Hab mir gerade nach einem Zitat, das ich bei Kusanowsky gelesen hatte und das mir diesen Autor als interessant erscheinen ließ, den lange Zeit vergessenen Soziologen und Durkheim-Widersacher Gabriel Tarde, genauer seine Schrift zur Monadologie und Soziologie vorgenommen. Abgesehen davon, dass diese Schrift von außerordentlich inspirierender Schrägheit ist, bin ich auf einen Gedanken gestoßen, der mir enorm fruchtbar erscheint:
Am Grunde jedes Dings liegt jedes wirkliche oder mögliche andere Ding. Dies setzt aber zunächst voraus, dass jedes Ding eine Gesellschaft ist und dass alle Phänomene soziale Tatsachen sind. […] Alle Wissenschaften scheinen dazu bestimmt, Zweige der Soziologie zu werden.
Abgesehen von der Schrägheit der dekonstruktiven Umkehrung, die Gesellschaften nicht mehr aus Einzelnen, sondern einzelne aus Gesellschaft bestehen lassen, scheint mir eine hohe Anschlussfähigkeit an die hier und ebenfalls bei Kusanowsky beschriebene Überlegung zur polymorph-perversen Struktur des Post-Subjekts (das, um allzu voreilige Kommentatoren vorab zu besänftigen, keine Existenzaussage zum Subjekt impliziert, sondern nur eine Begriffsreferenz darstellt) vorzuliegen.
Reißt man die uralte Dualität von Materie und “Psyche” ein, wie Tarde es tut, indem er selbst auf atomarer und subatomarer Ebene das Vorliegen von Phänomenen konstatiert, die jenseits “bloßer Materie” liegen, und kommt zu Tardes an Leibniz geschärften Begriff der Monade, öffnet sich tatsächlich der Denkraum für ein “Subjekt”, das kein Subjekt mehr ist, sondern eben jenem polymorph-perversen oder proteischen Subjekt gleicht, von dem etwa Rifkin angesichts des “Menschen” der Netzgesellschaft redet. Dabei ist Tardes Dreh so simpel wie verblüffend einleuchtend: Wenn sich traditionell von Gesellschaften mit der Metapher, dem Bild oder der Analogie des Organismus reden lässt — warum sollte sich umgekehrt nicht angesichts von Organismen nicht von Gesellschaften reden lassen. Dann ist also ein Körper eine Zellgesellschaft, die Zelle selbst wieder Gesellschaft ihrer Konstituenten, die Konstituenten selbst wieder Atomgesellschaften , deren Zusammenhang in dieser Perspektive nichts weniger als eine Überraschung sein kann (warum verhalten sich die Atome zu einer Zelle?), die durch den Begriff des Natur-“Gesetzes” vielleicht anthropomorph verkleistert und verdeckt, nicht aber » Read the rest of this entry «
Juni 25th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Ich habe soeben das schauspielfrankfurt übernommen § permalink
Zum Glück nur auf foursquare. Kurz nach der Übernahme der Mayorship für das Dolly Buster Centre Frankfurt. Worüber soll ich mich jetzt mehr freuen?
Rolf Todesco hat einen interessanten Text zum Thema Massen und Massenmedien geschrieben (hier).Dabei definiert er Massenmedien folgendermaßen:
Als Massenmedien bezeichne ich Zeitungen, Radio, Fernsehen, usw., also journalistische Artefakte, die funktional zwischen einer Redaktion und einem Publikum vermitteln, indem sie Signale vermitteln, die als Schrift, Bild oder Ton usw. interpretiert werden.
Später formuliert er:
„Massenmedien“ sind Medien, die sich an Massen richten.
Ich finde den Ansatz spannend, würde ihn aber gedanklich ein Stück weit verschieben oder umkehren, wie ich in einem Kommentar dazu geschrieben habe:
„Massenmedien“ sind Medien, die sich an Massen richten. “ – könnte man nicht umgekehrt behaupten, Massenmedien seien Medien, die Massen erschaffen. Spezifizierter (wenn es um als nicht-fiktional gekennzeichnete, sogenannte Nachrichtensendungen geht): ein Publikum oder gar (wenn es sich um politische-gesellschaftliche) Nachrichten handelt: eine Öffentlichkeit? Sodaß der Fluch des Massenmediums darin bestünde, fortgesetzt weiter Inhalte zu produzieren, um die Masse, die sich zwar vereinzelt in den Wohnzimmern befindet, durch Schaffung eines potenziell allgemeinen Gesprächszusammenhangs (Über Politik reden – mit Freunden, an Stammtischen, auf Parties) weiter als Masse zu stabilisieren, die genau idann wieder in ihre Konstituenten zerfiele, wenn das Massenmedium ausfällt?
Nimmt man also als Ansatz: Massenmedien sind Medien, die eine Masse produzieren, wird der diffuse und schwer fassbare Begriff der “Masse” plötzlich » Read the rest of this entry «
In der Stadt entstanden und folglich bedingt durch das Phänomen der Sesshaftmachung, hatte die Theateraufführung immer zum obersten Ziel, den Zuschauer an der Bewegung zu hindern. Die Pracht der antiken Zirkusse und Theater läßt letztlich die Erfindung eines allerersten statischen Vehikels erkennen, das pathologische Sesshaftmachen eines aufmerksamen Zuschauers, der die Aufführung des optischen Leibes des sich bewegenden Schauspielers verfolgt.
Nun — es ist die deutsche Übersetzung eines französischen Textes. Trotzdem dürfte sich die Doppeldeutigkeit von “bewegend” auch dort finden (ich habe es nicht überprüft). Der stillgesetzte Zuschauer schaut den Bewegungen des Akteurs zu, der sich bewegen darf, um sich dadurch selbst bewegen zu lassen und zwar, indem er unbewegt bleibt. Lassen wir die Frage außen vor, der sich die Schauspieltheorie seit dem 18. Jahrhundert widmete, nämlich diejenige, ob ein selbst “innerlich” bewegter Schauspieler bewegender sei als ein unbewegter Beweger, ein proton kinoun akineton um es mit Aristoteles zu sagen. So findet sich dennoch eine durchaus interessante Bewegung von Stillstellung und Bewegung, die sich gegenseitig durchdringen. Der bewegte Mensch wird sesshaft gemacht, festgesetzt, stillgestellt und still gestellt (nunja — im antiken Theater dürfte nicht viel Stille geherrscht haben, vermutlich eher vergleichbar einer heutigen Kaspertheaterufführung vor Kindergartenkindern oder einem Zweitliga Fußballspiel…), um ihn bewegen zu können.
“Pathologisch” nennt Virilio das. Pathos und logos - das sind die Beweger. Der Logos, der ein Pathos auslösen soll, der die ins scheibare Passivum gedrängten Zuschauer mit Empathie, Antipathie, Sympathie vielleicht auch Neuropathie versehen soll (nach Aristoteles dient das ja der pathetischen Katharsis). Und es sind zu einem großen Teil die logoi, die für diese pathemata sorgen. Pathologie ist deswegen eine sehr passende Bezeichnung für die theatrale Veranstaltung. Das Theater als pathologisches Institut. Das aber die Zuschauer deswegen nicht zum bl0ßen Passivum macht, weil sie aktiv dorthin gegangen sind, mit der Entscheidung, sich pathologisieren zu lassen, das Theater betraten. Sie laufen nicht davon, gehen nicht weg, lassen sich nicht nur stillstellen als wäre sie polizeilich fest genommen und im Theater fixiert worden.
Die scheinbare Passivität der Stillsitzenden entpuppt sich als die Aktivität, die im bewußt gewollten Sitzen stattfindet. Insofern ist Adams Antwort auf die Frage Gottes: “Was machst du da?” konsequent “Ich mache Nichts.” Und die weitere Nachfrage kann nichts anderes zutage fördern als “Ich sitze hier” und weiter “Ich möchte hier sitzen … Ich wollte immer nur hier sitzen”. Gott kann nicht anders als rasend werden ob seiner Entscheidung, sitzen zu wollen. Zwar heißt Adam hier Herrmann und Gott ist in der Küche. Aber noch am Ende zeigt Adam-Herrmann die scheinbare Paradoxalität des passiv Aktiven wenn er lauthals schreit: “Ich schreie dich nicht an.”
Im Nichtstun unbewegt ausharrend lässt sich Hermann pathologisieren von der verborgenen Akteurin in der Küche — bis hin zum Ausbruch seiner Bewegtheit, bis also zur E‑Motion, die er dennoch unbewegt im Sessel sitzend vollzieht. Es entpuppt sich die Passivität als inerte Aktivität. Loriots genialer Sketch führt das “pathologische Sesshaftmachen eines aufmerksamen Zuschauers, der die Aufführung des optischen Leibes des sich bewegenden Schauspielers verfolgt” in nuce vor. Und es zeigt sich, dass es alles ist — nur nicht passiv. Passioniert — ja. Leidend — ja. Nicht aber passiv, da es der Aktion des Sitzens, die als solche mit Motiv gewählt wurde, folgt. Die Frage “Was machst du” mit “sitzen” zu beantworten, als handele es sich um ein ganz normales Verbum wie hämmern, kochen, kämpfen, bauen usw., zeigt die Aktivität. Hermann wird nicht gesessen. Er sitzt. Aktiv. Dabei aber wird er be-handelt von der Gattin. Oder von » Read the rest of this entry «
Juni 14th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Sich Gesellschaft leisten — funktioniert. § permalink
In der taz vom Wochenende findet sich hier dieser kurze Infotext:
Wirtschaften ohne Wachstum II: Die Sawayaka Welfare Foundation in Japan, in den Neunzigern gegründet von Ex-Justizminister Tsutomu Hotta, etablierte ein geldloses Pflegesystem mit mittlerweile über drei Millionen Mitgliedern. “Fureai Kippu” heißt “Pflege-Beziehungs-Gutschrift” und ist das weltgrößte Zeittauschsystem. Wer Pflegebedürftigen hilft, kriegt die Stunden auf seinem Zeitkonto gutgeschrieben. Die Gutschrift kann er oder sie später gegen Pflegedienste eintauschen oder an Verwandte übertragen. Eine Stunde bleibt eine Stunde — ohne Zins und Inflation.
Klasse Sache — die Stunden, die eingesetzt werden, um die eigene Großmutter zu pflegen, können konvertiert werden in die eigene Pflege durch irgendwen. Originäre Wertschöpfung aus Schuldverschreibungen der Großmutter gegenüber dem Dienstleister, der diese Schuldverschreibungen und damit die Schuld der Großmutter, die sich aus der körperlichen Hinfälligkeit ableitet, an die Kinder oder » Read the rest of this entry «
Es ist Pfingsten – Zeit für Geist, der ins Theater fährt. Nicht Heiligen. Eher Spirit. A new spirit.
Schlechtgelauntes wie zuletzt hier über das gegenwärtige Stadttheater abzusondern ist eine Leichtigkeit. Den Beobachter in der Loge zu geben, der souverän sein Urteil über die Gladiatoren fällt, die sich täglich mit dem Theater herumschlagen, reicht nicht. Wie also wäre ein neues Theater anzugehen? Dirk Baecker hat mit der siebten seiner 15 Thesen gerade eine ganz launige Diskussion unter Systemtheoretikern (autopoiet und Differentia) angestoßen, die sich darüber unterhalten, wie denn wohl eine solche Kunst beschaffen sein müsste. Abgesehen davon, dass „Kunst“ ein ziemlich hohler und damit unhandlicher Begriff ist, den es überhaupt erst einmal über Bord zu werfen gilt, sind die Gedanken inspirierend. Allerdings geht es hier um eine andere Dimension der Frage nach einer neuen Kunst (kann überhaupt von „Kunst“ die Rede sein – wenn, dann als Formulierung eines Gedankens, nicht aber als Zuschreibung zu irgendeinem real existierenden Ding. Das vorab). Es geht um Theater. Und es geht mir darum, wie ein Theater aussehen könnte, das sich dem scheinbar unausweichlichen Krepieren der gegenwärtigen Theater entziehen, entgegenstellen könnte. Eine Utopie von Theater, die mit dem bestehenden pyramidalen Grabmälern der Vergangenheit bricht. Das will ich hier und heute zeigen. Und das geht so: » Read the rest of this entry «
Where am I?
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