Könnte es sein, dass der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- und weiter zur Wissensgesellschaft die gesamte Tradition der Ökonomie auf den Müllhaufen der Geistesgeschichte katapultiert? Der Gedanke kam mir bei der Lektüre der ersten Seiten des Buchs (Update 2015: Bog inzwischen offline; Link zur WaybackMachine))von Thomas Strobl. Nicht etwa, weil das Buch nicht überzeugend argumentieren würde, dass Schulden kein Makel sind. Sondern weil das Buch überhaupt die Schuldenthematik (überzeugend) mit der Wachstumsthematik intim verknüpft. Das Argument, dass Schulden im Sinne einer Anleihe auf die Zukunft nicht nur höheren Wohlstand in der Gegenwart sondern auch Wachstum (um die Schulden plus Profit abzutragen) erzeugt, ist zutiefst industriell gedacht. Es setzt voraus, dass die Verschuldung in eine Investition mündet, also gewisse Anschaffungen, die nicht erst getätigt werden, wenn sie erwirtschaftet wurden, sondern erwirtschaftet werden, nachdem sie angeschafft sind. Und dabei einen höheren Ertrag und Profit abwerfen, als Tilgung und Zins betragen. Das macht für eine auf Maschinen, Anlagen, Werksgebäude, Produktionsniederlassungen usw. hochgradig Sinn. Für alle Wirtschaftszweige, deren Produktion im Wesentlichen mit Investitionsgütern bewerkstelligt wird. Strobl schreibt:
Wer Gewinn machen will, der muss zunächst investieren. Ware und Produktionsanlagen müssen angeschafft, Arbeitslöhne müssen vorfinanziert werden. Das Unternehmen bedarf außerdem eines Standorts, der gekauft oder gemietet werden muss – denn geschenkt wird einem in der Wirtschaft bekanntlich nichts. Für all das ist Kapital erforderlich. Und das muss von irgendwoher kommen: In Form eigener Mittel, die man sich als Eigenkapital quasi selber vorstreckt oder von Gleichgesinnten besorgt. Oder durch Aufnahme von Schulden. (129f)
So produktionsorientiert, so warenorientiert – so weit so richtig. Der laufende Rekurs in der vorherigen Kapiteln auf den Tausch von Eiern gegen Kartoffeln oder unterschiedlicher Fußballbildchen bleibt in derselben Bilderwelt.
Ökonomie ohne Schulden
Aber wie sieht das in einer Dienstleistungsgesellschaft aus? Wie sieht das also in einer Ökonomie aus, die im Wesentlichen nur den Mitarbeiter als Kostenfaktor zum Einsatz bringt? Verglichen zur Industriegesellschaft sind die „Investitionen“ in der Dienstleistungsgesellschaft relativ gering. Sie können zudem durch Miete und Leasing einfach flexibilisiert werden. [Nebenbemerkung: Wie eine Tauschökonomie in der Dienstleistungsgesellschaft aussieht, findet sich übrigens in Sich Gesellschaft leisten].
Vergleichen wir einen Reifenhersteller mit einem Gebäudereinigungsunternehmen. Der Reifenhersteller kann seine Maschinenauslastung steigern oder drosseln. Er wird dennoch die angeschafften Maschinen und Anlagen abzahlen müssen. Bei geringerer Auslastung drücken ihn die Kosten, bei höherer Auslastung wird irgendwann eine Grenze erreicht, jenseits derer wiederum nur durch eine weitere Großinvestition die Produktion gesteigert werden kann. Der Unternehmer wird also kalkulieren, ob er in Zukunft hinreichend Zusatzaufträge sieht, um neue Anlagen anzuschaffen. Hat er die Anschaffung getätigt, wird er sie auf Teufel komm raus (oder Teufel bleib draußen) amortisieren müssen. Er hat sich verschuldet, muss diese Schulden abtragen und zugleich Rendite erwirtschaften.
Der Reinigungsunternehmer beschäftigt Reinigungskräfte. Seine Investitionen sind vernachlässigbar. Reinigungsmittel und Reinigungsgeräte sind laufendes Verbrauchsmaterial. Benötigt er Maschinen, wird er sie zunächst leasen. Sein Firmengebäude wird er (wenn nicht aus steuerlichen Gründen kaufen) vermutlich ebenfalls mieten. Brechen die Aufträge ein, trennt er sich von Mitarbeitern. Kommen zusätzliche Aufträge herein, wird er zunächst seine Mitarbeiter Überstunden machen lassen und durch Druck oder Zusatzgehalt dazu bringen, schneller und mehr zu arbeiten. Dann wird er vielleicht einige Teilzeit- oder freie Mitarbeiter anstellen. Sieht er weiteren Anstieg oder Verstetigung des Bedarfs, stellt er feste Mitarbeiter ein. In seinem System gibt es kaum Veranlassung, sich zu verschulden.
Investition in der Dienstleistungsgesellschaft
Stellt man die Frage, was denn in der Dienstleistungsgesellschaft überhaupt als Investition gelten kann, die in irgendeiner Weise etwas Kredit-Vergleichbares hat, fallen mir zunächst nur zwei Dinge ein: kündigungsgeschützte Arbeitnehmer und Aus-/Fortbildung.
Letzteres ist eine vergleichsweise einfach zu verstehende Investition. Mitarbeiter in Ausbildung zu bezahlen, heißt zumeist, sich darauf einzulassen, einem Mitarbeiter eine Zeit lang mehr Geld zu bezahlen, als er zur gleichen Zeit erwirtschaftet. Nur die Chance, dass dieser Mitarbeiter hinterher einen höheren Arbeitswert erbringen wird, rechtfertigt dieses Vorgehen. Tatsächlich eine Investition. Ebenso die Fortbildung von Mitarbeitern während der Arbeitszeit. Es wird weiter Gehalt bezahlt, wiewohl in der Arbeitszeit keine an Kunden abrechenbare (eher im Gegenteil: es fallen noch Zusatzkosten für Coaches an) Leistungen erbracht werden. Rechtfertigung ist eine aus der Fortbildung erwachsende künftige Steigerung von Leistung, Qualität oder Angebotsbreite.
Vielleicht nicht ganz so klar ersichtlich ist der Zusammenhang zwischen Investition und Kündigungsschutzregelungen. Dabei liegt er auf der Hand: Eine nahezu verzuglose Hire+Fire Möglichkeit sorgt dafür, dass erst im Moment zusätzlichen Bedarfs Mitarbeiter eingestellt werden, die wiederum im Moment schwindenden Bedarfs freigesetzt werden. Der Mitarbeiter ist keine Investition. Anders wird es, wenn Mitarbeiter nicht so schnell freigesetzt werden können. Der Vergleich mit der Maschine schafft Klarheit: Wäre die Produktionsanlage nicht eine feste Installation, sondern könnte von einem Tag zum anderen aufgestellt, am nächsten wieder weggeschafft werden und kostete nichts, gäbe es keinerlei Grund sich zu verschulden. Mehr Reifen? Maschine rein. Weniger Reifen? Maschine raus. Risiko: Null. Verschuldensgrund: Null. Nur weil die Maschine eine gewisse Beharrlichkeit hat, sprich: man sich von ihr nicht zu einem Preis und mit einer Geschwindigkeit trennen kann, die es wirtschaftlich sinnvoll machte, sie in dieser Form rein- und raus zu schleppen, ist die Maschine eine Investition.
Sind nun Mitarbeiter von einem Kündigungsschutz geschützt, tendiert eine Neueinstellung zu einer Investition. Und zwar paradoxerweise nicht zu einer in der Anlaufphase belastenden Investition (wozu sie werden kann, wenn es keine Teilzeitverträge gibt), sondern zu einer in der Spätphase belastenden, aufgeschobenen Investition. Der kündigungsgeschützte Mitarbeiter wird bei seiner Einstellung benötigt und wird dementsprechend relativ schnell seine eigenen Kosten plus Profit erwirtschaften. Zur Investition wird er erst in dem Falle, wo die Nachfrage zurückgeht und er dennoch gehalten werden muss, weil der Kündigungsschutz ihn schützt.
Darüber hinaus sehe ich in einer Dienstleistungsgesellschaft keine bedeutenden Investitions- und Verschuldensgründe. Kann an meiner ökonomischen Blindheit liegen. Wenn aber keine Verschuldensgründe vorliegen – dann haben in einer Dienstleistungsgesellschaft Schulden keinen Wachstumseffekt. Oder eine sich nicht verschuldende Dienstleistungsgesellschaft muss sich vom Wachstum verabschieden. Jedenfalls muss sich die Ökonomie endlich von ihrer Warenfixierung trennen.
Der Arbeitstrieb in der Dienstleistungsgesellschaft
Auch ein Großteil der in der Ökonomie enthaltenen Arbeitstheorien fußt noch auf dem Gedanken des Produktes, in dem der Arbeiter sich verwirklicht. Darin schlummert eine lange Tradition weiter, die sich abwechselnd dahingehen äußerte, dass Arbeit entweder grundsätzlich als „den Niederen“ zugeordnet abzulehnen sei – oder darin die Möglichkeit der „Selbstverwirklichung“ sah. Es macht Sinn, auch diese letztere Dimension in Augenschein zu nehmen. Prägnant formuliert wurde sie von Hegel in der Phänomenologie:
Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben, und zu einem Bleibenden; weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese negative Mitte oder das formierende Tun, ist zugleich die Einzelheit oder das reine Fürsichsein des Bewusstseins, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewusstsein kommt so also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins, als seiner selbst. (126)
Das bildende Bewusstsein erkennt sich im geformten Gegenstand wieder. Es ist die Form, die der Gegenstand erhalten hat. Damit kann es sich verwirklichen, selbstverwirklichen. Die gesamte Debatte um die entfremdete und die selbstverwirklichende Arbeit in der Industriegesellschaft kreist um die Frage, ob arbeitsteiliges Produzieren die Selbstverwirklichung hemmt, ob nicht der Stolz auf der Werk dadurch geschmälert wird, dass nur Einzelteile am Fließband produziert werden. Aber wie sieht das jetzt aus, wo ganz und gar nichts mehr produziert wird?
Der Schmied, der Bildhauer und sicherlich auch noch der Bauer gehören in diese Arbeitswelt. Der Jäger aber? Der nichts produziert, sondern nur für andere auszieht, Rehe zu erlegen und diese zu verkaufen? Dessen Jagdtätigkeit also bloß Dienstleistung ist? Im toten Tier wird er sich nicht wiedererkennen. Weil es keine bleibenden Werke gibt.
Der typische Dienstleister ist dem „glücklichen Menschen“ (Camus) Sisyphos gleich. Unter Produktionsbedingungen ist dieser natürlich ein unablässig gequälter Scheiternder. Nicht aber als Dienstleister: Der Auftrag, den Stein wiederholt den Berg hinauf zu rollen ist ein typischer Dienstleistungsauftrag. Gleich dem Straßenbahnfahrer, der Tag um Tag dieselbe Strecke fährt, ohne je zu einem „Ziel“ oder „Fertig“ zu kommen. Die gelegentlich von der Polizei zu hördende Frustration, man habe es immer wieder mit denselben Leuten zu tun und die Sicherheit steige nicht, ist nur deswegen für sie beklagenswert, weil sie sich für Sicherheitsproduzenten halten. Falsch: Sie sind Dienstleister. Der Taxifahrer stöhnt doch auch nicht: “Jotte, ick wees nisch. Jetz müssen doch aba ma alle am Kudamm sein oder watt?“. Nee, er fährt einfach weiter. Und dann fährt er sie wieder ins Hotel. Als Dienstleister ist Sisyphos hochprofitabel. Vorausgesetzt, er wird entlohnt für die Steinwälzerei.
Dienstleister produzieren nichts Fertiges und kein Werk. Der Dienstleistende hat nichts, worin er sich wiederspiegeln wird. Sisyphos wird sich abends den Rücken halten und sagen: Janz schön watt jeschafft, Kinder. Tatsächlich hat er nichts erschaffen, was am nächsten Tag noch da wäre – ebenso wenig wie der Taxifahrer, die Krankenschwester, die Kindergärtnerin, der Lehrer (lassen wir “Bildung” mal außen vor), der Reinigungsmitarbeiter. Morgen geht’s dasselbe von vorne los. Ein Kreislauf statt linearer Entwicklung.
Das einzige, was als Produkt bleibt, ist: Geld. Das einzige gegenständliche Produkt der Dienstleister ist Geld. Daraus allein können sie – hegelianisch gedacht – ihr Selbstbewusstsein konstituieren. Was dem Dienstleister (inklusive des Händlers) am Monatsende auf dem Konto erscheint, das ist sein Produkt. Das Gehalt. Das erarbeitete Geld ist die einzige Befriedigung des Dienstleisters. Deswegen ist die Dienstleistungsgesellschaft zutiefst eine Geldökonomie (darin folge ich Strobl). Aber eine ohne (notwendige) Schulden. Und eine, die zutiefst mit dem Casinokapitalismus verwandt ist, wenn wir festhalten, dass das Produkt des Dienstleisters vielleicht das Geld ist, in das er Bedürfnisse seiner Mitmenschen direkt verwandelt.
Der Manager und die Nutte
Die Schmonzette „Pretty Woman“ ist nicht einfach eine neue Variante von „Le beau et la pute“. Die Grundkonstellation zeigt zwei Dienstleistungsnutten. Beide haben es eigentlich mit einem produzierenden Gewerbe zu tun, das aber statt zu produzieren lediglich Ertrag abwirft. Der eine zerschlägt Industrieunternehmen, die andere beschläft die Unternehmer. Am Ende bleibt nichts außer Geld. Beide sind Dienstleister wie sie im Buch stehen, beide produzieren nichts. Wiewohl beide mit Organen verdienen, die eigentlich für die Produktion vorgesehen sind.
Für Marx war die Hure der Inbegriff der Dienstleister (hier einige Zitate). Dienstleistung war emanzipierten Menschen undenkbar, zumal sie, wie Marx süffisant zusammenfasst, keinen Mehrwert schafft, sondern ihn eigentlich nur verbraucht. Der Manager bindet sich nicht wie der Unternehmer. Der Unternehmer hingegen klebt am Unternehmen wie die Maschine. Der Manager ist frei wie die Putzkräfte der Reinigungsfirma. Produktkenntnis behindert sein Geschäft eher: So kann der Chef einer Druckmaschinenfabrik Chef der Deutschen Bahn werden. Arbeit für Geld, nicht Arbeit für Produkt. Der Manager investiert nichts. Und er macht keine Schulden.
Der Manager betrachtet die Fabrik, wie der Bauer den Boden: Hier muss das Produkt erwachsen, mit dem hinterher Handel getrieben wird. Für den Bauern wars Korn und Getreide. Für den Manager ist es: Profit. Manager gehen nicht pleite, auch wenn einmal eine Mißernte das Ergebnis verhagelt. Sie gehen weiter zum nächsten Feld, dass sie wiederum bewirtschaften, um zu ernten. Der Manager-Dienstleister produziert Rendite, Profit, Marge. Dafür braucht er keine Schulden. Oder wenn, dann nur geringe.
Der Manager ist die Nutte, die für Geld alles macht. Außer Kinder.
Der gesamte ehemals produzierende Sektor ist längst in ein Dienstleistungsgeflecht eingebunden. Das durchzieht ihn selbst. Der Manager ist kein Unternehmer. Der Manager ist ein Dienstleister, der sich nicht mit den Produkten, sondern lediglich mit der Bilanz identifiziert. Diese Dienstleistungsdenke löst die klassische Produktionsdenke ab: Nicht die Produktion der Druckmaschine steht im Fokus des Managers, sie ist lediglich eine marketingrelevante Nebenerscheinung. Die Bilanz ist sein Fokus. Die des Unternehmens und seine eigene. Betrachten wir den Manager also als Wanderpächter, der von Feld zu Feld zieht. Mal Kürbisanbau leitet, mal Weizenanbau, mal Kumquats. Sei Ziel ist die beste Marge. Dafür wird er geheuert – nicht für die besten Druckmaschinen.
Das aber heißt. Das Produkt des Managers ist das Geld. Geld wird dann nicht mehr nur zum Schmier‑, Zeitspeicher‑, Preisbildungs- und Zahlungsmittel der Warenwirtschaft. Geld wird selbst zu einer produzierten Ware. Casino! Zockerei! Ist das so schlimm?
Geld als Ware?
Wäre Geld Weizen: Ließe sich nicht eine Wirtschaft denken, in der nur Weizen gehandelt wird? In der Weizen gegen Weizen getauscht wird? Völlig sinnlos, warum sollte ich meinen Weizen gegen deinen eintauschen? Ja, warum? Und warum funktioniert das auf den Geldmärkten? Weil realwirtschaftliche Nebendarsteller eingeschaltet sind. Weil ich das Gerücht höre, dass auf dem Feld meines Nachbarn der Boden die Qualität hat, nächstes Jahr mehr Ertrag abzuwerfen, tausche ich meine Ernte gegen die Seinige schon heute. Der Nachbar allerdings weiß um dieses Gerücht. Er hats ja selbst in die Welt gesetzt. Und geht den Handel ein. Was er aber wiederum nicht weiß: Sein Kontraktor weiß um die nachlassende Qualität des eigenen Bodens. Und so weiter.
Anders als Weizen aber ist Geld kein natürlich knappes Gut. Es „vermehrt“ sich ganz einfach. Und aus dieser Vermehrung entsteht Wohlstand. Zugleich kommt niemand auf die Idee, das Geld abends zu schroten, zu backen und morgens zu knuspern. Manager und Dienstleister produzieren Geld. Wie würde solch eine Post-Warenökonomie zu beschreiben sein?
sehr schön veranschaulicht. die metapher wachstum stammt ja aus der natur. eine wirtschaft muss immer wachsen? und ein baum? ein kind? wenn die wirtschaft ausgewachsen ist, weil jeder einen fernseher hat?
geld kann man aber auch knuspern, “earn it to burn it”. gebe ich mein geld wieder aus — in umlauf oder tu ich es in meinen kornspeicher und geil mich daran auf?