September 9th, 2014 § Kommentare deaktiviert für Drama und Ideologie 8: Die Krise der politischen Erzählungen § permalink
Auf dem Journalisten-Branchenportal Meedia findet sich heute ein interessanter Text von Stefan Winterbauer (Hier). Darin wird die Krise des Journalismus ausnahmsweise nicht als Auflagenkrise, sondern als Krise der Erzählung beschrieben: Anlässlich der gestrigen Sendung von Frank Plasbergs „Hart aber Fair“ wird geschildert, wie die Versuche, dort zu einer gemeinsamen Erzählung des Ukraine-Konflikts zu kommen, gleichzeitig in einer „Gegenöffentlichkeit“ in den digitalen, sozialen Medien konfrontiert ist, die parallel ihre eigenen Erzählungen entwarfen. Er schreibt:
Die Gegenöffentlichkeit artikuliert sich im Zuge der Ukraine-Krise erstmals in großem Stil. Dass das Phänomen wieder verschwindet, ist unwahrscheinlich. Für die klassischen Medien ist dies eine der größten Herausforderungen der Digitalisierung. Wie können Medien ihre Glaubwürdigkeit retten oder zurückgewinnen? Wie können sie dem Publikum deutlich machen, dass es sich lohnt ihnen zu vertrauen?
Nun ist es sicherlich etwas zu kurz gegriffen zu behaupten, hier artikuliere sich eine Gegenöffentlichkeit zum ersten Mal. Die Geschichte der Gegenöffentlichkeiten ist bereits im analogen Zeitalter relativ lang (Beispiel: „Kein Blut für Öl“ im ersten Golfkrieg), wird noch erheblich umfangreicher im Digitalzeitalter – von Online-Petitionen, über Plagiats-Jäger bis hin zu den Phänomenen des Arabischen Frühlings. Trotzdem bleibt die Beschreibung des Zusammenhangs von Ukraine-Krise und erzählenden Gegenöffentlichkeiten interessant zu beobachten, die Winterbauer hier anreißt.
Die Plasberg-Sendung
Ich habe die Sendung mit dem Titel „Wladimir Putin – der gefährlichste Mann Europas? gestern gesehen – und war von Beginn an überrascht. Es saßen in der dort vorwiegend journalistische „Erzähler“: die russische Journalistin Anna Rose, der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen, der Moskauer Focus-Korrespondent Boris Reitschuster, der Journalist und Filmemacher Hubert Seipel. Zwischen ihnen der Kanzleramtschef Peter Altmeier, der nicht zuletzt Aufseher der politischen Erzähler ist: des Bundesnachrichtendienstes.
Zwischen diesen Erzählern entspann sich nun: der Kampf der Erzählungen, der auf eigenartige Weise an Akira Kurosawas Rashomon erinnerte, eines Filmes, der „den selben“ Vorfall viermal erzählen lässt, von vier unterschiedlichen Standpunkten aus und daraus vier unterschiedliche Erzählungen von etwas gewinnt, von dem es ein „dasselbe“ nicht mehr gibt.
Bei Plasberg traten sehr gezielt eingeladene journalistische Erzähler an, erzählten – und kamen zu sehr unterschiedlichen Erzählungen dessen, wovon es sicher am Ende, vermutlich aber von Anfang an kein „dasselbe“gibt. Waren hier und da Elemente auch strittig, so waren sich doch die Erzählungen im Wesentlichen darin ähnlich, dass sie viele gemeinsame Elemente verwendeten, sie aber unterschiedlich zusammenfügten, zu unterschiedlichen Erzählungen mit unterschiedlichen daraus folgenden Konsequenzen. Das im Einzelnen zu rekonstruieren, würde hier zu weit führen, zumal die einzelnen unterschiedlichen Erzählungen weitgehend schon vorher einigermaßen bekannt waren.
Interessanter ist die Beobachtung, dass eben Erzähler hier gegeneinander antreten, Journalisten, die in ihren unterschiedlichen Erzählungen (mehr oder weniger prägnant) deutlich werden lassen, dass ihre Erzählungen bestimmte Gefüge von Zusammenhängen sind, die miteinander inkompatibel sind. Es ist nicht nur ein Streit darüber, was jetzt passieren sollte. Es ist vor allem der Streit, was „Sache“ ist – und was daraus zu folgern ist. Die Konsequenz: Die Ukraine-Krise lässt in großer Deutlichkeit die Krise der Erzählungen sichtbar werden, die sich verstärkt durch die Parallelität alter und neuer Kommunikationsmittel ergibt. Es wird sichtbar, dass das alte Leit-Erzählmedium, die Media Divina Fernsehen ihre Erzählkraft verloren hat.
Denn es streiten nicht nur in der Media Divina die Erzähler, sondern – wie Stefan Winterbauer berichtet – in zahlreichen kleinen Debatten verheddern sich auch in der digitalen und sozialen Kommunikationswelt die Erzählungen ineinander, fallen in Glaubensgrüppchen auseinander und bauen sich ihre eigenen Erzählungen. Winterbauer attestiert eine „Glaubwürdigkeitskrise“ der Massenmedien, die er für relevanter hält als den Medienwandel und die Auflagenkrise der Zeitungen. Der zentrale Bestandteil dieser Diagnose allerdings ist „Glauben“ und „Glaubwürdigkeit“, weil er an etwas rührt, was Massenmedien als Erzähler immer voraussetzen, worauf sie aufbauen müssen, ohne es doch selbst herstellen zu können. Das macht diesen Sachverhalt in der hiesigen Blogposting-Reihe „Drama und Ideologie“ interessant, weil sich Anschlussfähigkeit an die Trivialitäten des Aristoteles, von denen in den letzten Postings dieser Reihe (hier, hier, hier und hier) die Rede, herstellen lässt.
Aristoteles und der politische Groschenroman
Die Erzählung ist, im Anschluss an die letzten Beiträge zu Aristoteles hier im Blog, eine Zusammenfügung von Praktiken (σύνθεσιντῶνπραγμάτων), die Aristoteles mit dem missverständlichen Wort μῦθος bezeichnet, die von einem Gefügemacher (μυθοποιός) erstellt wird, indem Praktiken zu einem Zusammenhang gefügt werden. Dieses Gefüge hat sich dem Kriterium des Möglichen und Notwendigen (τὸεἰκὸςἢτὸἀναγκαῖον) zu fügen. Elemente werden zu einem Zusammenhang zusammengesetzt, neue Elemente müssen, damit eine Erzählung weiter erzählt werden kann, sich in dieses Gefüge einfügen lassen.
2010 hatte Frank Schirrmacher in der FAZ (hier) einen schönen Artikel, der beschrieb „wie man ein verdammt guter Politiker wird“ – und dabei behauptete: „Politische Glaubwürdigkeit im neuen Medienzeitalter ist keine moralische, sondern eine literarische Kategorie.“
November 21st, 2010 § Kommentare deaktiviert für Der Reichstag brennt. Wetten dass? § permalink
Der Reichstag brennt in allen Köpfen. Hier zum Beispiel oder da. Da und da. Es gibt noch keine Bilder, die den brennenden Reichstag zeigen wie einst das WTC. Aber der Bericht über die Gefahr eines zukünftig brennenden Reichstags hat dieselbe Wirkung wie der Bericht über einen brennenden Reichstag. Phantasien hier oder da, Imaginationen dessen, was geschah und berichtet wird oder was geschehen könnte. Die Phantasie trennt nicht zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Die Warnung vor dem Terrorakt nimmt den Terrorakt vorweg. Und schnell herbeigezauberte „Maßnahmen“ (wie die VDS) gaukeln vor, eine Sicherheit herstellen zu können, die natürlich die Angst nicht bannen wird. Denn es geht um anderes – aber worum? Es geht um die Bilder des brennenden Reichstags. Nur um Bilder (die ein geübter Photoshopper innerhalb einiger Minuten, Roland Emmerich sicher sogar als Film produzieren könnte).
Die Wette
Terrorismus alter Prägung war mit Forderungen verbunden Erpressung zur Systemänderung oder zur Freilassung von Häftlingen. Was ist hier die Forderung? Worum geht es? Um das Bild des brennenden Reichstags. Auf der einen Seite die Wette, dass es dieses Bild geben wird. Auf der andern Seite die Wette, dass nicht. Die Wettpartner Al Kaida und Thomas de Mezière. Wird Gottschalk dauermoderieren? Ist Ackermann, jener Spekulant auf die Zukunft, der Wettpate? Oder Jörg Kachelmann? Denn die mediale Verfassung dieses Terrors ähnelt der medialen Verfassung der Bankenkrise, ungemein. Einsturz des WTC führte zu weltweiter Angst, Einsturz von Lehmann Brothers stürzte die Weltwirtschaft aufgrund einer „Vertrauenskrise“ zwischen den Banken ins Verderben. Der Wettervorhersager Kachelmann stürzte ein, als eine Nachricht über ihn in Umlauf kam. Spekulationen über „tat ers“ oder „tat ers nicht“, Börsenspekulation, Nachrichtenspekulation, Ereignisspekulation. Die Spekulation ist der Kriegsschauplatz der Gegenwart. Wer ist der Gegenstand dieser medial ausgetragenen spekulativen Wette? Wir. Sind der Wetteinsatz. Roulette – aber nicht russisches, sondern arabisches Roulette.
Die verkehrte Welt: Wirkung vor der Ursache
Die Wette trifft uns in unserm Innersten: In unserer Ausrichtung auf die Zukunft. Erinnerung und Vergangenheit ist eine Welt der Historiker und der massenmedialen Fernsehberichte, die uns sagen, was geschah. Nur der Wetterbericht sagt, was vermutlich morgen geschehen wird. Und natürlich die Börsenspekulation. Die Zukunft. Der große Glaube der Gegenwart. Die Schulden, die unsere Kinder abzahlen müssen. Die Wirtschaftsentwicklung, die die 5 Weisen » Read the rest of this entry «
Auf die Idee, Alarm wegen einer selbst aus Übungsgründen zum Einsatz gebrachten Bombenattrappe (SpON) auszulösen, kam Monty Python leider nicht. Aber diese kleine Alarmübung hat auch was:
Nachtrag (Update): Was ich noch zu sagen vergaß und warum das Post den Titel trägt, den es trägt: Die Warnung IST der Terror. Die Furcht VOR dem Anschlag ist der Terror.
August 11th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Digitalökonomie — Google und Verizon starten den ersten Digitalkrieg § permalink
DieBedrohung des offenen Internet war hier im Blog bisher (etwa hier) vornehmlich an Facebook festgemacht worden (was auch immer noch imminent ist — ich glaube, dass Facebook tatsächlich durch die eigene Währung mit 500 Millionen Mitgliedern weltweit zu einer quasi-staatlichen überstattlichen Macht wird). Heute aber — wie hier von ZEIT Online gemeldet — macht Google den ersten offenen Zug in dem anstehenden großen Digitalkrieg. Jeff Jarvis nennt das, was zwischen Google und Verizon verabredet wurde, hier ein “Münchener Abkommen” — sich dabei auf das Abkommen von 1938 beziehend, in dem Hitler von Frankreich und England die Besetzung des Sudetenlandes erlaubt wurde. ZEIT findet den Vergleich hart, ich dagegen denke, wir sind schon über München hinaus. Zitat ZEIT:
Der Suchmaschinenkonzern und die amerikanische Telefongesellschaft versuchen, im Internet so etwas wie Mautgrenzen und Zollschranken einzuführen. Gleichzeitig bauen sie an einer dauerhaften Überwachung der Inhalte.
Dabei ist Inhaltsüberwachung keine Übertreibung:
Der übelste ist die Idee des “lawful content”. Die Neutralität des Netzes und die Gleichbehandlung von Daten sollen nur noch für solchen “gesetzestreuen Inhalt” gelten. Was illegal ist, darf diskriminiert werden. Prinzipiell nicht schlimm, das gesellschaftliche Leben funktioniert genauso. Mit einem entscheidenden Unterschied: In demokratischen Gesellschaften wird öffentlich, transparent und eben demokratisch verhandelt, was legal und was illegal ist.
Apple hat in Sachen Zensur schon mit den Apps einen kleinen Vorgeschmack gegeben, ein eher geringes Grenzscharmützel, das den Herstellern von blinkenden Kästchen und hübschen Touchscreens nicht wirklich übel genommen wurde in der breiten Öffentlichkeit. Google aber verkündet nunmehr, selbst zu entscheiden, was lawful ist und was unlawfuil. Gehen wir mal nicht davon aus, dass » Read the rest of this entry «
Juli 20th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Schlaaand und die Entfremdung: Teil 3 – „Wir müssen aber alle selbst ran.“ § permalink
In den letzten beiden Beiträgen zum Thema „Schlaaand und die Entfremdung“ war die Symboloperation (Fahnenschwingerei hier, Bundespräsidentenwahlgetümmel) miteinander in Beziehung gesetzt worden mit dem Hinweis, das Beobachter dazu neigen, sie für Inhaltliches misszuverstehen. Wie beim Fahnenschwingen kein Patriotismus involviert sein muss und nicht involviert zu sein scheint, ist die Bundespräsidentenwahl kein geeignetes Moment inhaltlicher Beteiligung der Bevölkerung an Demokratie. Beides glaubt zu sehr, dass Symbolisches Inhaltliches wäre. Und die eigentlich zu führende Debatte liegt an anderer Stelle: Der Glaube, der Staat sei das Ensemble seiner politischen Repräsentanten. Heißt: Die Politiker „sind“ der Staat.
Natürlich schwingt dieses ungute Gefühl bei denen mit, die – wie der Spiegel-Titel – darauf hinweisen, dass die Präsidentenwahl von Politikern ausgekungelt sein. Damit usurpieren Politiker das Nullmorphem, das ihnen nicht gebührt, weil das Wahlvolk darüber zu bestimmen hat. Es ist ein Übergriff auf Symbolisches – aber das ist eher das Epiphänomen. Der Kampf um eine Position, die nichts zu sagen hat, kann keine inhaltliche Frage sein. Es ist die Frage nahch der Macht im und über den Staat. Aber viel wichtiger ist die inhaltliche Frage. Heißt: wofür lohnt es sich, inhaltlich die Fahnen zu schwingen, gemeinsam öffentlich aufzutreten, wofür gilt es, Trikots anzuziehen – wenn es denn kein Fußball wäre. Was oder wen » Read the rest of this entry «
Juli 18th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Schlaaand und die Entfremdung: Teil 1 – Schwarz-rot-goldene Vuvuzelas § permalink
Zwei Sachverhalte, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Weltmeisterschaftsbilder, in denen Menschenmassen mit Nationalflaggen zusammen vor Großbilleinwänden stehen oder sich gar in Stadien versammeln, um gemeinsam „Fernsehen“ zu schauen. Ein aufkommender, sich hinterrücks einschleichender Neonationalismus, wie Müller )hier und hier) auf den Nachdenkseiten meint – oder doch ganz harmlos wie der Spiegelfechter und die überwiegende Schar seiner Kommentatoren hier meinen?
Eine offenbar schnell voranschreitende Entfremdung der Bürger des Landes gegenüber den Staatsvertretern, den Repräsentanten der „Nation“. Eine mangelnde Beteiligung, mangelndes politisches Interesse, Verachtung von Politikern, von Politik überhaupt.
Juni 7th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Wirtschaftskrieg Marke Taliban § permalink
Gelegentlich mussten sich Wirtschaftsultras in diesem Blog hier und von mir bereits als Taliban, ihre Ausbildungsstätten als Wirtschaftsmadrassas attribuieren lassen. Wovon ich mich auch keinen Fingerbreit distanziere — allerdings feststelle, dass auch die traditionell als Taliban bezeichneten Kämpfer in Afghanistan durchaus enorm wirtschaftlich denken. Die ZEIT bringts gerade an den Tag:
Wie die New York Times berichtet, sollen private afghanische Sicherheitsleute aufständische Taliban nicht nur für freies Geleit im unwegsamen Hinterland bezahlen. Sie sollen vielmehr auch Attacken auf ausländische Versorgungskonvois in Auftrag geben – um die Gegend unsicherer zu machen und sich somit Aufträge zu sichern. {…} Watan-Geschäftsführer Rashid Popal bestritt zwar, dass die Angriffe mit den Taliban abgesprochen waren, um sein Geschäft zu retten. Aber die Ermittler in Washington sind skeptisch. Der Gouverneur der Provinz Wardak, Mohammed Halim Fedai, sagte, die Firma Watan jedenfalls werde weniger oft angegriffen als andere Sicherheitsdienstleister. Ein afghanischer Offizieller, der anonym bleiben wollte, betonte: “Watans Leute könnten die Attacke selbst initiiert haben.”(hier)
“Ich gehe davon aus, dass einige Leute so ihre eigene Nachfrage generieren”, sagte auch der Nato-Kommandeur für » Read the rest of this entry «
Bundesumgangssprachekriegsminister und Freiherr zu Guttenberg will bei der Bundeswehr sparen (sagt SpOn), indem einige kleinere Standorte gestrichen werden. Ich hätte folgende Vorschläge: Kabul, Kunduz, Mazar-i-Sharif, Feyzabad, Termez.
Das würde jährlich 3 Milliarden Euro sparen (sagt manager-magazin hier). Wär vielen Menschen geholfen.
Und beim Suchen nach Links stolperte ich dann über eine dieser großartigen Widerwärtigkeiten aus den deutschen Wirtschaftsmadrassas, diesmal des DIW. ich zitiere aus einem Interview im Manager-Magazin (hier):
mm: Aber muss man denn wirklich so weit gehen, jeden gefallenen Soldaten mit einem Preisschild zu versehen? Pro totem Deutschen veranschlagen Sie in Ihrer Studie 2,3 Millionen Euro.
Brück: Wieder sage ich: Es wäre zynisch und respektlos, den hohen Preis den die Soldaten und ihre Familien gezahlt haben, nicht in unsere Studie einfließen zu lassen. Der Betrag von 2,3 Millionen Euro entspricht dem, was in der EU auch in anderen Kosten-Nutzen-Analysen als Preis für ein Menschenleben veranschlagt wird — etwa bei Investitionen in die Verkehrssicherheit.
Wer will angesicht der Tatsache, dass solche Profitmullahs und Wirtschaftstaliban in diesem Land die Geschicke erheblich mitbestimmen, noch behaupten, unser Problem sei die spätrömische Dekadenz von Hartz IV-Empfängern?
Das letztens hier beschriebene Thema rund um den Afghanistankrieg und die Teilnahme der deutschen Wehrpflichtarmee daran geht mir nicht aus dem Kopf. Insbesondere das extrem nachvollziehbare Phänomen, dass die deutschen Staatsbürger in Uniform dort in permanenter Angst (Merkel hier) leben, weil sie nicht wissen, was sie dort tun und sollen. Soldaten in Angst – ein Armutszeugnis für die Armee? Die coolen Warriors der Marines und die schneidigen britischen Guards machen einen so ganz anderen Eindruck. Das führt tatsächlich auf eine sehr fundamentale Frage – rund um die Demokratie, die Wehrpflicht, die Gesellschaft.
Friedfertige versus Berufskrieger
Wehrpflichtige – wie bereits bemerkt „durfte“ ich diese Erfahrung selbst machen – werden technisch im Gebrauch von Waffen, in soldatischer Koordination, ein wenig in Fitness unterwiesen. Das wars. Die Motivation zur Teilnahme im Kampf und Inkaufnahme aller Gefahren und Risiken wird vorausgesetzt: die kollektive Selbstverteidigung. Organisierte Notwehr. Wie man will. In unmittelbaren Gefahrensituation verteidigen sich auch friedfertigste Menschen gegen Angreifer. Wehrpflichtausbildung heißt: Friedfertigen Kriegsfertigkeiten beibringen.
Was nicht geschieht ist: die systematische Unterdrückung oder Ausschaltung der Tötungshemmung. Ebenso wenig die systematische Umprogrammierung der Gefahrenwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Beides sind Ziel der Grundausbildung von Berufsarmeen wie den Marines oder der Legion. Es wäre fatal, würde die Bundeswehr diese Umprogrammierungen angehen. Nach Ende des Wehrdienstes würden Menschen aus der Armee entlassen, denen das Zusammenlebe in der Gesellschaft kaum mehr möglich ist – eben weil sowohl gelernte Tötungshemmung als auch Angstwahrnehmung extrem derangiert sind. In der gegenwärtigen Debatte wird dieser Unterschied in der Ausbildung übrigens durchaus erwähnt, allerdings in Form einer „Kritik an Ausbildungsdefiziten“.
Kriegsfertig machen
Die Ausbildung von Berufsarmeen setzt darauf, die Soldaten zu dressieren. Sitz, Platz, Fass. Stillgestanden, Marsch, Feuer. Zunehmend wird noch „Intelligenz“ bzw. Nachdenken gefordert – taktisches. Nicht grundsätzliches! In jeder Situation zu gehorchen. Motivation dieser Soldaten ist schlicht und einfach Geld. Ein Beruf. Ein Auskommen. Eine Art männliche Zwangsprostitution. Alles andere ist Drill und Gehorsam. Aus Friedfertigen werden Kriegsfertige gemacht.
Zwei interessante Sachverhalte dazu:
Friedfertige im Krieg
Im 2. Weltkrieg haben überhaupt nur überraschend wenig amerikanische Soldaten von ihren Waffen Gebrauch gemacht, noch weniger gezielt geschossen. Daraufhin wurde die Ausbildung grundlegend geändert: das gezielte Schießen auf sehr menschenähnliche Ziele wird als automatisierte Stressreaktion antrainiert: Beschossen werden – Angst – Stress – Aggression – Feuern. Das ist der eingeschliffene Mechanismus. Letztlich: Angst in Aggressive Gewalt umsetzen. Das sollte man einer Wehrpflichtarmee keinesfalls beibringen. Eine Gesellschaft, in der jede Angst- oder Stresssituation unmittelbar zu aggressiver Gewalt ohne Tötungshemmung führt – ist vermutlich keine wirklich Lebenswerte.
Intermezzo: Die genauen Zahlen und die genauen Hintergründe (gibt es eine Tötungshemmung oder – wie Reemtsma vor 4Jahren vortrug – gibt es sie nicht?) sind nicht so leicht online zu recherchieren. Ich bin auf einen ziemlich interessanten Artikel in einem sehr interessanten Organ gestoßen: Das Ulmer Echo, das Gefangenenmagazin der JVA Düsseldorf Ulmer Höh‘ veröffentlichte im Jahr 2000 einen Artikel „Pawlow’s Hund frisst Schuld“, der mit sehr spannenden Zahlen aufwartete: Im 2. Weltkrieg ( = allgemeine Wehrpflicht in USA) haben nur ca. 15 von 100 amerikanischen Infanteristen überhaupt ihre Waffe benutzt. (Diese Ergebnisse werden » Read the rest of this entry «
Where Am I?
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