Olivier Garofalos Masterarbeit über “Sich Gesellschaft leisten”
Am germanistischen Seminar der Universität Trier (Lehrstuhl Franziska Schüßler) hat Olivier Garofal eine, wie ich finde sehr lesenswerte, Masterarbeit über “Sich Gesellschaft leisten” verfasst. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers stelle ich diese Arbeit hier als pdf zum Download und zur Lektüre zur Verfügung:
Der-regulierte-Mensch-in-Ulf-Schmidts-Theatertext-sich-Gesellschaft-leisten
Uraufführung in Trier am 8.6.2010. (Link zum Theater inzwischen inaktiv)
Ein Video mit Probenausschnitten von hunderttausend.de (hier):
Und die Kritik:
Der Trierische Volksfreund fands “bärenstark”. In der rasant und sehr positiv geschriebenen Kritk (hier) heißt es unter anderem:
Unrealistisch? Übertrieben? Gemach. In Deutschlands Bordellen wird gerade die Flatrate eingeführt. Immer mehr Unternehmen lassen ihre Mitarbeiter coachen. Und dann war da noch der FDP-Bundestagskandidat, der bei einer Podiumsdiskussion in Trier mit Blick auf Hartz IV-Empfänger beklagte, es gebe leider “zunehmend Leute, die nicht in der Lage sind, ihre Eigenrendite zu erwirtschaften”. Der Durchmarsch von Effizienz und Kosten-Nutzen-Rechnung von der Wirtschaft in alle Gesellschaftsbereiche ist längst in vollem Gange. [… Der Autor] spinnt sie in seinem Stück “Sich Gesellschaft leisten” nur konsequent ins Privatleben weiter. Der Mann weiß, wovon er redet, und er spielt virtuos mit dem modernen Business-Kauderwelsch. Aus Mitmenschen werden Miet-Menschen, und wer zu sehr auf andere angewiesen ist, muss Schulden machen, die die Gläubiger dann in Form von Schuldverschreibungen als Anlage-Objekt auf den Markt und in den Handel bringen. Die Trierer Inszenierung von Judith Kriebel und Gerhard Weber beschreibt das Börsenparkett des Lebens als streng stilisierte Szenenfolge.
Auf theaterforschung.de findet sich eininsgesamt sehr lesenswerter längerer Artikel zum Festival “Maximierung Mensch”. Ich erlaube mir den Absatz über SGL zu zitieren:
[…Der] Text ist in der Typoskriptfassung eine aus vielen nebeneinander arrangierten Textspalten bestehende Mammut-Partitur, in der die Mitspieler/Marktteilnehmer immer wieder mehrstimmig, gleichzeitig oder versetzt, chorisch oder polyfon ihre Angebote oder Nachfragen artikulieren und verhandeln. Der Autor hat den dramaturgischen Ablauf seiner ökonomischen Utopie an den fünf Levels des Computerspiel ‚Unreal Tournament‘ orientiert. Die einleuchtende Zugriffsweise der Uraufführung hat aus [den] Textmassen eine 90 minütige Trierer Fassung konstruiert, die sie in einer ehemaligen Maschinenhalle im Industriegebiet einrichtete. Als Spielort wäre angesichts der Dienstleistungsgesellschaft in ‚Sich Gesellschaft leisten‘ eher ein Börsensaal, eine Zeitarbeitsvermittlungsagentur, der Handelsraum einer Bank oder ein Bordell angemessen gewesen – doch sind diese Dienstleistungs-Räume in Trier vermutlich alle noch ausgelastet in Betrieb und stehen im Gegensatz zu einer Maschinenhalle dem Theater nicht zur Verfügung. Das Zusammenleben in Schmidts Sozialdrama (das eher eine postdramatische Partitur über postsoziale Zustände zu sein scheint) gleicht gerade auch im Privaten einem permanenten Börsenszenario. Nicht nur zeitnahe Tauschangebote werden ausgerufen und abgewickelt, es wird auch mit Optionen und Privat-Schuldscheinen gehandelt. Der Text ist ein ästhetisch anspruchsvoller Kommentar zur zunehmenden Durchökonomisierung aller Lebensbereiche. Das Stück passte wie ein Auftragswerk (das es nicht war) ins Konzept des Maximierung-Mensch-Festivals. Seine Trierer Uraufführung war ein gelungener Theaterabend; auf weitere Inszenierungen dieses ausladenden postdramatischen Textes darf man gespannt sein.
Hier gibts den Ganzen Artikel von Bernd Blascke
Und auch nachtkritik.de ist an die Mosel gekommen und hat ausführlich berichtet. Natürlich nicht so euphorisch wie der Volksfreund, sondern mit eher distanziert-soigniertem Understatement. Sehr beschreibend, sehr präzise in der Wiedergabe des Dargebotenen. Durchaus auch abwägend im Inhaltlichen und Stellung nehmend – dennoch zeigt sich der Kritiker am Ende (bzw. leider schon vorher) an Sinn und Geist ermüdet (oder sah jedenfalls andere Zuschauer in diesem Zustand). Was bedauerlich ist. Aber mir gefiel der folgende Abschnitt (nicht nur ollen Kants halber) sehr:
Mit ihren Rechnern kalkulieren die Figuren ihre Beziehungen, die Bilanzen werden abgeglichen, die Punkte verrechnet. Was man für den andern tut, hat seinen Preis. Fürs Abwaschen etwa gibt’s 10 Punkte – aber wenn der Partner es übernimmt, weil der, der dran ist, keine Lust hat, kann er verhandeln und mehr für sich rausschlagen. Ansonsten ist der Preis abhängig von der Art der Tätigkeit sowie von der Dauer der Verrichtung. Das gilt nicht nur fürs Abwaschen, Kochen, Fensterputzen, sondern auch fürs Sich-Aussprechen, und natürlich für den Sex. Das wusste ja schon der olle Kant: Ehe ist ein Vertrag zum wechselseitigen Besitz der Geschlechtseigenschaften. (hier)
Ein starker Abend in einer starken Location (Industriehalle Eltzstraße) mit einer starken Regie von Judith Kriebel und Gerhard Weber. Und auf der Rückfahrt aller Zuschauer im Bus war angeregtes Reden, Diskutieren, Schnattern zu hören – die Geistesmüdigkeit also (bei wem auch sie sie eingetreten war) löste sich sehr schnell. Das ist Theater, wies mir gefällt!
Vorpremiere
27.02..2010 (weitere Vorstellungen am 5.&6. März) Erstes “Try-Out” des Leves IV “Mangelwirtschaft” beim 9. Festival für neue Dramatik: Stück für Stück zum Glück. MARKT TOTAL (hier) Regie: Frank Campoi.
Besprechung auf nachtkritik.de
(Text nicht mehr online zu finden)