Oktober 30th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Die zwei Ausgänge aus dem Theater: theorêtikos und praktikos § permalink
In Fortführung der letzten Überlegungen, die den Riss in der theatralen Beobachtung ansiedelten, die traszendenz-immanenz oder das Perfomat-Dokument als oszillierende Beschreibung des Beobachters (vor oder auf der Bühne), kann man sagen, dass es nach der Vorstellung zwei Ausgänge aus dem Theatron gibt:
Erster Ausgang: theoria
Der theoros im theatron mag die Tür wählen, über der “bios theoretikos” steht und beispielsweise eine grandiose Kritik der reinen theoretischen Vernunft schreiben, die zwar selbst voraussetzt, theoretisch vernünftig zu denken und sich selbst, das heißt: das eigene Denken, beim Denken theoretisch erfassen zu können, aber dabei daran scheitern, die pratikê in den Blick zu bekommen und dahher nur eine jämmmerliche und schäbige “Kritik der praktischen Vernunft” vorlegen. Der kategorische Impoerativ der praktischen Vernunft hätte umformulier auch als Kritik der reinen theoretischen Vernunft funktionieren können: Denke nur in denjenigen Kategorien, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeine Gesetze würden. Blabla.
Zweiter Ausgang: praxis
Natürlich kann der theoros aber auch entscheiden, durch die Tür des bios praktikos zu gehen. Dann könnte er etwa nachahmen, was er gesehen hat, könnte sich hineinbegeben, in die Geflechte, deren eines er eben beschaut hat. Dann aber wird er die theoria aufgeben müssen, weil er im Geflecht kein Beobachter mehr ist, sondern Akteur. Er wird tun, was er tun — aber er wird nicht wissen, was er tut. Er kann natürlich ein Buch lesen, das der theoretikos geschrieben hat — wird aber, selbst mit diesem Wissen, nicht vor der Bühne sitzen können, auf der er selbst agiert (und die übrigens auch keine Bühne ist). Das bios praktikos kennt kein know that, sondern nur ein know how (in Anlehnung an Gilbert Ryle’s “The » Read the rest of this entry «
Oktober 30th, 2010 § § permalink
Mir fiel gerade ein, dass sich der zuletzt hier beschriebene Riss in der Wahrnehmung, den das Bewußtsein, es mit Theater zu tun zu haben, mit sich bringt, vielleicht zweierlei Verwandtschaften aufweist:
Nimmt man Kusanowskis Unterscheidung von Performat und Dokument (hier und in zahlreichen weiteren Postings) auf, müsste man textgebundenes Theater (also das Theater der europäischen Tradition) als ein komplexes Spiel zwischen diesen beiden betrachten. Denn das geschriebene und dokumentförmige “Werk-Stück “wird in der Performance scheinbar zum Performat. Es liegt aber — für den um Theater wissenden Beobachter — ein Text zugrunde. Diese Textgrundlage sorgt — neben anderem — dafür, dass der Beobachter die Aufführung als nicht mehr bloßes Performat, sondern als textrelativ und damit zumindest dokumentarisch betrachtet. “Dokumentarisch” heißt damit allerdings eben nicht — wie es die mimesis-Theorie annimmt — dass ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit hier nachgeahmt wird, also Theater ein Dokument aus dem geschehenen Performat erzeugt. Sondern dass es durch Bezug auf den — von Werktreue-Anwälten ja gerne lautstark postulierten — Bezug auf das Text-Dokument einen dokumentarischen Touch erhält. Es ist allerdings jederzeit weniger dokumentarisch als das Textdokument (oder die als Rückzugsposition gebuchte “Intention des Autors, die sich im Text dokumentiert), sondern durch den Übergang in die Performance wird es notwendigerweise ein performiertes Dokument. Zugleich ist es für denjenigen, der vom Text nichts weiß, dem aber gesagt wird, dass es sich um Theater handelt, mehr Dokument als das vor Beginn und nach Ende der Vorstelluung Erlebte, da es sich gewissen Kategorien fügr, die die Dramaturgie einführt. Oder der mythos.
Erste Verwandtschaft:
Dem barocken Glauben, hinter der wechselhaften Natur liege ein göttlich geschriebenes Buch (und sei es in mathematischer Sprache geschrieben), lässt die Begeisterung für das Theater vielleicht verständlich werden, weil Theater hier als Modell fungiert, das sich in der Welt-Theorie wiederfindet, sofern man » Read the rest of this entry «
Oktober 29th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Theoros und Beobachter: Die gemeinsame Geschichte von Theater und Bewusstsein § permalink
Die Frage ist so alt wie die Philosophie selbst: Wie kommt der Mensch aus seiner Hingegebenheit an das sinnlich Vorliegende, das hier und jetzt Wahrnehmbare, heraus und hin zu etwas, das jenseits des Sinnenflusses liegt. Wie reißt er sich aus der bloßen Immanenz heraus, die ein bloßes Wechselspiel von Eindrücken bietet, die Gegenstände (von denen zu reden schon einen Schritt aus der Immanenz hinaus bedeutet) mal in dieser, mal in jener Form, mal ferner und kleiner, mal näher und größer erscheinen lässt? Die metaphysische Tradition bietet den Ausbruch in die Transzendenz an. Etwa durch die Wiedererinnerung an die ewigen Ideen, die im Totenreich geschaut wurden. Oder aber durch die Begriffe, die vor allem sprachlich vorliegen, und den See, der morgens in tiefem Blau, abends im tiefen rot, nachts in tiefem Schwarz liegt, als denselben See mit unterschiedlichen akzidenziellen Zuständen beschreiben lassen. Sei die wechselhafte und täuschungsverwobene wahrnehmbare Welt nur eine Teilhabe an den jenseitigen Ideen, seien diese Ideen Begriffe und bloß nominal existent und verbürgen durch die Selbigkeit des Begriffes die Identität.
Allen gemeinsam ist, dass derjenige, der sich aus der Immanenz lösen will, sich abwenden muss vom sinnlich Vorliegenden. In Platons Höhlengleichnis schön beschrieben durch die Hinwendung zur Sonne oder gar durch den Schritt ins Totenreich im Mythos von ER. Im nominalen Zusammenhang durch die Abwendung vom Sinnlichen hin zum Denken, zum Sprechen oder noch besser: gleich zum Buch. Der aristotelische Denker ist der Schreiber und Leser, der über Tiere und Pflanzen spricht, die gerade nicht da sind. Es ist die Abwendung vom Vorliegenden, der Übergang in die Vernunft, die dann in der Rückwendung zum Vorliegenden zum verstehenden Betrachter wird.
Raus aus dem Hier und Jetzt – durch die Schrift
Der Losriss vom Vorliegenden richtet sich daher immer auf ein Abwesendes, das intendiert werden kann. Das also abwesend ist – zugleich aber anwesend in gewisser Hinsicht. Etwa in der Vorstellung, der Erinnerung, im Referenten der Schrift. Es ist kein Zufall, dass Hegel bereits ganz zu Anfang der Phänomenologie ein Blatt Papier auftreten lässt, wenn es gilt, aus der sinnlichen Gewissheit auszubrechen.
Auf die Frage: Was ist das Itzt? antworten wir also zum Beispiel: Das Itzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir itzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist. {…} Es wird derselbe Fall sein mit der andern Form des Dieses, mit dem Hier. Das Hier ist zum Beispiel der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden, und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwindet nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes und so fort, und gleichgültig, Haus, Baum zu sein. (Quelle)
Aus der sinnlichen Gewissheit, die sich auf das Hier und das Dieses auszubrechen, heißt, die Sprache, die „hier“ und „dieses“ sagen kann, nicht nur zu verstehen als konstante Aussage über das „hier“ und das „dieses“, sondern durch das Aufschreiben noch die Identität genau dieses „Hier“ und dieses „dieses“ sicher zu stellen.
Das zunächst an Nacht und Baum verfallene vorbewusste Ich, das noch nicht einmal Ich sagen könnte, weil es im Fluss der Wahrnehmungen selbst zu einem Fließenden und keinem konstanten Ich-Fluchtpunkt werden kann, muss eine Identität des Dieses und Hier lernen. Und es lernt sie, indem es sich aus der Zeit und dem Ort losreißt und an ein Abwesendes erinnert. Es lernt, dass es viele Jetzt und viele Dieses gibt – indem es sich selbst Briefe schreibt. Den Brief von Jetzt zu » Read the rest of this entry «
Oktober 28th, 2010 § § permalink
Der Artikel, da sehr lang, hier als PDF.
Inspiriert von Thomas Strobls von mir mit Spaß und Interesse gelesenen Schulden-Buch, möchte ich meinen Gedanken, dass eventuell die traditionelle (nicht nur die klassische) ökonomische Lehre auf den Müllhaufen der Geschichte gehören könnte, weiter denken. Im Innersten von Strobls Ausführungen sitzt nicht nur – wie zuletzt bemerkt – der Gedanke der Produktionsindustrie, sondern auch der Gedanke des Eigentums an Sachen. Der Industrielle erwirbt Maschinen, Anlagen, Gebäude als illiquides Kapital, um damit höhere Gewinne zu erwirtschaften. Diese Gewinnaussicht rechtfertig den Einsatz liquider Geldmittel auch unter Eibeziehung von Schulden. Liegt der erwartete Gewinn bzw. das Umsatzplus höher als die Zinssumme, ist die Verschuldung gerechtfertigt. Es sei, so Strobl, eine Anleihe aus der Zukunft, mit der heute schon Umsatzgewinne erwirtschaftet werden können. Und nur durch solche Anleihen kann Wachstum entstehen.
Vom Ingenieur-Entrepreneur zum Manager
Bereits im letzten Posting hatte ich dem entgegen gesetzt, dass die investierende Produktionswirtschaft zunehmend abgelöst wird durch eine mietende oder leasende Servicewirtschaft – verkörpert in den Tätigkeiten der Nutte und des Managers in dem Film Pretty Woman. Das Produkt des Managers ist nicht das Produkt, das die Firma vertreibt, die er leitet. Sei Ziel sind nicht bessere Produkte. Das Produkt des Managers ist die Bilanz. Er wird an dieser Vorgabe, an diesen Zielen und ihrer Erreichung gemessen. Es sei die etwas platte typologische Abstraktion erlaubt: Der Unternehmer alter Provenienz ist eher der Ingenieur, der Edison, Benz, Krupp oder Ferdinand Porsche. Seine Geschäftsidee ist ein bestimmtes Produkt, für dessen Verbesserung er sich stark macht. Der Manager hingegen konzentriert sich darauf, was die beste Bilanz bringt. Wenn er dafür das Produkt verbessern muss – tut ers. Wenn er das Produkt verschlechtern muss – tut er auch das. Sein Leitstern ist ein anderer als der des Ingenieurs. Strobl formuliert ähnlich:
Die Identifikation der Manager mit ihren Unternehmen änderte sich: Sie hafteten jetzt nicht mehr als ‚ehrbare Kaufleute‘ mit eigenem Namen und Vermögen, sondern verdienten ihr Geld schlicht als ‚leitende Angestellt‘. […] Das Renditedenken trat in den Vordergrund, einzelne Unternehmen und ganze Gesellschaften wurden ihm unterworfen. Einmal mehr erwies sich der Kapitalismus als äußerst innovationsfähig: Schumpeters legendäre Entrepreneurs zogen den Blaumann aus und verließen ihre Fabrikhallen, um in Nadelstreifen die holzgetäfelten Büros des Geldadels zu erobern. (63f)
Zu Marx‘ Zeiten war der Kapitalist derjenig, der die Produktionsmittel besaß. Maschinen, Anlagen, Strukturen, Rohstoffe usw. Heute ist der Kapitalist der Bankmanager. Er besitzt gar nichts. Er ist beauftragt, ihm zur Verfügung gestellte Kapitalwerte so einzusetzen, dass am Ende die Bilanz besser wird als im Vorjahr.
Dasselbe gilt natürlich für Managervorstände in produzierenden oder dienstleistenden Unternehmen. Hier lautet der Auftrag, den „Besitzern“ (Aktionären) per Bilanz höhere Aktienkurse und Dividenden zu produzieren. Er besitzt die Produktionsmittel nicht. Er verwaltet d.h. managt das Kapital. Er ist gemietet wie das Haus, in dem die Bank sitzt.
Das System der Mietarbeiter
Der Manager war – Boltanski/Chiapello beschreiben diesen Übergang, der sich bereits seit den Nachkriegsjahren mit wachsender Geschwindigkeit vollzieht – allerdings nur der erste Schritt. Die Entwicklung vom Mitarbeiter zum Mietarbeiter ist die konsequente Weiterentwicklung. War dem Ingenieur die Stammbelegschaft ein wichtiger Besitz (auch wenn er sie vermutlich immer häufiger als lohngierigen Moloch erlebte), betrachtet der Manager die Belegschaft als laufenden Kostenfaktor. Im Rahmen der Bilanz ist die Lohnquote einfach ein Posten unter vielen anderen. Und wie eine Großinvestition die Bilanz eines Jahres hübsch verhageln kann (weil sie ja schuldenfinanziert ein Loch in die liquiden Mittel reißt) und entsprechend die Miete oder Leasing für ihn sinnvoller ist, dass hier laufende Leasingkosten gegen laufende (Mehr)Einnahmen gerechnet werden können, ist auch die Stammbelegschaft als zumeist unflexibler Kostenblock eine Belastung, die durch sogenannte Flexibilisierung, d.h. den Übergang von der Stammbelegschaft zur Leiharbeit (jenseits der unabdingbaren Kernbelegschaft), in eine Kosten-Ertrags-Rechnung überführt werden kann. Die gesamte Flexibilisierungs- und Leiharbeitsdebatte, die der tatsächlichen Leiharbeiterquote voraus läuft, deutet klar in diese Richtung- Egal ob es sich um den produzierenden Sektor oder die Dienstleistungsbranche handelt: Der Mietarbeiter liegt im Trend. Und die ebenfalls von Boltanski/Chiapello luzide beschriebe Wandlung hin zur projektbasierten Netzwerkökonomie wird diesen Trend in gewaltiger Geschwindigkeit realisieren.
Im Mietverhältnis tritt eine dritte Komponente des Besitzes in den Vordergrund: das vollgültige, aber befristete Nutzungsrecht. In einer vernetzten Welt muss man dieser und nur dieser Komponente seine ganze Aufmerksamkeit widmen. Anstatt sich als Eigentümer von seinem Eigentum » Read the rest of this entry «
Oktober 23rd, 2010 § § permalink
Könnte es sein, dass der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- und weiter zur Wissensgesellschaft die gesamte Tradition der Ökonomie auf den Müllhaufen der Geistesgeschichte katapultiert? Der Gedanke kam mir bei der Lektüre der ersten Seiten des Buchs (Update 2015: Bog inzwischen offline; Link zur WaybackMachine))von Thomas Strobl. Nicht etwa, weil das Buch nicht überzeugend argumentieren würde, dass Schulden kein Makel sind. Sondern weil das Buch überhaupt die Schuldenthematik (überzeugend) mit der Wachstumsthematik intim verknüpft. Das Argument, dass Schulden im Sinne einer Anleihe auf die Zukunft nicht nur höheren Wohlstand in der Gegenwart sondern auch Wachstum (um die Schulden plus Profit abzutragen) erzeugt, ist zutiefst industriell gedacht. Es setzt voraus, dass die Verschuldung in eine Investition mündet, also gewisse Anschaffungen, die nicht erst getätigt werden, wenn sie erwirtschaftet wurden, sondern erwirtschaftet werden, nachdem sie angeschafft sind. Und dabei einen höheren Ertrag und Profit abwerfen, als Tilgung und Zins betragen. Das macht für eine auf Maschinen, Anlagen, Werksgebäude, Produktionsniederlassungen usw. hochgradig Sinn. Für alle Wirtschaftszweige, deren Produktion im Wesentlichen mit Investitionsgütern bewerkstelligt wird. Strobl schreibt:
Wer Gewinn machen will, der muss zunächst investieren. Ware und Produktionsanlagen müssen angeschafft, Arbeitslöhne müssen vorfinanziert werden. Das Unternehmen bedarf außerdem eines Standorts, der gekauft oder gemietet werden muss – denn geschenkt wird einem in der Wirtschaft bekanntlich nichts. Für all das ist Kapital erforderlich. Und das muss von irgendwoher kommen: In Form eigener Mittel, die man sich als Eigenkapital quasi selber vorstreckt oder von Gleichgesinnten besorgt. Oder durch Aufnahme von Schulden. (129f)
So produktionsorientiert, so warenorientiert – so weit so richtig. Der laufende Rekurs in der vorherigen Kapiteln auf den Tausch von Eiern gegen Kartoffeln oder unterschiedlicher Fußballbildchen bleibt in derselben Bilderwelt.
Ökonomie ohne Schulden
Aber wie sieht das in einer Dienstleistungsgesellschaft aus? Wie sieht das also in einer Ökonomie aus, die im Wesentlichen nur den Mitarbeiter als Kostenfaktor zum Einsatz bringt? Verglichen zur Industriegesellschaft sind die „Investitionen“ in der Dienstleistungsgesellschaft relativ gering. Sie können zudem durch Miete » Read the rest of this entry «
Oktober 22nd, 2010 § Kommentare deaktiviert für Von der Würde zum Tauschwert (Marx bei Strobl) § permalink
Grad angefangen, Thomas Strobls Buch “Ohne Schulden läuft nichts” zu lesen. Startet fulminant launig und gut lesbar. Und veranlasst mich, unmittelbar ein Marx-Zitat bei ihm abzuschreiben, das ideal als Motto vor Sich Gesellschaft leisten hätte stehen können:
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‘bare’ Zahlung. Sie hat den heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. (Marx/Engels, Kommunistisches Manifest 44; bei Strobl 24f.)
Überrascht bin ich allerdings von der wehmütigen Reminiszenz auf den Feudalismus. Mal schaun, was Strobl sonst noch so bereithält.
Oktober 21st, 2010 § § permalink
Die Grunddiagnosen und Ziele der Vertreter des BGE teile ich weitgehend. Die Tatsache, dass die auch hier im Blog bereits öfter beschriebende Produktiovitätsexplosion durch die Digitalisierung die menschliche Industriearbeit an ein Ende zu führen tendiert, kann nicht durch Diffamierung Arbeitsloser, Erhöhung des Drucks, Subventionierung teilweise oder komplett sinnloser Tätigkeiten gelöst werden. Die jahrtausendelang als irrelae Utopie geltende Vison eines Wohlstands mit wenig oder ganz ohne Arbeit wird zu einem möglichen Szenario, das durch Hartz IV und Ausbeutung von Drittweltstaaten ins Gegenteil verkehrt wird.
Staaten haben unter dieser Prämisse vordringlich dafür zu sorgen, dass der weltweite oder nationale Reichtum auch denen ein Auskommen ermöglicht, die keine Möglichkeit produktiver Arbeit finden. Die Frage lautet: wie. Beim Lesen auf der Seite des Netzwerks Grundeinkommen, bin ich erneut über eine (auch bei Werner bzw. Werner/Goehler en passant zu findende) Stelle gestolpert, die auf den Punkt bringt, warum ich an das vorliegende Konzept nicht glaube:
Das Grundeinkommen darf maximal so hoch angesetzt werden, dass nicht durch den Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsbereitschaft seine eigene Finanzierung in Gefahr gerät. (Hier)
Das Problem — flankiert von weiteren, demnächst hier darzustellenden Fragezeichen — besteht darin, dass das BGE einen bestimmten Wohlstand (etwa als BIP) voraussetzt, der unter den abgelehnten Organisationsbedingungen entstanden ist, die (zurecht) kritisiert und abgelehnt werden. Das BGE insistiert auf seine emanzipatorische Dimension, weil unangenehme oder ungeliebte Arbeiten vom ökonomischen Zwang zur Arbeit entkoppelt werden.
Erwerbsarbeit erlaubt außerdem, mehr als „nur“ die Existenz- und Mindestteilhabe abzusichern, nämlich einen zusätzlichen Verdienst. Es bestehen also über das Grundeinkommen hinaus weitere materielle » Read the rest of this entry «
Oktober 20th, 2010 § § permalink
Ganz begeistert feiern Werner/Goehler das Dorf Otjivero in Namibia. Hier habe man, heißt es, das BGE ausprobiert. Lese ich genauer, lautet meine Antwort: mitnichten. Goehler schreibt
Aus dem Dorf bezogen 930 Menschen unterhalb des Rentenalters in dieser Zeit 100 Namibia-Dollar, also knapp zehn Euro: ein Betrag, der nicht ganz existenzsichernd ist, aber mehr als nur schlimmste Not zu lindern.
Ist das das BGE? „Nicht ganz existenzsichernd“? Auf den vielen Seiten vorher klang das anders. Mir scheint das eine Lösung knapp unterhalb der Sozialhilfe oder von Hartz IV zu sein. Mit der Ausnahme der relativ unbürokratischen Auszahlung. Schauen wir uns an, was Werner/Goehler als Konsequenzen beschreiben:
- Das erste Beispiel Cecilia: Nach einer ersten Welle lebensnotwendiger Anschaffungen folgten Anschaffungen von Herd, Mikrowelle, Fernseher und DVD. Es sei ihr von Herzen gegönnt! Aber es handelt sich um eine indirekte Subvention an die Industrien, die die entsprechenden Güter herstellen. Eine Aufwrack-Prämie sozusagen.
- Hendrisen, das zweite Beispiel, hat einen Lebensmittelladen mit gut genutzter Jukebox aufgemacht. Auch das schön für sie und für die jungen Leute. Das bei ihr ausgegebene Geld dürfte vorwiegend das Pseudo-BGE sein. Das heißt: Indirekte Subvention für sie. Was nicht schlecht ist. Aber was passiert, wenn das BGE weg ist?
- Elmarie ist Pflegemutter geworden, da andere Mütter sich jetzt die Finanzierung einer Pflegemutter leisten können, um selbst auf dem Feld arbeiten zu gehen. Aus dem zurückgelegten Geld hat sie sich Stahltöpfe, Herd, Fernseher und Stromgenerator für den Fernseher gekauft. Und Prepaid-Karten. Auch hier fließt der Gewinn offenbar weitgehend in den Konsum.
Zusammenfassend urteilen Werner/Goehler:
Es ist schwer vorstellbar, wie armselig das Dorf vor zwei Jahren ausgesehen haben muss, als seine Bewohner nur mit dem nackten Überleben beschäftigt waren – alle erwähnen diesen krassen Unterschied. (214)
Klar – es gab keine Herde und Fernseher. Es gab keine Händler, die jetzt aus dem Boden schießen, weil niemand Geld auszugeben hatte. Andere Frage: Können denn die Einwohner von Otjivero als Dorfgemeinschaft das Geld erwirtschaften, das hinterher im Pseudo-BGE verteilt und in » Read the rest of this entry «
Oktober 19th, 2010 § Kommentare deaktiviert für Gedanken zum Bedingungslosen Grundeinkommen: Befreiung oder Turboausbeutung? § permalink
Nach den Überlegungen, wie mit dem ABC einer neuen (digitalökonomisch vorbereiteten) Wirtschaftsordnung einige gravierende gegenwärtige Probleme meines Erachtens gelöst werden könnten, hatte ich mir vorgenommen, mich mit dem BGE nochmal auseinander zu setzen. In loser Folge will ich dazu posten. Heute zu einer Frage, die mir vordringlich erscheint. Ist das BGE die kapitalistisch logische Fortentwicklung der Wirtschaft? Oder handelt es sich um die Gestaltung einer lebenswerteren Kulturgesellschaft? Handfestere ökonomische Fragen zunächst zurückgestellt.
Ein Zitat aus dem neuen Buch von Werner/Goehler: „1000 Euro für jeden – Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen“ (Amazon) dazu:
Eine Kulturgesellschaft definiert sich nicht mehr in erster Linie über Lohnarbeit und die zunehmende Abwesenheit derselben. Sie erkundigt sich nach den Vermögen eines Einzelnen, das mehr umfasst als seine Arbeitskraft und seinen Marktwert. In einer Kulturgesellschaft müsste es darum gehen, aus einer sozialen Arbeit, die Ungerechtigkeiten notdürftig ausgleicht, eine solche zu machen, die Gesellschaft gestaltet: mit Selbstverantwortung, Vertrauen, Hingabe, Eigeninitiative, Experimentieren, Ausprobieren, Verwerfen. (145)
Das klingt relativ eindeutig nach einer Gesellschaftsutopie der Selbstverwirklichung. Bei Boltanski/Chiapello würde man es als die „Künstlerkritik“ an der Gesellschaft sehen. Die Form der Kritik, die jenseits der Sozialkritik im Wesentlichen auf die Verwirklichung der Individualität, Authentizität, der eigenen Kreativität besteht. Bei Werner/Göhler allerdings wird dieser Künstlerkritik eine gesellschaftliche – also letztlich dann soziale – Utopie angehängt. Eine Organisation von Kultur und Gesellschaft zur Kulturgesellschaft, die diese Form der Verwirklichung des künstlerischen Selbst in den Mittelpunkt rückt. Dabei aber schnappt direkt im nächsten Satz die Falle des „neuen Kapitalismus“ von Boltanski/Chiapello zu:
Die Idee der Kulturgesellschaft geht von zwei Annahmen aus: davon, dass die Ressource der Gegenwart in rohstoffarmen Ländern die Kreativität ist, die zu fördern vor allem heftige Fragen an das gegenwärtige Bildungssystem aufwirft. Zweitens setzt sie auf das Vermögend er Einzelnen, darauf, dass alle Menschen durch ihr Tun Wirkung erzielen wollen, dass sie gebraucht, gemeint sein und gestalten wollen. (145f.)
Ist das ein dem Kapitalismus entgegengesetzter kultureller “Humanismus”? Oder haben wir es mit Humankapitalismus zu tun? Ist also die Gesellschaftsutopie keine » Read the rest of this entry «
Oktober 17th, 2010 § § permalink
Im Marketing spricht man seit Jahren bereits vom „Consumer Empowerment“. Nach berühmten Fällen wie dem Kryptonite-Desaster, Dellfire und Dellhell, Jako vs. Trainer Baade, DaWanda vs. Jack Wolfskin, Greenpeace vs. Nestlé begreifen auch die größten Unternehmen, dass Massenmarketing, wie es in der guten alten Zeit der Mad Men betrieben wurde, um noch nicht bestehende Wünsche mit neuen Produkten zu befriedigen, von einer Produktinnovation die 100.Kopie zu vertreiben, an ein Ende gekommen ist. Einerseits schwinden den Massenmedien die Rezipienten, zersplittern sich diese Kanäle intern extrem. Zum Anderen wird heute jeder einigermaßen vernünftige Mensch jenseits einer Bagatellpreisgrenze zunächst im Internet such nach Bewertung und Meinungen, nach günstigeren Preisen, nach besseren Konkurrenzprodukten. Der Kunde ist am längeren Hebel. Und Unternehmen machen die Erfahrung, dass sie im gesamten Stimmgewirr nur eine einzige Stimme haben – der man, wenn sie traditionell werblich ist, nicht einmal mehr zuhört.
Nun könnte man daraus die Konsequenz ziehen, dass diese Unternehmen ihre Kommunikation umstellen müssten. Das ist viel zu kurz gesprungen. Denn diese Unternehmen haben nicht etwa produziert – und dann Kommunikation betrieben. Sondern das gesamte Endkundenproduktionsmodell war massenförmig. Massenproduktion und Massenkommunikation gehören zusammen. Es galt, Produkte zu erfinden, die eine hinreichende Massenkäuferschaft hatten – und entsprechend lohnend in Massenkommunikationsmitteln kommuniziert werden konnten. Dieses Zeitalter ist das Prêt-a-porter Zeitalter. Convenience-Food. Identische Replikation eines initialen Geschmacksmusters. Das Zeitalter der identischen Einkaufs-Fußgängerzonen. Wenn ich als Douglas im Fernsehen werbe, muss ich dafür sorgen, dass alle mich erreichen können. H+M, Karstadt, Kaufhof, C+A. Das Geschäftsmodell war Massenware, durch Massenkommunikationsmittel verkündet, überall anzubieten.
Der Wechsel hin zum empowered consumer heißt: Übergang vom Prêt-a-porter zum Taylor Made. Individualisierung wird ebenso zunehmend wichtiger wie der Service. Es heißt, den Kunden und Konkurrenzkunden zunächst zuzuhören, wie was und worüber netzöffentlich gesprochen wird. Tendenzen, Wünsche und Trends aufzunehmen. Verstehen, was die Menschen sich wünschen um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist ein gänzlich anderer Ansatz als derjenige, der Produkte erfand, sich von der Werbung eine emotionale Begehrensdimension darum herum schnitzen ließ – und durch initiale Produktion des Begehrens dann in zweiter Linie das soeben produzierte Begehren mit dem eigenen Produkt zu verbinden. Ein altes Muster: Erschaffe die Phantasie eines paradiesischen Jenseits und leg zugleich die Beitrittserklärung zur Kirche hin. Dann wird der eine Raucher plötzlich zum Cowboy, der andere ist der clevere Wortwitzliebhaber, der nächste liebt das französische Lebensgefühl der Freiheit. Nichts von alledem hat je mit dem Glimmstängeln zu tun gehabt.
Fazit: Im Zeitalter des empowered consumers reicht es für Unternehmen nicht, ihre Kommunikation anzupassen. Sie müssen zuhören, auf Wünsche, Anregungen, Kritik reagieren (können!) – und ihr Produkt- und Serviceportfolio darauf anpassen können, was die Kunden wollen. Sie sind nicht länger die Jäger sondern die Gejagten.
Vom empowered consumer zum empowered citizen
Nun wird es Zeit, dass auch im Bereich des Politischen die Einsicht ankommt, dass die Massenmediendemokratie an ein Ende gelangt ist. Auch hier gilt es allerdings zu verstehen, dass es nicht eine Demokratie war, die im politischen Bereich arbeitete um dann vor laufenden Kameras ihre Ergebnisse kundzutun. Vielmehr war auch die Massenmediendemokratie in ihrem Innersten » Read the rest of this entry «