Zwei Sachverhalte, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Weltmeisterschaftsbilder, in denen Menschenmassen mit Nationalflaggen zusammen vor Großbilleinwänden stehen oder sich gar in Stadien versammeln, um gemeinsam „Fernsehen“ zu schauen. Ein aufkommender, sich hinterrücks einschleichender Neonationalismus, wie Müller )hier und hier) auf den Nachdenkseiten meint – oder doch ganz harmlos wie der Spiegelfechter und die überwiegende Schar seiner Kommentatoren hier meinen?
Eine offenbar schnell voranschreitende Entfremdung der Bürger des Landes gegenüber den Staatsvertretern, den Repräsentanten der „Nation“. Eine mangelnde Beteiligung, mangelndes politisches Interesse, Verachtung von Politikern, von Politik überhaupt.
Was hat beides miteinander zu tun?
Die Fahnenschwenkerei ist weder Identitätsstiftung noch Patriotismus – im Ganzen. Es ist sicherlich eine ganze Reihe von Fahnenschwenkern dabei, die ihren nationalen Überlegenheitsphantasien, rassistischen Vorurteilen, chauvinistischen Verbohrtheiten und allgemeiner Deutschtümelei hier lautstark Ausdruck geben können. Diese Form des chauvinistischen Patriotismus entsteht nicht durch die WM, inwieweit sie bei den betreffenden Personen gefördert wird, vermag ich nicht zu sagen. Es ist jedenfalls kein besonders weitreichendes Stolzmotiv, dass 11 Mann einen Lederball besser über eine Rasenfläche bugsieren können, als 11 andere Männer aus einem anderen Land. Immerhin hat die Niederlage stattgefunden (zweimal!) – und sie ist keine n*tion*le Sch*nde. Den Fußballfans tuts leid, keine weiteren Spiele mit den 11 sehen zu können. Es tut ihnen für sie leid. Und ja: „Wir“ wären gerne Weltmeister, so wie Papst und Eurovisionssieger. Bei all diesen Zusammenhängen ist aber das Nationalistische von solcher Ironisierung durchzogen, dass in Masse jedenfalls nicht von Nationaltaumel oder gar Gleichschaltung zu reden ist. Alle Schauenden sind sich darin gleich, für dieselbe Mannschaft zu sein. Sie teilen aber weder politische noch weltanschauliche Überzeugungen. Sie sind nicht von selber Herkunft. Und sie würden vermutlich keine fünf Minuten miteinander über Politisches reden können, ohne entgegengesetzter Meinung zu sein.
Harmlos oder Verharmlosung? Ich bin vor Lachen fast vom Stuhle gefallen, als ich zwei junge Männer bei einem kleineren Public Viewing Event beim Abspielen der Nationalhymne sich vor der Leinwand erheben sah. Mir dünkte dass dem Gesslerschen Hute gleich, vor dem man sich zu verneigen hat. Der gesamte Rest blieb sitzen und schwatze angelegentlich in Erwartung des Spiels. So bliebs – wiewohl in sich nicht einmal wirklich skandalös – eine eher rührend-lächerliche Szene, denn eine nationale. Und die beiden setzten sich still und leise wieder hin.
Die Qualifizierung des Fahnenschwingens, Stirnen, Wangen, Schultern, Brüste mit den Nationalfarben-Verzierens als überzogenen Chauvinismus, falschen Patriotismus, Gleichschaltung oder Neonationalismus einzustufen macht blind. Denn natürlich ist Wachsamkeit gegenüber dem alten Schäferhund geboten. Ihn aber bereits von der Kette gelassen zu behaupten, während er noch relativ festangebunden ist, wiegt nur in Sicherheit durch ein „Och wenn das Nationalismus ist, kanns nicht so schlimm sein…“. Doch, es wäre schlimm – aber das ist keiner!
N.B.: Momentan ist die dauerhafte Reduktion jeder politischen Debatte auf Ökonomie m.E. das viel größere und beachtenswertere Problem und Gefahrenpotenzial. Denn es bietet – ähnlich wie vor 70 Jahren der Nationalismus – ein Dezisionsraster an, das Entscheidungen beeinflusst. Die Differenz zwischen „rasserein – nicht rasserein“ „im nationalen Interesse / nicht im nationalen Interesse“ wurde abgelöst von „effizient b/ ineffizient“ und „wirtschaftlich sinnvoll / nicht wirtschaftlich sinnvoll“. Aber das gehört eigentlich nicht hierher, weil Ökonomie und Effizienz mit dem Thema Fußball nichts zu tun hat … So gar nichts … Ich halte die Exportweltmeisterschaft allerdings gegenwärtig für den viel problemnatischeren Wettbewerb. Aber zurück zum Thema.
Wer die Fahnen beschreibt, sollte die Vuvuzelas nicht überhören. Und die damit zum Ausdruck gebrachte Verbundenheit mit dem Austragungsland der Weltmeisterschaft. Es waren eben keine deutschen Instrumente, die etwa „gegen“ die afrikanischen in Stellung gebracht wurden. Sondern in ohrenbetäubendem, geradezu körperverletzendem Getöse verbanden sich Fußballfans über Bildschirmgrenzen hinweg miteinander.
Zuallerletzt die kleine, aber meines Erachtens nicht zu vernachlässigende Kleinigkeit, dass nicht Deutschland angefeuert wurde, sondern Schlaaaand. Wer genau hinhörte (oder Twitter las) bemerkte – hinreichend feines Gespür vorausgesetzt – die Schwierigkeit, die die Feiernden mit dem Pseudonationalen hatten. Für Viele (übrigens interessanterweise ähnlich einigen Kommentatoren beim Spiegelfechter – ist „Deutschland“ das Unaussprechliche. Weil es aus zahllosen Sendungen mit der Stimme eines bestimmten Mann verbunden ist, mit dem zusammen dieses Wort aus dem Sprachschatz verbrannt wurde. Und nur noch als eine Art Echo „schland“ zu hören und zu sagen ist. „Schland“ übrigens gehört Stefan Raab (als ökonomisch geschützte Marke).
Fazit: Die Mehrzahl der Fahnenschwenker war vorher nicht nationalistisch uniformiert und ist es auch hinterher nicht. Rassisten, Chauvinisten, Ausländerhasser werden durch die WM weder eines Besseren noch eines Schlechteren belehrt. Vermutlich hat die WM nicht die Nationalbegeisterung erhöht – sondern die Fußballbegeisterung. Und alle schauen zu und haben Spaß. Zuschauen, nicht mitmachen – das wird der zweite Teil dieses Postings sein: zum Thema Entfremdung.