Auf dem Journalisten-Branchenportal Meedia findet sich heute ein interessanter Text von Stefan Winterbauer (Hier). Darin wird die Krise des Journalismus ausnahmsweise nicht als Auflagenkrise, sondern als Krise der Erzählung beschrieben: Anlässlich der gestrigen Sendung von Frank Plasbergs „Hart aber Fair“ wird geschildert, wie die Versuche, dort zu einer gemeinsamen Erzählung des Ukraine-Konflikts zu kommen, gleichzeitig in einer „Gegenöffentlichkeit“ in den digitalen, sozialen Medien konfrontiert ist, die parallel ihre eigenen Erzählungen entwarfen. Er schreibt:
Die Gegenöffentlichkeit artikuliert sich im Zuge der Ukraine-Krise erstmals in großem Stil. Dass das Phänomen wieder verschwindet, ist unwahrscheinlich. Für die klassischen Medien ist dies eine der größten Herausforderungen der Digitalisierung. Wie können Medien ihre Glaubwürdigkeit retten oder zurückgewinnen? Wie können sie dem Publikum deutlich machen, dass es sich lohnt ihnen zu vertrauen?
Nun ist es sicherlich etwas zu kurz gegriffen zu behaupten, hier artikuliere sich eine Gegenöffentlichkeit zum ersten Mal. Die Geschichte der Gegenöffentlichkeiten ist bereits im analogen Zeitalter relativ lang (Beispiel: „Kein Blut für Öl“ im ersten Golfkrieg), wird noch erheblich umfangreicher im Digitalzeitalter – von Online-Petitionen, über Plagiats-Jäger bis hin zu den Phänomenen des Arabischen Frühlings. Trotzdem bleibt die Beschreibung des Zusammenhangs von Ukraine-Krise und erzählenden Gegenöffentlichkeiten interessant zu beobachten, die Winterbauer hier anreißt.
Die Plasberg-Sendung
Ich habe die Sendung mit dem Titel „Wladimir Putin – der gefährlichste Mann Europas? gestern gesehen – und war von Beginn an überrascht. Es saßen in der dort vorwiegend journalistische „Erzähler“: die russische Journalistin Anna Rose, der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen, der Moskauer Focus-Korrespondent Boris Reitschuster, der Journalist und Filmemacher Hubert Seipel. Zwischen ihnen der Kanzleramtschef Peter Altmeier, der nicht zuletzt Aufseher der politischen Erzähler ist: des Bundesnachrichtendienstes.
Zwischen diesen Erzählern entspann sich nun: der Kampf der Erzählungen, der auf eigenartige Weise an Akira Kurosawas Rashomon erinnerte, eines Filmes, der „den selben“ Vorfall viermal erzählen lässt, von vier unterschiedlichen Standpunkten aus und daraus vier unterschiedliche Erzählungen von etwas gewinnt, von dem es ein „dasselbe“ nicht mehr gibt.
Bei Plasberg traten sehr gezielt eingeladene journalistische Erzähler an, erzählten – und kamen zu sehr unterschiedlichen Erzählungen dessen, wovon es sicher am Ende, vermutlich aber von Anfang an kein „dasselbe“gibt. Waren hier und da Elemente auch strittig, so waren sich doch die Erzählungen im Wesentlichen darin ähnlich, dass sie viele gemeinsame Elemente verwendeten, sie aber unterschiedlich zusammenfügten, zu unterschiedlichen Erzählungen mit unterschiedlichen daraus folgenden Konsequenzen. Das im Einzelnen zu rekonstruieren, würde hier zu weit führen, zumal die einzelnen unterschiedlichen Erzählungen weitgehend schon vorher einigermaßen bekannt waren.
Interessanter ist die Beobachtung, dass eben Erzähler hier gegeneinander antreten, Journalisten, die in ihren unterschiedlichen Erzählungen (mehr oder weniger prägnant) deutlich werden lassen, dass ihre Erzählungen bestimmte Gefüge von Zusammenhängen sind, die miteinander inkompatibel sind. Es ist nicht nur ein Streit darüber, was jetzt passieren sollte. Es ist vor allem der Streit, was „Sache“ ist – und was daraus zu folgern ist. Die Konsequenz: Die Ukraine-Krise lässt in großer Deutlichkeit die Krise der Erzählungen sichtbar werden, die sich verstärkt durch die Parallelität alter und neuer Kommunikationsmittel ergibt. Es wird sichtbar, dass das alte Leit-Erzählmedium, die Media Divina Fernsehen ihre Erzählkraft verloren hat.
Denn es streiten nicht nur in der Media Divina die Erzähler, sondern – wie Stefan Winterbauer berichtet – in zahlreichen kleinen Debatten verheddern sich auch in der digitalen und sozialen Kommunikationswelt die Erzählungen ineinander, fallen in Glaubensgrüppchen auseinander und bauen sich ihre eigenen Erzählungen. Winterbauer attestiert eine „Glaubwürdigkeitskrise“ der Massenmedien, die er für relevanter hält als den Medienwandel und die Auflagenkrise der Zeitungen. Der zentrale Bestandteil dieser Diagnose allerdings ist „Glauben“ und „Glaubwürdigkeit“, weil er an etwas rührt, was Massenmedien als Erzähler immer voraussetzen, worauf sie aufbauen müssen, ohne es doch selbst herstellen zu können. Das macht diesen Sachverhalt in der hiesigen Blogposting-Reihe „Drama und Ideologie“ interessant, weil sich Anschlussfähigkeit an die Trivialitäten des Aristoteles, von denen in den letzten Postings dieser Reihe (hier, hier, hier und hier) die Rede, herstellen lässt.
Aristoteles und der politische Groschenroman
Die Erzählung ist, im Anschluss an die letzten Beiträge zu Aristoteles hier im Blog, eine Zusammenfügung von Praktiken (σύνθεσιν τῶν πραγμάτων), die Aristoteles mit dem missverständlichen Wort μῦθος bezeichnet, die von einem Gefügemacher (μυθοποιός) erstellt wird, indem Praktiken zu einem Zusammenhang gefügt werden. Dieses Gefüge hat sich dem Kriterium des Möglichen und Notwendigen (τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον) zu fügen. Elemente werden zu einem Zusammenhang zusammengesetzt, neue Elemente müssen, damit eine Erzählung weiter erzählt werden kann, sich in dieses Gefüge einfügen lassen.
2010 hatte Frank Schirrmacher in der FAZ (hier) einen schönen Artikel, der beschrieb „wie man ein verdammt guter Politiker wird“ – und dabei behauptete: „Politische Glaubwürdigkeit im neuen Medienzeitalter ist keine moralische, sondern eine literarische Kategorie.“
In kritischer Absicht, anlässlich » Read the rest of this entry «