Als Nachtrag oder Beitrag zum Thema “niederwertige Arbeit” und Verschiebung der Debatte hin auf die fundamentale politische Dimension im Folgenden ein Auszug aus “Das Politische zurück ins Theater” (Vortrag im Frankfurter Autorentheater 03.Mai 2009). Zur Frage inwiefern Arbeitslosigkeit den politischen Herrschern und (sich-sebst-ver-)Göttern die Stellung in einer Weise rauben könnte, wie es für den christlichen Gott durch das Erdbeben von Lissabon 1755 geschah:
[…] Die politischen Nicht-Götter, die keine Könige sind, stehen kurz und haarscharf vor der Dämmerung. Der Ring der Macht droht ihnen vollends abhanden zu kommen, weil die Geschichte und Erzählung, die sie trägt, schwindet und zwar rapide. Es ist die Erzählung der Arbeit. Ein Glaube, der Anstrengung fordert und dafür gerechte Entlohnung verspricht. Eine diesseitige Religion mit diesseitigem, materiellem Lohn. Oder eben sein Entzug bei Versündigung gegen die Forderungen dieses Glaubens.
Die traditionelle Erzählung von der Arbeit lautet: Iss als Kind brav dein Tellerchen leer, sitz gerade, kippel nicht, pass in der Schule fein auf, sei nicht aufsässig oder frech, lerne und sei strebsam, widersprich den Lehrern nicht, dann wirst du einen guten Abschluss machen können und eine Lehrstelle bekommen. Vergiss aber nicht, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Dann findest du gute Arbeit, sei zuverlässig und pünktlich, sei nicht widerborstig, dann wirst du aufsteigen, dein Gehalt wird wachsen. Du wirst eine Frau oder einen Mann finden, eine Familie gründen und Kinder haben, kannst dir ein Haus kaufen, in den Urlaub fliegen und einen goldenen Lebensabend in deinem wohlverrenteten Ruhestand genießen bis du dann dereinst in die Grube fährst. So klingt der Glaube der Gegenwart. Dafür haben die politischen Nicht-Götter selber zu arbeiten und alles zu tun, dass sich diese Verheißung erfüllt. Sie müssen für die Folgerichtigkeit dieser Biographie garantieren. Politik hatte oder hat eine Garantenstellung nicht nur für das Überleben der Bürger sondern auch für ihre Lebensläufe.
Die Geschichte des Arbeitslosen ist eine ganz andere – nicht minder konsequente. Da geht es um Faulheit, Unwilligkeit, Dummheit, Aufsässigkeit, Unangepasstheit, lange Haare, ungeschnittene Bärte, ungeputzte Fingernägel, schulisches Versagen, schlechte Beherrschung der deutschen Sprache. So kommt es zu Arbeitslosigkeit. Welche Geschichte aber erlebten die Bochumer Nokianer? Oder die Opelaner? Waren sie nicht immer brav und fleißig? Und landen dennoch in der Arbeitslosigkeit? Die Geschichte droht auszusetzen, abzubrechen. Die Geschichte vom Glauben an die Arbeit. Ein Retter muss her. Oder wenigstens ein verruchter, gieriger Übeltäter in Detroit, eine fatale Ursache. Denn was wäre wenn Arbeitslosigkeit, dieses höllenhafte Verhängnis im Diesseits, dass die Menschen mehr fürchten als alle Krankheiten und Bedrohungen zusammen, keine Folge einer bestimmten Geschichte wäre, sondern – ein Ereignis, das jeden treffen kann? Unabhängig von seiner Biographie.
Warum starrt die ganze Nation auf Opel wie das Kaninchen auf die Warteschlange? Was fehlt der Welt, wenn es keine Opel mehr gäbe? Nichts. Außer etwa 70.000 Arbeitsplätzen. Und was unterscheidet diese 70.000 bedrohten Arbeitsplätze von den etwa 1.000.000 weiterer Arbeitsplätze, die in diesem Jahr verloren gehen? Die Öffentlichkeit des Geschehens. Der Kampf der Regierung um die Arbeitsplätze bei Opel ist ein rein symbolischer. Weil mit jeder Niederlage der Kategorien Maxhütte, AEG, Holzmann, Nokia die tragende Geschichte unserer Gegenwart, nämlich die Arbeitsgeschichte, ein Stück an Kraft, Glaubwürdigkeit und Allgemeinverbindlichkeit verliert. Glaubt doch niemand, dass diese Bundesregierung, die die Hartz IV Sätze gar nicht tief genug schrauben kann, den Opelanern, die nach diesen Sätzen in einigen Monaten zu leben haben, auch nur eine Träne nachweinte. Wenn es brave Menschen sind, die jetzt dem Hartz IV anheimfielen – warum dann nicht die Regelsätze so anheben, wie es braven Menschen angemessen ist? Sehr wohl aber weinte die Regierung dem Verlust der Geschichte vom fleißigen Menschen, die mit Arbeit, Wohlstand und Glück zu tun hat, nach. Ein arbeitsloses Bochum. Ein arbeitsloses Rüsselsheim – das wäre die Katastrophe, die da hieße: Fleiß, Wohlverhalten, Bescheidenheit führen am Ende zu gar nichts. Berechtigen zu gar nichts. Arbeit zu haben ist nicht Verdienst des Arbeitenden. Arbeitslosigkeit nicht Schuld dessen, der keine Arbeit hat. Ende der Geschichte von der Arbeit – Ende der Nicht-Götter?
[…]
NACHTRAG: Ich weiß nicht mehr, wie die Zahlen rund um Opel zustande kamen — sollten sie inkorrekt sein, bitte ich um Nachsicht. Die Änderung der Zahlen ändert aber nichts an der Sache, um die es hier geht. Den ganzen Vortrag gibt es hier als Download oder hier zu kaufen.