Die gestern (hier) problematisierte Überlegung, ob es sich bei der weltmeisterlichen Fahnenschwenkerei und Farbenträgerei um auflebenden Neonationalismus handelt oder nicht, hatte unter anderem die Beobachtung vorgetragen, dass diese öffentliche Symbolmanipulation mit keinem gemeinsamen politischen Inhalt oder Anliegen verbunden war. Man könnte sich also verwundert die Augen reiben, wie erfahrene und reflektierte Beobachter des Politischen überhaupt auf die Idee kommen können, dass es sich hierbei um etwas Politisches oder Politiknahes handeln könnte.
Das Bedauerliche aber ist, dass selbst diesen Beobachtern der Blick dafür abhanden gekommen ist, wo Politisches es mit Inhalt und wo nur mit oberflächlichem Symbolismus oder Symbolmanipulation zu tun hat. Wie der Aufzug der symbolischen Oberfläche bereits mit vollumfänglichem Neonationalismus verwechselt wird, so wird auch die Symbolmanipulation im Allgemeinpolitischen mit Politik verwechselt.
Richard David Precht hat drei Wochen auf SpON einen Artikel zum Besten gegeben, in dem er „Die entfremdete Republik“ (hier) beschrieb. Ich erlaube mir, den Kommentar zu diesem Artikel in zwei Teile zu spalten – weil der Artikel selbst zwei Dinge miteinander vermischt, die das Missverständnis der Fahnenschwenker-Kritiker nachzuvollziehen bedroht ist.
Einleitung des Artikel ist die Bundespräsidentenwahl – eine Art Meisterschaft auch dieses. Und Prechts Kritik spitzt sich an dieser Stelle in der Bemerkung zu:
Dass die parlamentarische Demokratie in unserem Land dem Volk aus historisch schlechter Erfahrung nicht über den Weg traut, ist bekannt: kaum Volksbegehren, keine Direktwahl bei hohen Ämtern, kein imperatives Mandat. Aber während das politische System und sein Personal in diesem Misstrauen verharren, hat sich die Bevölkerung längst gewandelt. Der durchschnittliche Deutsche in den fünfziger Jahren war kein überzeugter Demokrat, aber zufrieden. Heute ist der durchschnittliche Deutsche ein überzeugter Demokrat — und unzufrieden.
Menschen in Deutschland werden heute zu allem gefragt und dürfen sich vieles aussuchen: vom Premiumtarif beim Handy bis zu Bahntarifen — als Kunde lebt jeder Deutsche in der Illusion von Teilhabe oder Mitbestimmung. Im Internet darf er den gekauften Fotoapparat genauso bewerten wie den Einsatz in Afghanistan. Und im Chat kann er sich über eine Freundin aufregen wie über Angela Merkel. Doch das Erfolgserlebnis, das er bei der Abstimmung zum Eurovision Song Contest hat, wird ihm bei der Wahl des Bundespräsidenten verwehrt. Lena dürfen wir wählen, aber nicht Gauck oder Wulff. (hier)
Damit reiht er sich in eine sehr verbreitete Kritik zur Wahl ein (die es bis zum Spiegel-Sommerlochstitelbild schaffte): Diese Wahl war gar keine. Sie wurde ausgekungelt. Forderung: Direktwahl des Präsidenten.
Richtig ist: diese Wahl war keine im demokratischen Sinne. Denn es stand niemand zur Wahl. Nicht nur weil die beiden Herren, die da antraten sich an Nichtigkeit schier überboten. Sondern weil das Amt eines Grüßaugusts neu besetzt wurde und lediglich von Onkel Hotte zum weichen Riesen überging. Ein hochbezahlter Frackträger. Dessen Einfluss noch geringer ist als der des next Topmodels oder des nächsten Superstars. Dass im Internet danach gerufen wurde, Raab diese Wahl austragen zu lassen, hat mehr Wahrheit, als die meisten „ernstzunehmenden“ (jedenfalls ernst gemeinten) politischen Kommentatoren. Es handelt sich um die Besetzung eines rein symbolischen Postens. Der Wahlvorgang ist keine Wahl, sondern ein komplizierter Algorithmus, der eine Schaar von Menschen zusammenbringt, die irgendjemanden bestimmen, der nicht nur für nichts stehen kann. Sondern der sogar unbedingt für Nichts stehen muss. Er soll schließlich Repräsentant aller sein. Eine menschliche Flagge, mit der sich nur jeder identifizieren kann, wenn sie für nichts steht – außer der Identifikation selbst.
Und das muss so sein. Es ist weder polemisch noch sarkastisch gemeint noch gegen irgendeine Person gerichtet, wenn man sagt, dass das Nichts, das ein Staat ist (es ist ein nur-symbolisierbares) nur durch ein(e) Null repräsentiert werden kann (vergleichbar dem barocken Auge, das Gott symbolisierte). Wie gesagt: Die Null ist nicht polemisch gemeint. Es ist eine rein mathematische Beschreibung (wer will kann es auch als das linguistische Null-Morphem verstehen, das Nichtssagende, von dem alles Sagen erst die Möglichkeit des Sinns erhält), die die Null als das „neutrale Element“ braucht, das weder positiv noch negativ ist – aber die Mathematik kann nicht sagen, was die Null zählt (wikipedia zur Null). Null von was denn? Am Ende: Null und Nichts. Das Nichts, dass der Staat ist, ebenso wie das Alles, das die Bevölkerung dieses Staats ist, kann nur durch die Null des Bundespräsidenten (oder eines bunten Stück Stoffs im Winde) materialisiert und symbolisiert werden. Fast schon trinitarisch. Vater – Heiliger Geist – Sohn.
Aber das ist nicht Politik. Es ist Symbolismus, der mit Politik so wenig zu tun hat, wie die allsonntäglichen Bundesligaspiele bei Christiansen, Will oder demnächst Jauch. Das Auffahren der Immergleichen zu wechselnden Anlässen, die aufeinander losgelassen werden wie Kickers Offenbach und Eintracht Frankfurt. Und die nach 45 Minuten wieder in die Kabine gehen und gemeinsam duschen. Das ist nicht Politik, sondern televisionär aufbereiteter Symbolismus.
Precht begeht an dieser Stelle (im Gegensatz zum weiteren Verlauf seines Artikels) denselben Fehler wie die Neonationalismus-Diagnostiker bei der Weltmeisterschaft: Er hält das Symbolische für das Inhaltliche: Eine Präsidentenwahl durch „das Volk“ durchführen zu lassen, ist zwar der symbolische Akt des Wählens, der einer Demokratie gebührt. Er wählt aber eine Null. Und damit nichts. Der theatrale Vollzug eine Eheschließung ist das Zitat einer Eheschließung (Austins Theorie der Sprechakte kennt dieses Beispiel). Eine Null-Wahl ist lediglich das Zitat einer Wahl – und verstärkt nicht nur die Entfremdung, sondern genau jene Zitatform, die auch bei vielen Fahnenschwingern der Weltmeisterschaft zu sehen ist. Ohne inhaltlichen Nationalismus Manipulationen an Symbolen vorzunehmen, die zum dem nationalistischen Umfeld gehören.
Das große Problem aber ist das Zitat an beiden Stellen: Sollten die Fahnenschwinger konsequenterweise die DFB-Fahne schwingen? Die Europafahne? Jedenfalls eine, die keinen Nationalismus zitiert und für oberflächliche Betrachter den Verdacht des Nationalismus aufkeimen lässt. Und die Wähler? Sie müssen gar nicht mehr oder anderes wählen. Sie müssen nur den Unterschied zwischen Wahl und Wahlzitat verstehen – und sich tatsächlich um ein Gebilde Gedanken machen, dass man als Nation bezeichnen könnte. Die Wahl muss die Frage entscheiden: Wie soll es in Deutschland weitergehen? Dafür lohnt sich inhaltliche Auseinandersetzung, Kampf mit und um Argumente und Positionen. Dazu mehr morgen im Teil 3.
P.S. Die „Netzbewegung“ für Gauck übrigens hatte – soweit ich sehe – keinerlei inhaltliche Dimension. Es sollte schlicht und einfach „der andere“ werden, um damit zu beweisen, wer die Macht im Staate hat. Nicht weniger. Nicht mehr. Aneignung des Nullsymbols um des symbolisierten Nichts Herr zu werden. Papst und Gegenpapst.