te Verwandtschaft:

Dem baro­cken Glau­ben, hin­ter der wech­sel­haf­ten Natur lie­ge ein gött­lich geschrie­be­nes Buch (und sei es in mathe­ma­ti­scher Spra­che geschrie­ben), lässt die Begeis­te­rung für das Thea­ter viel­leicht ver­ständ­lich wer­den, weil Thea­ter hier als Modell fun­giert, das sich in der Welt-Theo­rie wie­der­fin­det, sofern man den mun­dus als thea­trum mun­di beob­ach­tet. So wie es schon über Shakespeare’s Glo­be-Theat­re stand: All the world ’s a stage. Der Satz übri­gens ist eine Über­set­zung des Theo­lo­gen Johan­nes von Salis­bu­ry, der in sei­nem (sehr lesen­wer­ten) Poli­cra­ti­cus wie­der­um Petro­ni­us para­phra­siert: “fere totus mun­dus, iux­ta Petro­ni­um, exer­ceat his­trio­nem” (Hier).

Man könn­te auch auf Dide­rots “Jac­ques le fata­lis­te” zurück­be­zie­hen, des­sen Glau­be an das Fatum enorm thea­tral daher kommt: “Jac­ques dis­ait que son capi­taine dis­ait que tout ce qui nous arri­ve de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut.” (Hier) Die­ser Glau­be an das Buch der Natur, die Prä­de­sti­na­ti­on Got­tes usw. nimmt die Doku­ment­ab­hän­gig­keit des thea­tra­len Per­for­mats, das eben durch die­ses sup­po­nier­te Doku­ment nicht mehr Per­for­mat ist, son­dern zu der Hoff­nubng (oder der Schick­sals­er­ge­ben­heit) Anlass gibt, dass alles, was so an selt­sa­men Gescheh­nis­sen sich in der Welt ergibt, eigent­lich in einer ver­bor­ge­nen Schrift vor­do­ku­men­tiert sei, kann sei­ne Ver­wandt­schaft mit dem Thea­ter­be­wußt­sein kaum verleugnen.

Zwei­te Verwandtschaft:

Nimmt man den Riss, der durch Büh­ne und Dar­stel­ler geht, ernst, kann man sogar bis zu Kant gelan­gen und sei­ner Tren­nung zwi­schen nou­me­na und phai­no­me­na. Die­se Unter­schei­dung zwi­schen den Din­gen, wie wie uns erschei­nen (phai­no­me­na), und den Din­gen, wie sie an sich sind ohne dass sie uns aber wahr­nehm­bar sind, ist das Bewußt­sein des Ris­ses, der sich auch durch den Schau­spie­ler zieht. Denn im Thea­ter mit dem Bewußt­sein sit­zen, dass es sich um Thea­ter han­delt, sup­po­niert dem Gesche­hen auf der Büh­ne (und der Büh­ne selbst) das “nou­me­non” des Schau­spie­lers hin­ter der Rol­le, der aber auf der Büh­ne nicht von der phai­no­me­na­len Rol­le zu unter­schei­den ist, in der er erscheibnt. Nun könn­te man öfter ins Thea­ter gehen und den Schau­spie­ler in ver­schie­de­nen “Rollen”-Performaten-Phainomena betrach­ten, um dar­aus Schlüs­se zu zie­hen, wie er denn als nou­me­non viel­leicht sei. Oder man könn­te sich mit ihm in der Kan­ti­ne ver­ab­re­den, um dort fest­zu­stel­len, dass er ja “eigent­lich” ganz anders sei — wür­de aber schnell dazu kom­men, dass das Eigent­li­che des Schau­spie­lers eigent­lich immer ist, “eigent­lich anders” zu sein. Jeden abend anders. Und selbst ihm begeg­nend in der Kan­ti­ne zieht sich durch ihn noch der Riss, weil das Bewusst­sein, dass es sich um einen Schau­spie­ler han­delt, auch hier noch den Riss mit hin­ein­sieht und danach zu suchen trach­tet, was denn wie­der­um das nou­me­non hin­ter dem Schau­spie­ler-Phai­no­me­non, das wie­der­um eine Rol­le ist, sein könn­te. Wenn man dann Goff­mans schö­nen deut­schen Buch­ti­tel “Wir alle spie­len Thea­ter” hin­zu­zieht, lan­det man nicht nur wie­der beim Glo­be-Theat­re, son­dern bei einer Welt­be­ob­ach­tung, die im Gan­zen unter­stellt, dass man es bei Men­schen immer nur mit Dar­stel­lern (sozio­lo­gi­scher) Rol­len zu tun haben könn­te — ohne dass man je dem Nou­me­non auf die Schli­che kommt.

Mal schau­en, was dabei rauskommt,w enn man “Thea­ter” wirk­lich kon­se­quent als eine bestimm­te form eines beob­ach­ten­den Bewußt­seins beob­ach­tet. Und ich hof­fe, ich habe Kus­anow­skis Per­for­ma­t/­Do­ku­ment-Beob­ach­tung nicht all­zu sehr falsch beobachtet.

§ 5 Responses to Theoros und Beobachter: Nachtrag"

  • kusanowsky sagt:

    Die­se Über­le­gun­gen in die­sem Arti­kel stel­len gewiss eine Erwei­te­rung und eine für mich nütz­li­che Beleh­rung dar. Denn es ist ja klar, dass, wenn man annimmt, die Doku­ment­form sei eine für die moder­ne Gesell­schaft typi­sche Form, in wel­cher sich ihre Empi­rie nie­der­schlägt, dann müss­te es sich um ein höchst unwahr­schein­li­ches Wun­der han­deln, wenn die­se Form nicht auch in der Dra­men­theo­rie wie­der­auf­kom­men wür­de. Durch die Doku­ment­form mach­te die moder­ne Gesell­schaft sich selbst erfahr­bar und beschreib­bar; was letzt­lich heißt: alles in ihr und durch sie beob­ach­ten zu kön­nen, inkl. all der Pro­ble­me, die durch ihre Anwen­dung auf­ge­wor­fen wurden.
    In die­sem Zusam­men­hang den­ke ich gera­de dar­über nach, ob im Eli­as­schen Sin­ne das moder­ne Thea­ter, sofern es sei­ne Per­for­ma­ti­vi­tät von der Doku­ment­form über­zie­hen las­sen konn­te, als Insti­tu­ti­on der Affekt­hem­mung im Zivi­li­sa­ti­ons­pro­zess geeig­net war. Das meint beson­ders die Unter­bre­chung der Inter­ak­ti­on zwi­schen Dar­stel­len und Publi­kum. Ich stel­le mir das so vor, dass das Shake­speare Thea­ter womög­lich bereits eine Reak­ti­on auf die­se Unter­bre­chung ist, indem sowohl Schau­spie­ler als auch Publi­kum sich wech­sel­sei­tig als prin­zi­pi­ell in der Wahr­neh­mung als Wahr­neh­men­de vor­weg­neh­men. Die­se Vor­weg­nah­me wäre der Text, genau­er: die Rol­le, das doku­men­tier­te Skript, über das bei­de Sei­ten, Dar­stel­ler und Publi­kum, als infor­miert Betei­lig­te sich gegen­sei­tig beob­ach­ten. Die Unter­bre­chung der Inter­ak­ti­on geschieht durch die Ein­füh­rung einer Beob­ach­tungs­in­stanz — das Doku­ment als Text der Schau­spie­ler und als Text der Kri­tik des Publi­kums — die Selbst­re­fle­xi­vi­tät nach sich zieht und Affekt­hem­mung genau­so zur Vor­aus­set­zung wie zum Ergeb­nis hat.

  • Postdramatiker sagt:

    Zwei­er­lei:
    Der Hin­weis auf die Affekt­hem­mung bringt mich min­des­tens 1000 Jah­re wei­ter zurück zur atti­schen Tra­gö­die und zu Aris­to­te­les, der ja in dem unter sei­nem Namen ver­brei­te­ten Vor­le­sungs­mit­schrift­frag­ment, das wir als sei­ne Poie­tik ken­nen, schrieb, dass das Ziel der Tra­gö­die die kathar­sis sei – den lan­gen Streit, ob es sich um die Rei­ni­gung der Affek­te oder von den Affek­ten mal dahin­ge­stellt. Aber die affek­ti­ve Dimen­si­on der Beob­ach­ter­po­si­ti­on muss tat­säch­lich stär­ker auf­ge­nom­men werden.
    Zur Fra­ge der “moder­nen” Gesell­schaft fra­ge ich mich in den letz­ten Tagen immer mehr, ob die Moder­ni­tät als Ein­schrän­kung über­haupt gül­tig sein kann, oder ob es sich nicht um eine grund­le­gen­de Bedin­gung der Selbst­be­schrei­bung von Gesell­schaft han­delt. Ob also nicht das thea­tra­le Bewusst­sein, das das Aus­ein­an­der­fal­len in Beob­ach­ter und Beob­ach­te­te mit dem gleich­zei­ti­gen Riss im Beob­ach­te­ten tat­säch­lich die Grund­be­din­gung für das Ent­ste­hen von Gesell­schaft ist. Das hie­ße, dass Gesell­schaft even­tu­ell als eine Gesell­schaft nicht dadurch ent­stün­de, dass sie sich einer Nicht­Ge­sell­schaft oder einer ande­ren Gesell­schaft, die “wir” nicht sind, nicht ent­ge­gen­setz­te, son­dern dass die Gesell­schaft auch für sich selbst Gesell­schaft wür­de, wenn es kein “Außen” gäbe.
    Ande­rer­seits fin­de ich wie­der­um auch inter­es­sant, dass Thea­ter zumin­dest in sei­ner Früh­zeit nicht die Gesell­schaft hier und jetzt auf­nahm, son­dern ent­we­der vergangene/legendäre Gesell­schaf­ten vor­spiel­te oder frem­de Gesell­schaf­ten. Dar­über ist nachzudenken.

  • Postdramatiker sagt:

    Und einen hätt ich noch, alter beob­ach­tungs­theo­re­ti­scher Sys­tem­ken­ner Kus­anow­ski: Was wäre, wenn man in der Sys­tem­theo­rie das Wort (nur das Wort!) “Sys­tem” durch das Wort “Dra­ma” ersetzte?

  • kusanowsky sagt:

    “Das hie­ße, dass Gesell­schaft even­tu­ell dadurch ent­stün­de, dass die Gesell­schaft auch für sich selbst Gesell­schaft wür­de, wenn es kein “Außen” gäbe.”
    Genau das ist der Beob­ach­tungs­stand­punkt, von dem aus Luh­mann die moder­ne Gesell­schaft beob­ach­tet und die­se Unter­schei­dungs­op­ti­on als Beob­ach­tungs­sche­ma ihrer Evo­lu­ti­on anwendet.

  • Postdramatiker sagt:

    Dann ist der Luhmann’sche Beob­ach­ter der Beob­ach­ter mit Theaterbewusstsein?

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