Dezember 30th, 2010 § § permalink
In der Frankfurter Rundschau ist heute hier ein spannender Artikel zu lesen, der sich mit einer neuartigen Form des Banking in Afrika- speziell Kenia – beschäftigt. Kern der Sache: Vodafone und Safaricom haben dort ein offenbar enorm erfolgreiches handybasiertes Mikro-Payment System namens M‑Pesa (Wikipedia) („mobiles Bargeld“) installiert. Nutzer brauchen kein Bankkonto, sondern verwalten direkt über ihr Handy ein Guthabenkonto. Ein- und Auszahlungen werden an tausenden kioskartiger Niederlassungen vorgenommen. Nutzer können sich einfach per SMS Geldbeträge überweisen. Nun ist das Mobile Wallet vielleicht keine technische Neuigkeit mehr – spannend ist allerdings, dass hier in Afrika damit die (vielerorts nicht vorhandene) Bankeninfrastruktur (Filialen, Geldautomaten, Kreditkarten) umgangen wird, ein neuartiges Finanzsystem entsteht, das im Wesentlichen auf Klein- und Kleinstbeträgen gründet.
SpON schreibt: „Vier Milliarden Menschen weltweit, so sagen die Statistiken, haben zwar ein Handy, aber kein Bankkonto.“ Das System ist auf nahezu jedem Mobiltelefon nutzbar. Der Erfolg: Seit Einführung des Dienstes 2007 hat M‑Presa stolze 13,5 Millionen Kunden gewonnen, laut SpON (hier) werden monatlich 200 Millionen Euro überwiesen, Firmen zahlen bereits Löhne über dieses System . Ähnliche Angebote weitet Vodafone laut Wikipedia auch auf Afghanistan und Tansania aus.
Spannend wird diese Geschichte, weil einerseits ein intelligenter technischer Dienst angeboten wird, der den Menschen in Afrika offenbar ein enormes Bedürfnis befriedigt, ohne ein Almosen zu sein. Daneben aber – und das führt auf die Überschrift dieses Postings – installiert sich damit in Afrika eine Form voin Digitalökonomie, der nicht nur der Unseren weit voraus ist, sondern scheinbar mühelos Entwicklungsschritte überspringt und in einem Dienst mündet, der hierzulande noch Zukunftsmusik für die meisten Menschen sein dürfte. » Read the rest of this entry «
Dezember 28th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Postfundamentalismus oder Neofundamentalismus? Die Debatte über „das Politische“ § permalink
In seinem lesenswerten Buch über „Die politische Differenz“ stellt sich Oliver Marchart auf den Standpunkt, die aktuelle Debatte über „das Politische“ (im Unterschied zur konkreten Politik) sei unter dem Epochenbegriff des Postfundamentalismus zu subsummieren. Der Grund: Die verschiedenen Denker seien sich in ihrem Verzicht auf metaphysische Letztbegründung (wenn auch nicht auf verschiedene Begründungen) einig, bzw. in der Anerkennung einer kontingenten (wenn auch nicht abwesenden) Basis, auf der jedes politische System aufruhe, ohne doch dadurch sicheren Baugrund zu haben.
Auf den ersten Blick scheint das sinnvoll – auf den zweiten nicht mehr. Im Gegenteil zeigt sich bei genauerer Betrachtung der sogenannte Postfundalismus als ein Neofundamentalis, eine Bewegung also, die sich insbesondere auf die Fundamente konzentriert. Postfundamentalismus wäre eine Form der alltagsweltlichen Pragmatik, einer vielleicht Habermasianischen Reaktion auf die Abwesenheit der Fundamente, die dennoch versucht, durch vernünftige Diskurse oder was auch immer, eine begründbare, aber nicht auf einheitlichem Grund stehende, Politik zu denken und zu ermöglichen. Tatsächlich ist das Bemühen um „das Politische“ ein Fundamentalismus, der allerdings – und das ist vermutlich die begriffliche Unschärfe, die Marchart unterläuft – kein Dogmatismus ist. Es werden keine einheitlichen Dogmen aufgestellt und im Sinne letzter und einziger Wahrheiten zu Grunde gelegt. Vielmehr ist diese Form des Fundamentalismus an Fundamenten interessiert, die es nicht müde wird, weiter zu dekonstruieren, um sich im Anschluss daran abzuarbeiten, dass kein Fundament da ist – trotzdem ein politisches Gebäude entstehen soll.
Nun lässt sich ganz genüsslich zurückfragen: Warum eigentlich schlagt ihr euch die Fundamente weg, wenn ihr dann vielhundertseitig darüber jammert, dass sie weg sind? Es ist ja nicht etwa so, dass das Verschwinden der Dogmen eine andere oder bessere Politik ermöglichte. Im Gegenteil: Die Theorie haut sich selbst die Beine weg, mit denen sie der Tagespolitik in den Arsch treten sollte. Die Dekonstruktion als Selbstzweck und als perpetuiertes Terminations-Programm » Read the rest of this entry «
Dezember 26th, 2010 § § permalink
Nur um das mal klar gesagt zu haben. Es gibt nur zwei Arten von “Wir”. Das “Wir”, das ich nicht bin, sondern das mir als “die anderen, die ‘wir’ sind” gegenübersteht. Und das “Wir”, das meint: Ich und die anderen. Das heißt: Ich gehöre nie zur Gesellschaft, stehe der Gesellschaft des “Wir” immer nur gegenüber. Die scheinbar exklusive Position soziologischer Theoroi und Beobachter ist tatsächlich die Normalposition. Weil die Gesellschaft das Wir ist, das nur von außen betrachtet werden kann. Und zwar von allen. Die Tatsache, dass » Read the rest of this entry «
Dezember 25th, 2010 § § permalink
Dass überhaupt ein Großteil der Theoretiker des Politischen, die den Konflikt, den Kampf, den Anbtagonismus zur Grundlage der Gesellschaftsbildung machen, Gesellschaft mit Fußballstadien verwechseln? Nicht, dass ich Laclau/Mouffe direkt gelesen hätte. Aber das hier klingt verdammt nach Fußball:
Der Dreischritt aus der Bildung von Äquivalenzketten, der Zweiteilung des sozialen Raums und der Repräsentation ist insofern ein vereinfachtes Modell, als er von einer Arena ausgeht, in der das hegemoniale Ringen zwischen zwei sich konfrontierenden Blöcken besteht. (…) […Es] gibt in komplexen modernen Demokratien eine Unzahl von Arenen, in denen sich hegemoniale Projekte und Kämpfe konstituieren können. […] In jeder dieser multiplen Arenen können sich dominante antagonistische Gruppen etablieren oder eine Vielzahl konkurrierender hegemonialer Projekte, von denen jedes seine eigene Grenze zu ziehen sucht.(Martin Nonhoff über Laclau/Mouffe in Bröckling/Feustel (Hg): Das politische Denken, 44f)
Ich könnt mich gerade schlapplachen — aber das ist die komplizierteste » Read the rest of this entry «
Dezember 24th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Die Wahl als symbolisch notwendiger Akt § permalink
Als Inbegriff der Demokatie wird verstanden, die Wahl zu haben. Das totalitäre System hingegen zeigt sich als ein System ohne Wahl – leicht verschoben gesagt: Im totalitären System heißt, eine Wahl durchzuführen, sich also das Recht auf Wahl zu greifen, das System als Ganzes abzuwählen, das die Trennung zwischen Staat und „Partei“ (selbst wenn es solche Parteien nicht oder faktisch nicht geben mag) nicht vollzogen hat. Im Totalitarismus gibt es keine wählbare Alternative, als den totalitären Staat abzuwählen.
Hingegen offeriert die Demokratie immer die Wahl. Es wäre vorschnell zu unterstellen, es handele sich um eine echte Wahl zwischen verschiedenen Modi der Gestaltung von Staat, Gesellschaft, Zukunft, Finanzen und Gesetzen. Zunächst ist es einfach die Wahl zwischen x1 ‚x2, …xn. Darin aber liegt vor allem die Wahl zwischen „so wie jetzt“ und „irgendwie anders“.
In einem Artikel in Das politische Denken schreibt Oliver Marchart über Claude Leforts Theorie des Politischen:
Das mag trivial klingen, aber die demokratische Letztbedeutung des allgemeinen Wahlrechts besteht für Lefort nicht darin, Repräsentanten des Volks zu entsenden; die wäre gleichsam nur die eine Seite der Instituierung allgemeiner und freier Wahlen. Seine wirkliche Bedeutung » Read the rest of this entry «
Dezember 23rd, 2010 § § permalink
Durch Kusanowski bin ich auf einen interessanten Post bei Lost and Found gestoßen: “Netz statt Gesellschaft?”. Spannend daran finde ich, dass der Autor Heinz Wittenbrink nicht der Vereinfachung aufsitzt, dass “Gesellschaft” etwa durch “Netz” oder “Netzgesellschaft” abgelöst würde. Er weist darauf hin, dass es Gesellschaft nicht einfach gibt, sondern dass sie produziert ist. Zu erweitern wäre: sie wird durch ein Heraustreten aus dem Gegebenen durch einen theoros oder Beobachter beobachtet, um mit einem möglichst anschaulichen Schema gefasst zu werden, das im nächsten Schritt zum beherrschenden Paradigma all jener werden kann, die da mehr oder minder zusammen sind. Die Szene des Agrippa, von der ich hier geschrieben hatte, vollzieht sich erneut.
Es ist also nicht mehr der Körper mit seinen Organen, der als Leitbild aus der unschafren Beobachtung generiert wird, nicht der Bienenkorb, nicht das System der Kybernetik. Sondern es ist das Netz das die Frage stellt: Wie ist der leere » Read the rest of this entry «
Dezember 18th, 2010 § § permalink
In einem klugen und sehr lesenswerten Blogpost konstatiert Thomas Maier den „Tod des Politischen“. Dem ist entschieden entgegen zu treten. Zunächst, weil das Politische durch solche Todeserklärungen zu sterben droht. Die scheinbare Konstatierung des Todes ist tatsächlich die performative Sterbehilfe. Zweitens weil seine Diagnose für einen längeren Zeitraum der letzten Jahre vielleicht zutreffen mag – mit der Einschränkung, das das Politische allerdings nur hirntot war. Die politischen Organe hingegen – um in der alten Metaphorik des corpus politicum zu bleiben – laufen derweil munter hirnlos Amok.
Zum Dritten ist der Diagnose entgegen zu treten, weil das Politische direkt von Carl Schmitt und seiner hinlänglich bekannten Bestimmung des Begriffs de Politischen als Differenz von Freund/Feind herleitet, die ergänzt wird einerseits durch den dem Ausnahmezustand gebietenden Souverän, andererseits (wie Agamben gezeigt hat) durch sein Gegenstück, den Homo Sacer.
Jenseits von Freund und Feind
Viel ist zu Schmitt geschrieben worden, wenig davon habe ich gelesen – weil die Freund-Feind-Unterscheidung im Ansatz unzureichend ist. Vielmehr ist die Freund-Feind-Unterscheidung der Entstehung des Politischen nachgeordnet. Die These: Nachdem sich der Raum des Politischen öffnete, sorgt die Freund-Feind-Differenz für die Möglichkeit, diesen Raum zu begrenzen. Es wäre ein Raum des Politischen denkbar, der ohne Freund/Feind und ohne Grenzen auskommt. Der allerdings zugleich Gefahr liefe, Freund und Feind im Inneren zu haben. Wenn der Feind nicht der Fremde ist, sondern der Freund sich zum Feind entfremdet oder besser: entfreundet.
Um Freund/Feind bestimmen zu können, muss bereits eine Bewusstseinsbildung stattgefunden haben, die den Raum des Politischen eröffnet. Es ist der Raum nach dem Riss und dem Zwiespalt, den das Theater » Read the rest of this entry «