Aus der Bestimmung des Revolutionsbegriffes jenseits bloßer „revolutionärer Massen mit politischen Umsturzabsichten“ lässt sich die Frage der Facebook-Revolution differenzierter angehen.
Kappes hebt zunächst darauf ab, dass es nicht die Mittel/Medien sind (Kommunikationsmittel oder Waffen), die eine Revolution „machen“, sondern die Menschen dahinter. Bereits dieser Punkt ist so zentral, dass er auch für Facebook selbst festzuhalten ist. Nicht Facebook, die Webseite und technische Plattform ist die revolutionäre Kommunikationsneuerung dieser Jahre – sondern die 600 Millionen Menschen, die Facebook nutzen sind eigentlich in einem revolutionären Akt versammelt (wenn er denn revolutionär ist). Ob nun Facebook, Twitter oder Mobiltelefone die eigentlichen revolutionären Mittel waren, sei hier dahin gestellt. Dabei ist allerdings aus dem bisher gesagten mit Kusanowsky – hinzuzufügen, dass es sich letztlich nicht um ein entweder-oder handelt. Denn die Unterscheidung hie Mensch – hie Technik wäre subkomplex. Vielmehr ist es der User, der Netzmensch, die surfende Kugelwolke mit ihren kommunikativen Eigenheiten im Netz, die zur Betrachtung steht. Man könnte auf den von Paul de Man intepretierten William Butler Yeats zurückkommen und seine abschließende Frage in „Among School Children“:
O body swayed to music, O brightening glance,
How can we know the dancer from the dance?
Der Tänzer ist vom Tanz nicht zu unterscheiden, sowenig wie der User vom Use, der Surfer vom Surfen oder der Netzmensch vom Menschennetz. Es lässt sich nur durch theoretische Abstraktion eine Unterscheidung herbeiführen, die gelegentlich von theoretischem Wert ist. Dabei aber fällt der User, Surfer, Netzmensch in eine Zwitterposition oder Kippfigur, wie sie die Quantenphysik aus dem Welle-Teilchen-Dualismus kennt. Wir haben es mit einem Gegenstand zu tun, der sich auf eine Weise verhält, dass dieser Gegenstand mal als Welle, mal als Teilchen zu beschreiben ist. Mal als Tänzer, mal als Tanz. Diese Ambiguität kommt aus der Beschreibung – Quanten hingegen scheren sich um diese Beschreibung herzlich wenig.
Kappes fährt fort, Mechanismen des Internets aufzuzählen, die gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Auch darin beißt sich natürlich die Katze in den Schwanz (was nicht schlimm ist, wenn es sich nur um einen ordo cognescendi handelt, dem kein ordo essendi unterstellt wird). Denn es sind gesellschaftliche Veränderungen und veränderte Nutzungsverhalten, die sich durch das Netz manifestieren – folgt man seiner Ausführung zu den Mitteln. Es gibt weit mehr Angebote im Internet, als Facebook, Twitter usw. Aber sie werden nicht in demselben Maße genutzt. Insofern lässt sich zwar sagen, dass das Internet sich verändert. Es lässt sich aber genauso konstatieren, dass die Gesellschaften sich verändern – und sich diese Veränderung nur in den messbaren Nutzungsverhalten im Netz niederschlägt. Weil Autobahnen gebaut wurden, fahren Menschen Auto. Und weil sie Auto fahren wollen, werden Autobahnen gebaut. „Pave the cowpaths“ heißt ein Schlagwort der Usabilityspezialisten im Netz: Passe die Infrastrukturen den Bewegungen der User an. Du kannst Funktionen und Features anbieten so viele du willst – nicht weil sie angeboten werden, werden sie genutzt. Sondern weil sie ein Bedürfnis erfüllen – das allerdings (und deswegen darf die Katze sich in den Schwanz beißen) ggf. überhaupt erst erwacht oder bewusst wird nachdem die Funktion vorhanden ist. Der Like“-Button ist ein Beispiel. Bevor es ihn gab, hat ihn niemand vermisst. Jetzt aber ist er nicht mehr wegzudenken.
Die dissipative oder User-poietischeund systempoietische Kraft des Netzes und von Facebook (die das soziale System sind, das sie erzeugen) zeigt sich insbesondere in den von Kappes als Punkt 4 seiner 37 Internetmechanismen beschrieben „Share“ Funktion. Aufrufe, Meldungen, Gedanken, Nachrichten lassen sich in Windeseile „viral“ durch den Klick auf „Share“ verbreiten. Dadurch bilden sich nicht nur Informationsketten – sondern zugleich Userketten. Durch Verknüpfung von Knotenpunkten kann innerhalb weniger Minuten eine strukturierte Bewegung entstehen. Jeder Facebook-Nutzer hat durchschnittlich 195 „Freunde“. Die Rasanz der Verbreitung lässt sich daran gut erahnen. Und jeder Weiterleiter wird zum Beteiligten.
Zugleich sorgt die als Punkt 5 beschriebene grenzüberschreitende Funktion dafür, dass auch die beschriebene Wahrnehmung des Auslands (wie bereits im Fall Iran) sicher gestellt und kaum durch Festsetzung einzelner Kameraleute zu unterbinden ist. Facebook kann also Ziele politischer Revolutionen sehr wirkungsvoll unterstützen – selbst wenn es gar nicht das Hauptmedium wäre. Viele weitere der 37 Punkte von Kappes variieren diese Themen letztlich nur. Wenn man aber zu seinem Fazit kommt, ist ein Einwand gerechtfertigt. Kappes schreibt:
Durch das Internet verändern sich kommunikative Prozesse sehr stark. Betroffen sind Inhaltsformen, Vernetzungsstrukturen, Nachrichtenketten, Verdichtungsmechanismen, Beschleunigungseffekte, Meinungsfindung, Aktivismusformen, Beobachtung/Monitoring und Finanzierung, um nur die wichtigsten Schlagwörter zu nennen.
Der Einwand lautet, dass das Internet kommunikative Prozesse nicht unbedingt verändert. Vielmehr ist das Internet für bekannte kommunikative Prozesse im Rahmen von Revolutionen ein hervorragend nutzbares Medium. Selbstorganisation der Bewegung, Verbreiten revolutionärer Inhalte, Macht über die inländische Meinungshoheit, Wirkung ins Ausland – all das gehörte zu jeder Revolution zuvor. Mit den Mechanismen des Internet sind allerdings die Möglichkeiten für diese Kommunikationen sozusagen „auf Speed“. Nicht das Internet ist revolutionär – noch auch Facebook. Vielmehr sind es Menschen, die sich für revolutionäre Absichten des dafür geeigneten Internets bedienen indem sie sich zu Usern transformieren. Und diese Menschen haben ihr Mediennutzungsverhalten revolutionär geändert. Die „Revolution der Denkungsart“ ist eine „Revolution des Kommunikationverhaltens“.
Insofern gibt es eine Art „Revolution“, die aber eine Revolution von Verhaltensweisen ist und sich darin ausdrückt, dass in kürzester Geschwindigkeit nahezu 2/3 der Weltbevölkerung Zugriff aufs Netz haben – weil sie es wollen. Und darin, dass 600 Millionen Menschen Mitglieder bei Facebook sind – weil sie es wollen. Facebook selbst oder das Netz zu einer Revolution zu machen oder zu einem revolutions- oder partizipationsurgierenden Medium ist deswegen falsch. Ägypten war keine Facebook-Revolution. Ägypten war eine Revolution von Menschen und Usern, die sich des neuen Kommunikationsmittels bedient haben, um typische revolutionäre Prozesse anders, schneller, effizienter voran zu treiben. Man kann nun trefflich spekulieren, ob in Ägypten auch ohne die neuen Plattformen und Medien die Revolution so „früh“ stattgefunden hätte. Sicher aber hat die Revolution nicht „wegen“ Facebook stattgefunden.