Im Zeitalter des Netzes wird die Frage nach dem Subjekt neu gestellt. Sie muss neu gestellt werden, da die traditionellen Bestimmungen von Subjektivität nicht mehr hinreichend zu sein scheinen, um den polymorph perversen Surfer oder User zu fassen. Gemessen am Begriff des Subjekts ist der Surfer eine vielgestaltig gallertartige Masse an Kommunikation, die sich bald hierhin, bald dorthin verbreitet, kleben bleibt und selbst zu einem Netz im Gesamtnetz gerinnt, bestehend aus den hinterlassenen Spuren. Ob dahinter eine Identität, Konstanz, Autonomie liegt? Ob überhaupt ein einheitlicher Fluchtpunkt hinter diesen proteischen Vielgestalten liegt? Ob sich von einer Vielheit im Sinne einer multiplizierten und multiplen Einheit sprechen lässt – oder von einer Unbestimmtheit in sich, einem zeitlichen, räumlichen, kontextuellen Fluidum, das sich in Sekundenschnelle verändert. Das alles ist keine postmoderne Feier eines postsubjektiven Zeitalters – denn der historische Rückgang (mit durchaus bewusster Verknappung) kommt an einem Punkt an, der zeigt, wie wichtig ein Begriff des Subjekts ist (auch wenn es vielleicht zukünftig einen anderen Namen führen muss).
Das Subjekt – Natural Born Fiction
Das Subjekt war immer schon eine Fiktion. Was kein Einwand ist. Es macht lediglich Sinn, das nicht zu vergessen, wenn dagegen angerannt wird. Es ist schier unmöglich, gegen Fiktionen zu kämpfen. Gespenster lassen sich nicht dekonstruieren. Zunächst weil sie von Anfang an konstruiert sind und jede Dekonstruktion nur feststellen kann, dass hier eine Konstruktion vorliegt. Was von wenig Erkenntnisgewinn ist. Zudem weil jeder erneute Kampf gegen das Gespenst ihm nur neue Kraft verleiht. So ist der Entzug der Metaphysik, den die Dekonstruktion bewerkstelligen wollte, gründlich daran gescheitert, dass sich diese Hirngespenster schlicht nicht bekämpfen lassen. Es war der großartige Trick Platons, das Gespenst des Sokrates die Metaphysik begründen zu lassen. Und diesen Sokrates wird man so wenig los, wie die Metaphysik selbst.
Dennoch ist natürlich eine jede metaphysische Größe zunächst unbestimmt. Und so lässt sich trefflich jahrhundertelang darüber spekulieren, was denn eine Idee sei, ein Sein, ein Subjekt. Die Gespenster sind blutlos, leer und unbestimmt und warten auf Bestimmung. So wie die Rollen des Theatertextes, die ihrer „Interpretation“ entgegen zu harren scheinen.
Das Subjekt ist das Gegenstück zum „Ding an sich“, so wie die unsterbliche psychê Platons das Gegenstück zu den ewigen Ideen war. Eine Monumentalisierung, Stillstellung, Entflüchtigung. Allerdings aufgrund einer Hypo-These im wahrsten Sinne. Einer Unter-Stellung. Diese statischen Entitäten wurden ontologisch dem Fluss des Ontischen unterschoben, ein Sein dem Seienden zugrundegelegt. Und Theater haben einen wesentlichen Anteil an der Entstehung des Subjekts – denn im Monolog, im öffentlich dargestellten Gespräch des Denkens oder Gewissens mit sich selbst entsteht erst das Bild, das Fiktum des Subjekts.
Erst mit Nietzsches wütenden Angriffen und mit Heideggers Engführung des Seins mit dem Seienden im Begriff des Da-Seins wurde diese Unter-Stellung re-integriert. Man bedurfte dieser ursprüngliche Unterstellung zu genau dem Zeitpunkt, da die Philosophie schriftlich wurde, da also die Ent-Flüchtigung durch Schrift stattfand, die Stillstellung des Fließens im Fluss. Des Seienden im Sein. Die Erstellung textlicher Dokumente fällt nicht zufällig in eins mit der speziellen Form der abendländischen Metaphysik. Und sie wird sich verändern, wenn das Universum der Monumente von dem der Performate abgelöst werden wird. Wobei das Performat verglichen mit dem Dokument und Monument älter ist. Wie das Fließen vor dem Fluss kommt, wie der Wechsel der Zeiten vor der Zeit kommt. Das Entstehen von Monumenten und Dokumenten folgt Generierungsalgorithmen, die genau festlegen, nach welchen Gesetzen diese Artefakte zu funktionieren haben. Linearität, Logik, Folgerichtigkeit, Geschlossenheit usw. Zudem hat der Verfasser solcher Artefakte bestimmte Akzidentia zu erfüllen. Er muss „Wissenschaftler“ sein, „Journalist“, „Notar“, „Polizist“, „Beamter usw.
Erziehung zum Subjekt
Die durch Machdispositive geregelte Algorithmik der Subjektwerdung schuf sich die entsprechenden Institutionen. Die Schule. Die Universität. Ausbildungsstätten vieler Art. Hier wurde der Appel zum Geburtsort des Subjektes. Der Einzelne zeigte sich im Verhältnis zum Dispositiv als auf jeweils eigene Weise mehr oder weniger geeignet. Die Notenverteilung und Prüfung hatte deswegen niemals nur den Zweck zu überprüfen, wieweit der Einzelne das Gesamtdispositiv verinnerlich hatte. Sondern es ließ auch in der Abweichung von der Bestnote den Hinweis auf das Subjekt entstehen. Je schlechter die Note – desto höher der Grad der Subjektivität des Subjektes. Die Delinquenz – mit Foucault – ist die eigentliche Entstehungsdimension des Subjektes. Die „Streber“ und Einserschüler waren als vollständige Kleinausgaben des Dispositivs schon immer asubjektiv.
Der Appell ans Subjekt
Subjekt und Fehler sind in ihrem Ursprung untrennbar verwoben. Der menschliche Sünder der Kirche, der zu bereuen hatte um ins Himmelreich zu kommen, findet sich im Untäter wieder. Im „kriminellen Subjekt“. Und ich finde leider nicht mehr Autor(Subjekt) und Werk(dokument), in dem es hieß, die Folterkammern der Inquisition seien die Geburtsorte der modernen Subjektivität gewesen. Inhaltlich trifft diese Bemerkung aber ins Schwarze – auch wenn es eine düstere Geburtsszene ist.
Das böse Subjekt
War zuvor der Prozess auf das Gottesurteil oder ähnliche, den Untäter nicht involvierende Prozeduren gegründet – so schreitet die Inquisition voran zum Geständnis. Von der Aussage des Delinquenten hängt seine Verurteilung ab. Er wird befragt – zumeist auf bekannt widerwärtige Art und Weise. Nur indem er sich individuell zu seiner individuellen Tat bekennt kann er verurteilt werden. Er hat sich zu verantworten – und aus dieser Verantwortung heraus erfolgt der Appell an das Subjekt. Dessen Schwäche aber eben darin liegt, dass das Subjekt aus freier Entscheidung zur Tat aussagen kann. Er ist eben kein Wahrheitsautomat, der nicht anders kann als zu gestehen, wenn er tat, als zu leugnen, wenn er nicht tat. Die Folter erkennt die subjektive Entscheidung des Einzelnen auf grausame Weise an. Es räumt ein, dass das Subjekt frei ist in der Entscheidung über eine Aussage – und versucht durch die folternde De-Subjektivierung zurückzuholen, was doch gerade aus der Flasche gelassen wurde. Das Gespenst des Subjektes. „Verantworte dich“ ist der ursprüngliche Aufruf an das aus der Delinquenz entspringende Subjekt. Die Schwierigkeiten, die eine Kirche mit dieser Subjektivität hatte, zeigt sich in der abundanten Libero Arbitrio und der Prädestinationsdebatte. Ist das Subjekt frei einen freien Willen frei auszuüben? Und wie verhält sich das zur göttlichen Einrichtung der Welt? Das Subjekt kommt zunächst vor als derjenige, der Untaten begeht und am Ende dennoch nicht um Vergebung bittet, sondern „Non“ antwortet. Etwa in der Figur des Don Giovanni, der auf die Aufforderung des Komtur „Pentiti“ nur „No!“ brüllen kann. Ich bereue nicht. Der durch das Nicht-Bereuen die Verantwortung als Subjekt übernimmt – und als solches zur kirchlichen Hölle fährt.
Das Subjekt als Verantwortung
Die Konfrontation mit der Verantwortung ist der Aufruf, Subjekt zu werden. Noch Kants kategorischer Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ vereint in sich den Appell, die Aufforderung zur Reflexion, die zwar vordergründig „das allgemeine“ Gesetz aufruft, damit aber zugleich den Einzelnen, der sich dem Appell stellt, eben zum einzelnen Subjekt macht und dieses zum Abgleich mit dem Allgemeinen auffordert. Der Wille des Einzelnen, begründet in der Reflexion auf das Allgemeine, soll zur Quelle der Subjektivität nicht nur im Bösen, sodnern auch im Guten werden. Denn nach diesem Imperativ ist eine jede Handlung eine im emphatischen Sinne Subjektive. Es gibt das allgemeine Gesetz nicht, das den Einzelnen davor schützen könnte, Subjekt werden zu müssen und sich ggf. für die Entscheidung zu verantworten. Auch für die Entscheidung zum Guten bzw. zu etwas, das ein wünschenswertes allgemeines Gesetz ist, muss sich das Subjekt verantworten können. Das Subjekt ist das Ergebnis dieses Appells zuzr Verantwortung. Ob er durch die peinliche Befragung des Inquisitors oder durch den internalisierten Inquisitor des „Gewissens“ vollzogen wird – ist dabei unwichtig.
Subjekt und Appell
Das Subjekt entsteht aus dem Appell an die Subjektivität. Das heißt: aus einem von außen herangetragenen oder durch Selbstreflexion geschaffenen Aufruf zur Identität, Konstanz, Wiedererkennbarkeit, Berechenbarkeit. Und zugleich zur Freiheit – womit nicht etwa gemeint ist, sich frei auszuleben. Sondern: Die Verantwortung für alles, was dem nunmehr als Subjekt den ihm zurechenbaren Handlungen folgenden Konsequenzen, zu übernehmen. Die Unterstellung der Freiheit heißt: Ich unterstelle dir, dass du das, was du tatest aus freier Entscheidung tatest, dass du also Subjekt bist und dementsprechend die Verantwortung für die Konsequenzen zu übernehmen hast.
Das Subjekt im „rechtsfreien Raum“
Gerne wird über das Internet geschrieben, es sei ein oder kein rechtsfreier Raum. Das ist so blödsinnig wie nur etwas – aber es kaschiert Anderes, Interessanteres. Denn es versucht auf unbeholfene Weise zu formulieren, dass der Surfer verantwortlich ist, also Subjekt zu sein hat. Die polymorph perverse Masse, von der am Anfang die Rede war und als die sich das Netz in ganzer Freiheit darzustellen scheint (alles tun und sagen zu können, ohne dafür persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden) wird mit dem Faktum der Verantwortung zum Subjekt konvertiert. Diese Subjektstellen zeigen sich in letzter Zeit zunehmend als die Irritation des subjektlosen Netzes. In Form von Abmahnungen, Klagen gegen Raubkopierer, Drohung der Vorratsdatenspeicherung, aber auch in einfachen Dingen wie Kommunikationsabbrüchen, Bruch von Vertraulichkeiten und anderem. Die Behauptung, das Internet sei kein rechtsfreier Raum heißt also: der Surfer sei noch immer Subjekt. Und er habe sich entsprechend als Subjekt zu entwerfen und zu verhalten. Die erwachende Debatte um Ethiken und Moral des Netzes laufen darauf hinaus. Aus dem Surfer ein Eidolon zu machen, das wiederum als Pflichtvorbild für alle Surfer zu dienen hat.
Das entflüchtigte Subjekt
Die Form der Subjektivierung im Netz ist die Folge der polymorph perversen Freiheit. Der kategorische Imperativ des Surfers wird lauten: Teile mit dem Netz nur Material der Art von dem du wollen kannst, dass es der Allgemeinheit in Ewigkeit zugänglich sein werde. Nicht mehr Maxime und allgemeines Gesetz sind die hypothetischen Haltepunkte der gegenüber das Subjekt sich gegenüber sich selbst zu verantworten hat. Sondern die Datenspeicherung und allgemeine und unbegrenzte Verfügbarkeit dieser Daten ist es, die das Subjekt herausfordern, Subjekt zu werden.
Das entmündigte Subjekt
Nun ist allerdings der Surfer nicht nur als Akteur, sondern auch als Objekt im Netz zu finden. Heißt: Als Gesprächsgegenstand. Die scheinbare Souveränität der informationellen Selbstbestimmung zeigt sich schnell als Schimäre. Je mehr Aufmerksamkeit einem gilt, desto geringer wird die Möglichkeit, als Subjekt noch Macht über sich selbst zu haben. Diejenigen, die aus dem Massenkonsens der Streber herausragen, die also im älteren Sinne überhaupt erst fähig zur emphatischen Subjektivität waren, sind nunmehr diejenigen, die im Strudel der Objektivierung durch Andere wiederum ihrer Autonomie verlustig gehen. Eine Autonomie, die diejenigen, die den Kopf nicht aus der Masse gestreckt haben, scheinbar nicht einmal in Anspruch genommen haben. Das Subjekt, das willentlich, identisch, autonom entscheidet, was es im Netz tut und über sich verkündet – wird seiner Subjektivität entkleidet, indem zugleich andere die Entscheidung treffen, was über das Subjekt gesprochen wird.
Ein Ausblick zum (Post)Subjekt
Auf das Fiktum „Subjekt“ einfach zu verzichten im Hinblick auf den Surfer – ist es sinnvoll? Ist es möglich? Es muss in jedem Falle eine andere Bestimmung gesucht werden, für die von der Frage des Appells und der Verantwortung auszugehen durchaus sinnvoll sein kann. Auch wenn es sich offensichtlich um eine extreme Reduktion jeder Subjekttheorie handelt. Im Zusammenhang mit der Facebook-Frage in den letzten Tagen hatte ich auf den Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik als ein mögliches Modell für eine veränderte Subjekttheorie verwiesen. Ob das tauglich ist oder nicht – wird nicht im Netz und in Postings zu entscheiden sein. Sondern im Theater.
[…] zur Vielgestaltigkeit und zur Wandelbarkeit auszeichnet.Anknüpfend an einen sehr lesenswerten Artikel bei Postdramatiker sind die dort angesprochenen Betrachtungen der Entwicklung moderner Subjektivität in […]
“So ist der Entzug der Metaphysik, den die Dekonstruktion bewerkstelligen wollte, gründlich daran gescheitert, dass sich diese Hirngespenster schlicht nicht bekämpfen lassen.”
Sorry, aber dieser eine Satz allein zeugt von einer derart haarsträubenden Unkenntnis, daß ich mich schon seit Stunden für ihn fremdschäme.
Als kuehner Dekonstruktionsdogmatiker wirst du das sicherlich unbeschadet ueberstehen!
Klar, als Hirngespinst bin ich sowieso undekonstruierbar und nicht zu bekämpfen. Ätsch. Du aber auch. Und jetzt?
Dekon-struktion meint, sowenig wie Hacking, demolieren, kaputtmachen. Sondern auseindernehmen, in seine Einzelteile zerlegen und schauen, wie es funktioniert, die Fugen und Gelenkstellen abtasten.
Schon Heideggers Begriff der De-struktion (der abendländischen Metaphysik) stammte aus einem Lehrbuch für Geologie und bezeichnete die Kurzform eines auf die Drift der Erdplattentektonik bezogenen Begriffs: De-Strukturation.
Also weder methodische Kritik noch gar Zerstörung, am ehesten im psychoanalytischen Sinne (aber auch das mit Einschränkungen): Analyse.
[…] als Subjekt beobachtet und erwarten kann, von anderen ob seiner Subjektivität beurteilt zu werden. Ob der Surfer, der Benutzer immer noch ein Subjekt ist? Immer noch als Handelnder zurechnungsfähig, mit Verstand, Vernunft, Talenten (oder […]
“Ob der Surfer, der Benutzer immer noch ein Subjekt ist?”
Sind Fragen, wenn sie keine Röcke mehr tragen eigentlich immer noch Frauen?
Die Frage unterstellt, es habe jemals Subjekte gegeben, was doch stark zu bezweifeln ist? Bei Freud ist´s eine mehr schlecht als rechte Integetration einer letztendlichen Desintegration (“das polymorph-perverse” der auseinanderdriftenden Mannigfaltigkeit der Partialtriebe), bei Kant (!) aber schon nichts anderes:anonymer Platzhalter der “transzendentalen Einheit der Apperzeption”. Nichts von vornherein Gegebenes (wie später auch bei Hegel nicht) sondern qua praktischer Vernunft (heute: dem sozialen Erfordernis der Adressabilität) gefordertes.
In dem Moment, wo die Reifikation “DER” Benutzer ins Spiel kommt ist “DIE” proteiische Vielgestaltigkeit immer schon dahin. Jedenfalls gehörig domestiziert.