Als Inbegriff der Demokatie wird verstanden, die Wahl zu haben. Das totalitäre System hingegen zeigt sich als ein System ohne Wahl – leicht verschoben gesagt: Im totalitären System heißt, eine Wahl durchzuführen, sich also das Recht auf Wahl zu greifen, das System als Ganzes abzuwählen, das die Trennung zwischen Staat und „Partei“ (selbst wenn es solche Parteien nicht oder faktisch nicht geben mag) nicht vollzogen hat. Im Totalitarismus gibt es keine wählbare Alternative, als den totalitären Staat abzuwählen.
Hingegen offeriert die Demokratie immer die Wahl. Es wäre vorschnell zu unterstellen, es handele sich um eine echte Wahl zwischen verschiedenen Modi der Gestaltung von Staat, Gesellschaft, Zukunft, Finanzen und Gesetzen. Zunächst ist es einfach die Wahl zwischen x1 ‚x2, …xn. Darin aber liegt vor allem die Wahl zwischen „so wie jetzt“ und „irgendwie anders“.
In einem Artikel in Das politische Denken schreibt Oliver Marchart über Claude Leforts Theorie des Politischen:
Das mag trivial klingen, aber die demokratische Letztbedeutung des allgemeinen Wahlrechts besteht für Lefort nicht darin, Repräsentanten des Volks zu entsenden; die wäre gleichsam nur die eine Seite der Instituierung allgemeiner und freier Wahlen. Seine wirkliche Bedeutung besteht darin, den politischen Wettbewerb mit Regeln zu versehen, die eine periodische Entleerung des Ortes der Macht garantieren, womit dessen ‚Leere‘ immer neu in Erinnerung gerufen wird; und zweitens, den sozialen Konflikt (den Interessen- wie den Klassenkonflikt auf die symbolische Bühne der Politik zu heben.(27f)
Das totalitäre System hat diese Flexibilität nicht, einfach die Machthaber auszutauschen. Trivial – aber es führt einerseits dazu, dass es sich von Anderswollenden bedroht fühlt – andererseits dazu, dass es tatsächlich bedroht ist. Dabei steht gar nicht zur Frage, ob das totalitäre Handeln nicht vielleicht zufälligerweise den Willen der Bevölkerung trifft. Den kann es nicht geben – folgt man Lefort (wozu ich neige), weil der Konflikt (NICHT Schmitts Freund-Feind-Schema) jeder Gesellschaft notwendigerweise inhärent ist und Politik und Gesellschaftsordnung eben vor allem auch daran zu messen sind, wie die vorhandenen Konflikte operationell und institutionell so geformt werden, dass die Gesellschaft als Ganzes dadurch nicht bedroht ist, gleichzeitig der Konflikt ausgetragen oder gelöst werden kann statt nur unterdrückt zu werden.
Führt man nun noch Leforts Axiom der grundlegenden Kontingenz des Gesellschaftlichen und des Lebens in der Gesellschaft an, so zeigt sich automatisch, dass das System, das die Flexibilität hat, auf überraschende Änderungen durch Machtwechsel, sprich: durch Neubesetzung der trotzdem leeren Stelle der Macht, zu reagieren, dem Totaliären überlegen ist. Nicht selten sind es große Naturereignisse (für die das Regime nichts kann), die Regimes zum Sturz bringen – einfach weil der konfliktuelle Wunsch nach „irgendwie anders“ nicht durch Wahl operationell und institutionell aufgenommen und zu einer Neubesetzung der leeren Stelle der Macht durch x2 statt x1 genutzt werden kann.
Es bedarf keines trivialen Alltagszynismus über „die Politiker“ (der übrigens unangebracht wäre), um zu der Konsequenz zu kommen, dass Wahlen nicht in erster Linie auf die Zukunft gerichtet sind und eine Entscheidung darüber herbeiführen, was denn in nächster Zeit geschehen müsse. Wer daran glaubt, müsste Politiker wegen gebrochener Wahlversprechen anklagbar machen. Schließlich wäre dann das Wahlversprechen eine Leistungszusage nach Beauftragung, die ebenso überprüfbar sein müsste, wie das Werk eines beauftragen Anstreichers oder Schusters. Nein – die Wahl hat mit einem kontingenten Gesamt der Gegenwart zu tun. Der Wahlausgang entscheidet nur zwischen „so wie jetzt“ und „irgendwie anders“. Dabei sind beide Entscheidungen keine inhaltlich-politischen. Um es mit dem Marquis de Sade aus Peter Weiss‘ Marat/Sade zu sagen:
Das ist für sie die Revolution
Sie haben Zahnschmerzen
und sollten sich den Zahn ziehen lassen
Die Suppe ist ihnen angebrannt
Aufgeregt fordern sie eine bessere Suppe
Der einen ist ihr Mann zu kurz
Sie will einen längeren haben
Einen drücken die Schuh
Beim Nachbarn sieht er bequemere
Einem Poeten fallen keine Verse ein
Verzweifelt sucht er nach neuen Gedanken
Ein Fischer taucht seit Stunden die Angel ins Wasser
Warum beißt kein Fisch an
So kommen sie zur Revolution
Und glauben die Revolution gebe ihnen alles
Einen Fisch
Einen Schuh
Ein Gedicht
Einen neuen Mann
Eine neue Frau
Und sie stürmen alle Befestigungen
Und dann stehn sie da
Und alles ist wies früher war
Die Suppe angebrannt
Die Verse verpfuscht
Der Partner im Bett
Stinkend und verbraucht
Und unser ganzes Heldentum
Das uns hinab in die Kloaken trieb
Können wir uns an den Hut stecken
Wenn wir noch einen haben
Nunja, sie haben anders gewählt. Aber – ob nach der Wahl die Zukunft anderes bringt, ist damit nicht gesagt. Den Wahlausgang bestimmt die Gegenwart. Die überwiegende Unzufriedenheit mit dem Bestehenden lässt entweder die Opposition wählen (in der Demokratie) oder Opposition werden (im Totalitarismus). Allerdings fordert die Demokratie, eine hinreichende Oppositionalität innerhalb des Systems. Sonst erschöpft sich die Wahl nicht mit dem Kreuzchen hinter einer anderen Partei. Die DDR ist ab Scheinwahlen zugrunde gegangen. Gibt es eigentlich noch die BRD?