November 3rd, 2010 § § permalink
Bereits in der Vergangenheit hatte ich hier im Blog gelegentlich zum Thema häusliche Gewalt gegen Männer gebloggt (hier) — mit dem Fokus, dass die Reduktion der Debatte auf Gewalt gegen Frauen ein altes Rollenklische in neuem Mantel durchschleift: Frauen werden in der öffentlichen Typologie in eine Opferrolle eingeschrieben, die das Klischee des “schwachen Geschlechts” im Hintergrund aufrecht erhält. Zudem weisen sowohl internationale als auch nationale Studien deutlich darauf hin, dass Gewalt von beiden Geschlechtern ausgeht, sich Gewaltformen unterscheiden, dass aber an der grundsätzlichen Möglichkeit zur Gewaltausübung keine Geschlechterdifferenz festzumachen oder zu erkennen ist. Dass stereotypierte Deutungsmuster à la “sie hat sich sicher nur nicht anders zu wehren gewusst” als Interpretationsrahmen auf Frauen angewandt werden, während in der männlichen Gewalt der Unterdrücker-Interpretationsrahmen sofort zur Anwendung kommt, ist zu befragen und nicht als Tabu aus der Betrachtung herauszuhalten. Ernsthaft betriebene Emanzipation heißt, auch die Möglichkeit von Frauen in der Täter- und Männern in der Opferrolle zumindest hypothetisch in Erwägung zu ziehen.
Heute abend wird in der Kulturzeit dazu berichtet werden. Hier ein Programmhinweis mit Ergebnissen einer aktuellen Studie des baden-württembergischen Innenministeriums.
Als kleinen Selbsttest empfehle ich dieses lustige Werbevideo — sehen und » Read the rest of this entry «
September 29th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Die Wiedergeburt des Theaters aus dem Geist der Dramaturgie. Eine Art Programm. § permalink
Es gab Zeiten, da neben den Erzählern, neben Kirchenmalern und Predigern oder auch neben Romanciers die Theaterautoren die Aufgabe hatten Geschichte(n) zu erzählen. Sie machten den Menschen ein bewegtes Bild vom Verhältnis zwischen Menschen, Menschen und Göttern in der Antike, zwischen Menschen, Menschen und Gott, zwischen Regierten, Regierten und Regierenden, zwischen Armen, Armen und Reichen, zwischen Männern und Frauen, Bürgern und Adligen, Arbeitern und Arbeitgebern, Linken und Rechten. Tatsächlich ist dabei das Medium selbst die Hauptbotschaft gewesen. Nicht nur das Medium der Guckkastenbühne allein, des Theatrons, der Volksbühne. Sondern vor allem die Dramaturgie. Die Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen“, wie es im Titel eines hübschen Buches von Theodor Lessing heißt. Die perpetuierte Dramaturgie, die das Gesamtgeflecht in herrschende Konflikte sortierte, in eine Abfolge aristotelischer Provenienz klemmte, Wendungen mit motivierten oder erklärten Veränderungen (aus dem Charakter der Handelnden, aus den eingreifenden Göttern, aus der revolutionären Willensbildung) hinterlegten. Der Mensch, der aus einer unübersichtlichen antiken, mittelalterlichen, barocken, aufklärerischen, modernen Welt ins Theater ging, kam heraus und wusste: es gibt einen sinnnhaften, verstehbaren Zusammenhang. Er war aufgefordert, in seiner Welt diesen Zusammenhang herzustellen. Der kategorische Imperativ an den Theaterzuschauer lautete: Wurschtele nicht einfach rum um glaube nicht, die anderen wurschtelten nur. Vielmehr mach Geschichte, habe Motive, habe Ziele. Verstehe das Drama, in dem du dich befindest. Wurschtele nicht – handele! Und lerne bei uns im, Theater, was „handeln“ ist.
Das ent-eignete Theater
Diese Zeiten sind vorbei. Längst haben Fernsehen und politische Presse diese Erzählformen ursurpiert (hier im Blog wurde gelegentlich schon auf den Hang zum Shakespeare’schen in den aktuellen Medienlandschaft hingewiesen). Längst entkommt niemand mehr der Dauerbeschallung mit Dramaturgie. Auf dieses Vorverständnis sich stützend können Staaten und Regierzungen dramaturgisch eingreifen und genau die regulatorischen Eingriffe punktgenau ansetzen, die ihren Steuerungsabsichten entspricht. Weil die Dramaturgie längst in allen Köpfen und Lebensverhältnissen angelangt ist. Theater befindet sich in etwa in der Situation der Malerei im Angesicht der Fotografie. Überflüssig. Ortlos.
Der undramat(urg)ische Überdruss malt nach Zahlen
Daraus haben sich zwei Grundtendenzen ergeben: Aus einem kaum artikulierten Grundgefühl des Überdrusses, dem Büchnerschen Leonce sehr vergleichbar, haben Theater und Regien sich damit abgefunden, einfach das Alte zu perpetuieren. Warum neue Geschichten spielen, wenn sie doch sich im Wesentlichen nicht von den Alten nicht unterscheiden? Und das Wesentliche ist eben die Dramaturgie. Man nehme also die Vorzeichnung von Rembrandts Nachwache und zeige Kreativität in der Ausgestaltung. Der eine stellt die Nachtwachächter nackt dar. Der eine als geschlagene Truppe. Der nächste als Gruppe Transsexueller, von Frauen, von Arabern, Afrikanern, Eskimos. Oder von allen zusammen. Der nächste als Gruppe von Roter Armee und Wehrmacht. Wozu » Read the rest of this entry «
Juli 23rd, 2010 § § permalink
Ich gestehe, dass sich zum Burka- und Kopftuchverbot beim mir keine instantan klare Meinung einstellt. Das macht den folgenden Artikel vielleicht ein wenig unübersichtlich — jedenfalls lang.
Kusanowsky und weissgarnix schrieben unlängst dazu. Kusanowskys Gedanke, der mir in der Sache tatsächlich (jedenfalls von mir) ungedacht erscheint:
der weibliche Körper bleibt für soziale Beobachtungssysteme skandalfähig. Es ist keine Art von Emanzipation möglich, die daran etwas ändern könnte, weil alle Emanzipationsbemühungen den Skandal der Ungleichwertigkeit der Verteilung von Aufmerksamkeit auf anthropogene Umweltkomplexität notwendig reproduzieren müssen, um die Legitimität der Emnazipation nicht aus den Augen zu verlieren. (hier)
Allerdings kommt er — dabei ganz Beobachter und nicht Richter — am Ende natürlich in die Unentschiedenheit hinsichtlich der Ausgangsfrage (mit leichter Tendenz wohl gegen das Burkaverbot — wenn ichs recht verstehe). Wenn nicht zur Unentscheidbarkeit. Aber die Gleichstellung von Burkaforderern und Burkaverbietern ist bedenkenswert:
Will man behaupten, die Burka bezeichne einen Verhüllungsskandal, der durch Zwang zur Nichtsichtbarkeit entsteht, wird nun sichtbar, dass der Zwang zur Enthüllung ebenfalls ein Skandal ist, weil die so erzeugte » Read the rest of this entry «
Juni 19th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Boltanski/Chiapello: Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft § permalink
Vor Wochen hatte ich hier und hier die Behauptung gepostet, das Grundproblem der Wirtschaft(swissenschaft) bestehe in der ursprünglichen Trennung von Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft. Das dünkte mich neu — ich hätte vielleicht aber einfach Boltanski/Chiapello Der neue Geist des Kapitalismus S.48f. (amazon) zitieren sollen:
Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften hat — ob es sich nun um die klassische oder marxistische Wirtschaftslehre handelt — zu einer Vorstellung der Welt beigetragen, die gegenüber dem traditionellen » Read the rest of this entry «
März 10th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Kraft mit Arbeit § permalink
Nur der Putzigkeit halber und weils so schön zu den Moraldebatten passt und den spätrömischen Leistungsanreiztheoremen, die da behaupten, Arbeit sei letztlich so überflüssig und unangenehm, dass man Menschen, die keine haben, den Unterhalt weit genug herunterkürzen müsse, das der knurrende Magen sie zurück an die Stechuhr treibt: Die Einlassungen der Frau Kraft aus NRW zum Thema zeigen, wie wundervoll würdeschaffend doch Arbeit ist:
Sie will Langzeitarbeitslose für gemeinnützige Arbeit etwa in Altenheimen oder Sportvereinen einsetzen, um ihnen ein Gefühl der Würde wiederzugeben. {…}
“Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertel unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen regulären Job finden”, begründete Kraft ihre Initiative. Diese Menschen bräuchten ein neues Angebot, das ihnen eine “würdevolle Perspektive” gebe. (spOn)
Hm. Würde also. Perspektive. Du bekommst keine Arbei mehr, aber wir eröffnen eine Art Arbeits-Disneyland, das dir die Simulation von Arbeit verschafft. Und » Read the rest of this entry «
Februar 9th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Die Richter und die Lenker § permalink
Angesicht des gerade ergangenen Urteils betreffend Hartz IV-Sätze stellt sich mir die Frage: warum vertraue ich den Verfassungsrichtern in diesem Lande mehr als der Regierung? Warum sind Richter in der Lage, offensichtliche Fehlentscheidungen, die nicht alleine auf mangelnder Rechtskonformität beruhen, sondern darüberhinaus eine gesellschaftliche Dimension enthalten, zu korrigieren — und warum ist die Politik nicht in der Lage, diese Fehlentscheidungen zu unterlassen? Warum ist Politi nicht in der Lage, eigene und beständige Definitionen einer zu sichernden Grundexistenz zu entwerfen, die vor den Karlsruher Richtern ebenso wie bei der Bevölkerung Bestand haben?
Warum laufen Politiker durchs Land und rülpsen Parolen von Arbeitspflicht und niederwertiger Arbeit heraus, zu denen Menschen möglichst noch unter abgesenkten Hartz IV-Sätzen genötigt werden sollten? Und warum hat das Verfassungsgericht keinen Strafsenat, in dem eklatante und vorsätzliche Vergehen gegen die Verfassung geahndet werden? Warum schützt der Verfassungsschutz die Verfassung vor den Bürgern — und nicht auch vor denen, die die Macht haben, die Verfassung tatsächlich zu beschädigen, zu verändern oder dagegen zu verstoßen?
Januar 21st, 2010 § Kommentare deaktiviert für Das Post-Drama der Arbeitslosigkeit § permalink
Als Nachtrag oder Beitrag zum Thema “niederwertige Arbeit” und Verschiebung der Debatte hin auf die fundamentale politische Dimension im Folgenden ein Auszug aus “Das Politische zurück ins Theater” (Vortrag im Frankfurter Autorentheater 03.Mai 2009). Zur Frage inwiefern Arbeitslosigkeit den politischen Herrschern und (sich-sebst-ver-)Göttern die Stellung in einer Weise rauben könnte, wie es für den christlichen Gott durch das Erdbeben von Lissabon 1755 geschah:
[…] Die politischen Nicht-Götter, die keine Könige sind, stehen kurz und haarscharf vor der Dämmerung. Der Ring der Macht droht ihnen vollends abhanden zu kommen, weil die Geschichte und Erzählung, die sie trägt, schwindet und zwar rapide. Es ist die Erzählung der Arbeit. Ein Glaube, der Anstrengung fordert und dafür gerechte Entlohnung verspricht. Eine diesseitige Religion mit diesseitigem, materiellem Lohn. Oder eben sein Entzug bei Versündigung gegen die Forderungen dieses Glaubens.
Die traditionelle Erzählung von der Arbeit lautet: Iss als Kind brav dein Tellerchen leer, sitz gerade, kippel nicht, pass in der Schule fein auf, sei nicht aufsässig oder frech, lerne und sei strebsam, widersprich den Lehrern nicht, dann wirst du einen » Read the rest of this entry «
Januar 20th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Die Arbeit der Deutschen — eine Spekulation § permalink
Vielleicht gibt es zu dem Thema bereits Studien, Abhandlungen, Aufsätze, Dissertationen. Vielleicht suche ich danach, wenn Zeit dafür ist. Allemal aber zulässig ist, die zu verifizierende oder zu korrigierende These zu formulieren. Ein Antwortversuch auf die Frage: Warum hat in Deutschland und für die Deutschen die Arbeit einen so eminent moralischen, existenziellen und angstbesetzten Wert?
Das kann keine Angst vor dem biologischen Tod sein. Arbeitslosigkeit in Deutschland bedroht nicht die zoé, das “nackte Leben” von dem Agamben in Homo Sacer handelt. Anders als in Zeiten vor dem zweiten Weltkrieg steht dieses nackte Leben nicht auf dem Spiel. Versicherungen und Sozialfürsorge schützen vor dem Absturz. Verglichen mit den Lebensbedingungen arbeitender Menschen in anderen Teilen der Welt oder auch mit Lebensbedingungen der Geschichte ist der Zustand der Arbeitslosigkeit in Deutschland sicherlich nicht lebensbedrohend. Trotzdem ist die “Angst vor Arbeitslosigkeit” die vermutlich verbreitetste und die Deutschen am ehesten einigende Massenemotion. In diesem Lande lassen sich viele oder alle Vieles oder Alles gefallen — nicht aber die Bedrohung ihrer Arbeitsplätze. Mit dem Argument der Schaffung von Arbeitsplätzen lässt sich nahezu jedes politische Anliegen durchsetzen. Und was oder wer Arbeitsplätze zu bedrohen droht — ist chancenlos.
Natürlich lässt sich auf eine lange historische Tradition referenzieren, die in Deutschland der Wert der Arbeit hoch gehalten und noch gesteigert hat. Seien es religiöse Hintergründe (über die Verquickung von Protestantismus und Arbeit hat Max Weber Einschlägiges gesagt), der philosophische Idealismus der » Read the rest of this entry «