Es gab Zeiten, da neben den Erzählern, neben Kirchenmalern und Predigern oder auch neben Romanciers die Theaterautoren die Aufgabe hatten Geschichte(n) zu erzählen. Sie machten den Menschen ein bewegtes Bild vom Verhältnis zwischen Menschen, Menschen und Göttern in der Antike, zwischen Menschen, Menschen und Gott, zwischen Regierten, Regierten und Regierenden, zwischen Armen, Armen und Reichen, zwischen Männern und Frauen, Bürgern und Adligen, Arbeitern und Arbeitgebern, Linken und Rechten. Tatsächlich ist dabei das Medium selbst die Hauptbotschaft gewesen. Nicht nur das Medium der Guckkastenbühne allein, des Theatrons, der Volksbühne. Sondern vor allem die Dramaturgie. Die Geschichte als „Sinngebung des Sinnlosen“, wie es im Titel eines hübschen Buches von Theodor Lessing heißt. Die perpetuierte Dramaturgie, die das Gesamtgeflecht in herrschende Konflikte sortierte, in eine Abfolge aristotelischer Provenienz klemmte, Wendungen mit motivierten oder erklärten Veränderungen (aus dem Charakter der Handelnden, aus den eingreifenden Göttern, aus der revolutionären Willensbildung) hinterlegten. Der Mensch, der aus einer unübersichtlichen antiken, mittelalterlichen, barocken, aufklärerischen, modernen Welt ins Theater ging, kam heraus und wusste: es gibt einen sinnnhaften, verstehbaren Zusammenhang. Er war aufgefordert, in seiner Welt diesen Zusammenhang herzustellen. Der kategorische Imperativ an den Theaterzuschauer lautete: Wurschtele nicht einfach rum um glaube nicht, die anderen wurschtelten nur. Vielmehr mach Geschichte, habe Motive, habe Ziele. Verstehe das Drama, in dem du dich befindest. Wurschtele nicht – handele! Und lerne bei uns im, Theater, was „handeln“ ist.
Das ent-eignete Theater
Diese Zeiten sind vorbei. Längst haben Fernsehen und politische Presse diese Erzählformen ursurpiert (hier im Blog wurde gelegentlich schon auf den Hang zum Shakespeare’schen in den aktuellen Medienlandschaft hingewiesen). Längst entkommt niemand mehr der Dauerbeschallung mit Dramaturgie. Auf dieses Vorverständnis sich stützend können Staaten und Regierzungen dramaturgisch eingreifen und genau die regulatorischen Eingriffe punktgenau ansetzen, die ihren Steuerungsabsichten entspricht. Weil die Dramaturgie längst in allen Köpfen und Lebensverhältnissen angelangt ist. Theater befindet sich in etwa in der Situation der Malerei im Angesicht der Fotografie. Überflüssig. Ortlos.
Der undramat(urg)ische Überdruss malt nach Zahlen
Daraus haben sich zwei Grundtendenzen ergeben: Aus einem kaum artikulierten Grundgefühl des Überdrusses, dem Büchnerschen Leonce sehr vergleichbar, haben Theater und Regien sich damit abgefunden, einfach das Alte zu perpetuieren. Warum neue Geschichten spielen, wenn sie doch sich im Wesentlichen nicht von den Alten nicht unterscheiden? Und das Wesentliche ist eben die Dramaturgie. Man nehme also die Vorzeichnung von Rembrandts Nachwache und zeige Kreativität in der Ausgestaltung. Der eine stellt die Nachtwachächter nackt dar. Der eine als geschlagene Truppe. Der nächste als Gruppe Transsexueller, von Frauen, von Arabern, Afrikanern, Eskimos. Oder von allen zusammen. Der nächste als Gruppe von Roter Armee und Wehrmacht. Wozu neue Bilder malen, wenn man in dieser Konstellation arbeiten kann? Wenn neue Konstellationen der Alten nichts hinzuzufügen hätten? Malen nach Zahlen habe ichs hier im Blog genannt. Und der künstlerische Mut besteht darin, irgendwann das Bild auch auf den Kopf zu stellen. Stücke herauszuschneiden, zu einem zerstückelten Mosaik neu anzuordnen, in sich selbst zu multiplizieren und so weiter. Und da all diese Alterationen reluzent auf das (übrigens allen Vertretern der Werktreue sei gesagt: unwiederbringlich verlorene) „Urginal“ zurückstrahlen, kann kein neuer Text die Breite, Tiefe und Kraft der Nachtwache mehr erreichen. Der Bühnenverein fasst hier die Autorenstatistik des letzten Jahres zusammen: „Die vorderen Plätze der meistgespielten Autoren sind wieder von den großen Dramatikern wie Shakespeare, Goethe und Schiller, Brecht, Molière oder Ibsen besetzt.“
Begnadete Körper, Traum, Vergangenheit, Ruine vor Textlandschaft
Die andere Grundtendenz – gelegentlich als „postdramatisches Theater“ bezeichnet – versucht das Fragment und das Undramaturgische dem allmächtigen Dramaturgischen entgegen zu schleudern. Man versucht, sich dem Dramaturgischen zu entziehen – indem man sich dem Text als ganzer Text entzieht. Oftmals artet das einfach nur in eine idyllisch-naive Anhimmlung der Präsenz, des Körperlichen oder der Anthropophanie aus. Gelegentlich in die Produktion sogenannter Textflächen. Oder in die – enorm interessante, weil vermutlich naivste Umgangsweise – Zerstückelung von Roma- oder Filmvorlagen. Letztere ist gerade deswegen als naiv zu bezeichnen, weil sie versucht, gleichzeitig „postdramatisch“ (also eigentlich postdramaturgisch) zu sein – sich dabei aber auf hochdramat(urg)ische Werke bezieht. Eine Art romantische Melancholie, die das alte Gebäude als Ruine zitiert. Dabei aber den Traum von der Ganzheit träumt und der Zuseherschaft den Mund darauf wässrig macht, das „dramatische Urginal“ neu zu konsumieren. Eine Trailer- oder Teaserfunktion für Film- oder Romanklassiker. Thomas Manns „Buddenbrooks“ taucht in der letztjährigen Autorenhitparade des Bühnenvereins immerhin auf Platz der meistinszenierten „Stücke“ auf – die Anführungszeichen übrigens vom Bühnenverein – und wird vom DBV als allgemeiner Trend zum „Wandel des Repertoires zu vielen Roman- und Filmbearbeitungen“ bewertet. Die Trauer, dass die Tür zum Paradies hinter dem Kleist‘schen Marionettenspieler ins Schloss gefallen ist, wird mit fragmentarischen Reminiszenzen an die „gute alte Zeit“ gefüllt, da das dramaturgische Erzählen noch möglich war.
What’s left? Nothing
Von Autoren wird demnach nur eines erwartet: Nichts. Und das möglichst in einfach spielbarer, unaufwändiger Form. Um es mit einem Ausschnitt aus dem großartigen taz-Artikel der Stückemarktwirtschaftswettbewerbsmarktveranstaltungsjurorin Marlene Streeruwitz (hier der Artikel) des Theatertreffens zu sagen:
Ein solcher Text darf keine Ansprüche an die Bühne stellen. Das soll dem Regisseur überlassen bleiben. Und. Es soll billig produziert werden können. Ein solcher Text darf nicht zu viele handelnde Personen aufweisen. Denn. Es soll billig produziert werden können. Ein solcher Text soll nicht kritisch sein. Schließlich. Es sollen Zuschauer hineingehen. Ein solcher Text darf Fragen aufwerfen. Es darf nach dem Sinn des Lebens gefragt werden. Sehr allgemein. Es darf nach dem Glück gefragt werden. Durchaus sehnsüchtig. Und. Ein solcher Text soll die Gegenwart anprangern. Nicht politisch, sondern anekdotisch karikierend.
E s kann auch gar nicht anders sein, zieht man die Bilanz aus dem vorher gesagten. Presse und Fernsehen haben dem Theater den dramaturgischen Alleinvertretungsanspruch entrissen und scheißen das Publikum mit klassischer Dramaturgie auf allen Kanälen rund um die Uhr zu. Hochprofessionelle Maschinerien arbeiten mit bestens ausgebildeten Redakteuren, Dramaturgen, Drehbuchschreibern an einem rommelfeuer von Dramaturgie, das weder qualitativ von Theatern getoppt werden kann – noch gar überhaupt toppenswert wäre. Ein vernünftiger Jungautor wechselt möglichst schnell zu einer Daily Soap, einer Nachrichtensendung oder in eine Spielfilmredaktion. Theater ziehen daraus die Konsequenz, das sie für das Nichts, das sie haben wollten möglichst auch nichts zu bezahlen brauchen. Und das nichts wert ist, was nichts kostet … Man verwechselt außerdem die Abkehr vom traditionellen Dramaturgischen mit der Abkehr vorm Theatertext.
Und nu? Brecht mit alten Dramaturgien.
Wozu also überhaupt anfangen, für Theater zu schreiben? Wo liegt die Herausforderung – die Aufgabe? Die Antwort liegt auf der Hand: in der Dramaturgie. Denn dass die Gegenwart sich traditionellen Dramaturgie nicht mehr fügt, ist ein Allgemeinplatz. Sich aber der Mühe zu unterziehen, eine Postdramaturgie oder eine andere Dramaturgie zu entwickeln oder zu erschaffen, die in der Lage wäre, auf die Gegenwart zu reagieren, ohne sie platt abzubilden, das wäre das Ziel. Brecht hat dran – wie bereits hier im Blog zitiert und jetzt zu wiederholen – gearbeitet:
Die alte Form des Dramas ermöglicht es nicht, die Welt so darzustellen, wie wir sie heute sehen.
Der Satz gilt heute mehr denn je. Wenn die dramaturgische Geschichtenerzählerei von anderen Medien usurpiert wurde und dennoch die Weise, wie wir die Welt heute sehen, nicht mehr trifft – dann ist die Arbeit an der (Post-)dramaturgie das oberste Gebt der Stunde.
Übrigens: Wenn Theater damit nicht anfangen, sehe ich nicht, wie und warum sie überleben könnten. Ob sie es dann sollten … werden dann die Kämmerer beantworten.