Mir fiel gerade ein, dass sich der zuletzt hier beschriebene Riss in der Wahrnehmung, den das Bewußtsein, es mit Theater zu tun zu haben, mit sich bringt, vielleicht zweierlei Verwandtschaften aufweist:
Nimmt man Kusanowskis Unterscheidung von Performat und Dokument (hier und in zahlreichen weiteren Postings) auf, müsste man textgebundenes Theater (also das Theater der europäischen Tradition) als ein komplexes Spiel zwischen diesen beiden betrachten. Denn das geschriebene und dokumentförmige “Werk-Stück “wird in der Performance scheinbar zum Performat. Es liegt aber — für den um Theater wissenden Beobachter — ein Text zugrunde. Diese Textgrundlage sorgt — neben anderem — dafür, dass der Beobachter die Aufführung als nicht mehr bloßes Performat, sondern als textrelativ und damit zumindest dokumentarisch betrachtet. “Dokumentarisch” heißt damit allerdings eben nicht — wie es die mimesis-Theorie annimmt — dass ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit hier nachgeahmt wird, also Theater ein Dokument aus dem geschehenen Performat erzeugt. Sondern dass es durch Bezug auf den — von Werktreue-Anwälten ja gerne lautstark postulierten — Bezug auf das Text-Dokument einen dokumentarischen Touch erhält. Es ist allerdings jederzeit weniger dokumentarisch als das Textdokument (oder die als Rückzugsposition gebuchte “Intention des Autors, die sich im Text dokumentiert), sondern durch den Übergang in die Performance wird es notwendigerweise ein performiertes Dokument. Zugleich ist es für denjenigen, der vom Text nichts weiß, dem aber gesagt wird, dass es sich um Theater handelt, mehr Dokument als das vor Beginn und nach Ende der Vorstelluung Erlebte, da es sich gewissen Kategorien fügr, die die Dramaturgie einführt. Oder der mythos.
Erste Verwandtschaft:
Dem barocken Glauben, hinter der wechselhaften Natur liege ein göttlich geschriebenes Buch (und sei es in mathematischer Sprache geschrieben), lässt die Begeisterung für das Theater vielleicht verständlich werden, weil Theater hier als Modell fungiert, das sich in der Welt-Theorie wiederfindet, sofern man den mundus als theatrum mundi beobachtet. So wie es schon über Shakespeare’s Globe-Theatre stand: All the world ’s a stage. Der Satz übrigens ist eine Übersetzung des Theologen Johannes von Salisbury, der in seinem (sehr lesenwerten) Policraticus wiederum Petronius paraphrasiert: “fere totus mundus, iuxta Petronium, exerceat histrionem” (Hier).
Man könnte auch auf Diderots “Jacques le fataliste” zurückbeziehen, dessen Glaube an das Fatum enorm theatral daher kommt: “Jacques disait que son capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut.” (Hier) Dieser Glaube an das Buch der Natur, die Prädestination Gottes usw. nimmt die Dokumentabhängigkeit des theatralen Performats, das eben durch dieses supponierte Dokument nicht mehr Performat ist, sondern zu der Hoffnubng (oder der Schicksalsergebenheit) Anlass gibt, dass alles, was so an seltsamen Geschehnissen sich in der Welt ergibt, eigentlich in einer verborgenen Schrift vordokumentiert sei, kann seine Verwandtschaft mit dem Theaterbewußtsein kaum verleugnen.
Zweite Verwandtschaft:
Nimmt man den Riss, der durch Bühne und Darsteller geht, ernst, kann man sogar bis zu Kant gelangen und seiner Trennung zwischen noumena und phainomena. Diese Unterscheidung zwischen den Dingen, wie wie uns erscheinen (phainomena), und den Dingen, wie sie an sich sind ohne dass sie uns aber wahrnehmbar sind, ist das Bewußtsein des Risses, der sich auch durch den Schauspieler zieht. Denn im Theater mit dem Bewußtsein sitzen, dass es sich um Theater handelt, supponiert dem Geschehen auf der Bühne (und der Bühne selbst) das “noumenon” des Schauspielers hinter der Rolle, der aber auf der Bühne nicht von der phainomenalen Rolle zu unterscheiden ist, in der er erscheibnt. Nun könnte man öfter ins Theater gehen und den Schauspieler in verschiedenen “Rollen”-Performaten-Phainomena betrachten, um daraus Schlüsse zu ziehen, wie er denn als noumenon vielleicht sei. Oder man könnte sich mit ihm in der Kantine verabreden, um dort festzustellen, dass er ja “eigentlich” ganz anders sei — würde aber schnell dazu kommen, dass das Eigentliche des Schauspielers eigentlich immer ist, “eigentlich anders” zu sein. Jeden abend anders. Und selbst ihm begegnend in der Kantine zieht sich durch ihn noch der Riss, weil das Bewusstsein, dass es sich um einen Schauspieler handelt, auch hier noch den Riss mit hineinsieht und danach zu suchen trachtet, was denn wiederum das noumenon hinter dem Schauspieler-Phainomenon, das wiederum eine Rolle ist, sein könnte. Wenn man dann Goffmans schönen deutschen Buchtitel “Wir alle spielen Theater” hinzuzieht, landet man nicht nur wieder beim Globe-Theatre, sondern bei einer Weltbeobachtung, die im Ganzen unterstellt, dass man es bei Menschen immer nur mit Darstellern (soziologischer) Rollen zu tun haben könnte — ohne dass man je dem Noumenon auf die Schliche kommt.
Mal schauen, was dabei rauskommt,w enn man “Theater” wirklich konsequent als eine bestimmte form eines beobachtenden Bewußtseins beobachtet. Und ich hoffe, ich habe Kusanowskis Performat/Dokument-Beobachtung nicht allzu sehr falsch beobachtet.
Diese Überlegungen in diesem Artikel stellen gewiss eine Erweiterung und eine für mich nützliche Belehrung dar. Denn es ist ja klar, dass, wenn man annimmt, die Dokumentform sei eine für die moderne Gesellschaft typische Form, in welcher sich ihre Empirie niederschlägt, dann müsste es sich um ein höchst unwahrscheinliches Wunder handeln, wenn diese Form nicht auch in der Dramentheorie wiederaufkommen würde. Durch die Dokumentform machte die moderne Gesellschaft sich selbst erfahrbar und beschreibbar; was letztlich heißt: alles in ihr und durch sie beobachten zu können, inkl. all der Probleme, die durch ihre Anwendung aufgeworfen wurden.
In diesem Zusammenhang denke ich gerade darüber nach, ob im Eliasschen Sinne das moderne Theater, sofern es seine Performativität von der Dokumentform überziehen lassen konnte, als Institution der Affekthemmung im Zivilisationsprozess geeignet war. Das meint besonders die Unterbrechung der Interaktion zwischen Darstellen und Publikum. Ich stelle mir das so vor, dass das Shakespeare Theater womöglich bereits eine Reaktion auf diese Unterbrechung ist, indem sowohl Schauspieler als auch Publikum sich wechselseitig als prinzipiell in der Wahrnehmung als Wahrnehmende vorwegnehmen. Diese Vorwegnahme wäre der Text, genauer: die Rolle, das dokumentierte Skript, über das beide Seiten, Darsteller und Publikum, als informiert Beteiligte sich gegenseitig beobachten. Die Unterbrechung der Interaktion geschieht durch die Einführung einer Beobachtungsinstanz — das Dokument als Text der Schauspieler und als Text der Kritik des Publikums — die Selbstreflexivität nach sich zieht und Affekthemmung genauso zur Voraussetzung wie zum Ergebnis hat.
Zweierlei:
Der Hinweis auf die Affekthemmung bringt mich mindestens 1000 Jahre weiter zurück zur attischen Tragödie und zu Aristoteles, der ja in dem unter seinem Namen verbreiteten Vorlesungsmitschriftfragment, das wir als seine Poietik kennen, schrieb, dass das Ziel der Tragödie die katharsis sei – den langen Streit, ob es sich um die Reinigung der Affekte oder von den Affekten mal dahingestellt. Aber die affektive Dimension der Beobachterposition muss tatsächlich stärker aufgenommen werden.
Zur Frage der “modernen” Gesellschaft frage ich mich in den letzten Tagen immer mehr, ob die Modernität als Einschränkung überhaupt gültig sein kann, oder ob es sich nicht um eine grundlegende Bedingung der Selbstbeschreibung von Gesellschaft handelt. Ob also nicht das theatrale Bewusstsein, das das Auseinanderfallen in Beobachter und Beobachtete mit dem gleichzeitigen Riss im Beobachteten tatsächlich die Grundbedingung für das Entstehen von Gesellschaft ist. Das hieße, dass Gesellschaft eventuell als eine Gesellschaft nicht dadurch entstünde, dass sie sich einer NichtGesellschaft oder einer anderen Gesellschaft, die “wir” nicht sind, nicht entgegensetzte, sondern dass die Gesellschaft auch für sich selbst Gesellschaft würde, wenn es kein “Außen” gäbe.
Andererseits finde ich wiederum auch interessant, dass Theater zumindest in seiner Frühzeit nicht die Gesellschaft hier und jetzt aufnahm, sondern entweder vergangene/legendäre Gesellschaften vorspielte oder fremde Gesellschaften. Darüber ist nachzudenken.
Und einen hätt ich noch, alter beobachtungstheoretischer Systemkenner Kusanowski: Was wäre, wenn man in der Systemtheorie das Wort (nur das Wort!) “System” durch das Wort “Drama” ersetzte?
“Das hieße, dass Gesellschaft eventuell dadurch entstünde, dass die Gesellschaft auch für sich selbst Gesellschaft würde, wenn es kein “Außen” gäbe.”
Genau das ist der Beobachtungsstandpunkt, von dem aus Luhmann die moderne Gesellschaft beobachtet und diese Unterscheidungsoption als Beobachtungsschema ihrer Evolution anwendet.
Dann ist der Luhmann’sche Beobachter der Beobachter mit Theaterbewusstsein?