Schlaaand und die Entfremdung: Teil 2 – Warum der Bundespräsident Null ist

Juli 19th, 2010 Kommentare deaktiviert für Schlaaand und die Entfremdung: Teil 2 – Warum der Bundespräsident Null ist

Die ges­tern (hier) pro­ble­ma­ti­sier­te Über­le­gung, ob es sich bei der welt­meis­ter­li­chen Fah­nen­schwen­ke­rei und Far­ben­trä­ge­rei um auf­le­ben­den Neo­na­tio­na­lis­mus han­delt oder nicht, hat­te unter ande­rem die Beob­ach­tung vor­ge­tra­gen, dass die­se öffent­li­che Sym­bol­ma­ni­pu­la­ti­on mit kei­nem gemein­sa­men poli­ti­schen Inhalt oder Anlie­gen ver­bun­den war. Man könn­te sich also ver­wun­dert die Augen rei­ben, wie erfah­re­ne und reflek­tier­te Beob­ach­ter des Poli­ti­schen über­haupt auf die Idee kom­men kön­nen, dass es sich hier­bei um etwas Poli­ti­sches oder Poli­tik­na­hes han­deln könnte.

Das Bedau­er­li­che aber ist, dass selbst die­sen Beob­ach­tern der Blick dafür abhan­den gekom­men ist, wo Poli­ti­sches es mit Inhalt und wo nur mit ober­fläch­li­chem Sym­bo­lis­mus oder Sym­bol­ma­ni­pu­la­ti­on zu tun hat. Wie der Auf­zug der sym­bo­li­schen Ober­flä­che bereits mit voll­um­fäng­li­chem Neo­na­tio­na­lis­mus ver­wech­selt wird, so wird auch die Sym­bol­ma­ni­pu­la­ti­on im All­ge­mein­po­li­ti­schen mit Poli­tik verwechselt.

Richard David Precht hat drei Wochen auf SpON einen Arti­kel zum Bes­ten gege­ben, in dem er „Die ent­frem­de­te Repu­blik“ (hier) beschrieb. Ich erlau­be mir, den Kom­men­tar zu die­sem Arti­kel in zwei Tei­le zu spal­ten – weil der Arti­kel selbst zwei Din­ge mit­ein­an­der ver­mischt, die das Miss­ver­ständ­nis der Fah­nen­schwen­ker-Kri­ti­ker nach­zu­voll­zie­hen bedroht ist.

Ein­lei­tung des Arti­kel ist die Bun­des­prä­si­den­ten­wahl – eine Art Meis­ter­schaft auch die­ses. Und Prechts Kri­tik spitzt sich an die­ser Stel­le in der Bemer­kung zu:

Dass die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie in unse­rem Land dem Volk aus his­to­risch schlech­ter Erfah­rung nicht über den Weg traut, ist bekannt: kaum Volks­be­geh­ren, kei­ne Direkt­wahl bei hohen Ämtern, kein impe­ra­ti­ves Man­dat. Aber wäh­rend das poli­ti­sche Sys­tem und sein Per­so­nal in die­sem Miss­trau­en ver­har­ren, hat sich die Bevöl­ke­rung längst gewan­delt. Der durch­schnitt­li­che Deut­sche in den fünf­zi­ger Jah­ren war kein über­zeug­ter Demo­krat, aber zufrie­den. Heu­te ist der durch­schnitt­li­che Deut­sche ein über­zeug­ter Demo­krat — und unzufrieden.

Men­schen in Deutsch­land wer­den heu­te zu allem gefragt und dür­fen sich vie­les aus­su­chen: vom Pre­mi­um­ta­rif beim Han­dy bis zu Bahn­ta­ri­fen — als Kun­de lebt jeder Deut­sche in der Illu­si­on von Teil­ha­be oder Mit­be­stim­mung. Im Inter­net darf er den gekauf­ten Foto­ap­pa­rat genau­so bewer­ten wie den Ein­satz in Afgha­ni­stan. Und im Chat kann er sich über eine Freun­din auf­re­gen wie über Ange­la Mer­kel. Doch das Erfolgs­er­leb­nis, das er bei der Abstim­mung zum Euro­vi­si­on Song Con­test hat, wird ihm bei der Wahl des Bun­des­prä­si­den­ten ver­wehrt. Lena dür­fen wir wäh­len, aber nicht Gauck oder Wulff. (hier)

Damit reiht er sich in eine sehr ver­brei­te­te Kri­tik zur Wahl ein (die es bis zum Spie­gel-Som­mer­lochsti­tel­bild schaff­te): Die­se Wahl war gar kei­ne. Sie wur­de aus­ge­kun­gelt. For­de­rung: Direkt­wahl des Präsidenten.

Spiegel-Cover vom 28.06.20120

Rich­tig ist: die­se Wahl war kei­ne im demo­kra­ti­schen Sin­ne. Denn es stand nie­mand zur Wahl. Nicht nur weil die bei­den Her­ren, die da antra­ten sich an Nich­tig­keit schier über­bo­ten. Son­dern weil das Amt eines Grüß­au­gusts neu besetzt wur­de und ledig­lich von Onkel Hot­te zum wei­chen Rie­sen über­ging. Ein hoch­be­zahl­ter Frack­trä­ger. Des­sen Ein­fluss noch gerin­ger ist als der des next Top­mo­dels oder des nächs­ten Super­stars. Dass im Inter­net danach geru­fen wur­de, Raab die­se Wahl aus­tra­gen zu las­sen, hat mehr Wahr­heit, als die meis­ten „ernst­zu­neh­men­den“ (jeden­falls ernst gemein­ten)  poli­ti­schen Kom­men­ta­to­ren. Es han­delt sich um die Beset­zung eines rein sym­bo­li­schen Pos­tens. Der Wahl­vor­gang ist kei­ne Wahl, son­dern ein kom­pli­zier­ter Algo­rith­mus, der eine Schaar von Men­schen zusam­men­bringt, die irgend­je­man­den bestim­men, der nicht nur für nichts ste­hen kann. Son­dern der sogar unbe­dingt für Nichts ste­hen muss. Er soll schließ­lich Reprä­sen­tant aller sein. Eine mensch­li­che Flag­ge, mit der sich nur jeder iden­ti­fi­zie­ren kann, wenn sie für nichts steht – außer der Iden­ti­fi­ka­ti­on selbst.

Und das muss so sein. Es ist weder pole­misch noch sar­kas­tisch gemeint noch gegen irgend­ei­ne Per­son gerich­tet,  wenn man sagt, dass das Nichts, das ein Staat ist (es ist ein nur-sym­bo­li­sier­ba­res) nur durch ein(e)  Null reprä­sen­tiert wer­den kann (ver­gleich­bar dem baro­cken Auge, das Gott sym­bo­li­sier­te). Wie gesagt: Die Null ist nicht pole­misch gemeint. Es ist eine rein mathe­ma­ti­sche Beschrei­bung (wer will kann es auch als das lin­gu­is­ti­sche Null-Mor­phem ver­ste­hen, das Nichts­sa­gen­de, von dem alles Sagen erst die Mög­lich­keit des Sinns erhält), die die Null als das „neu­tra­le Ele­ment“ braucht, das weder posi­tiv noch nega­tiv ist – aber die Mathe­ma­tik kann nicht sagen, was die Null zählt (wiki­pe­dia zur Null). Null von was denn? Am Ende: Null und Nichts. Das Nichts, dass der Staat ist, eben­so wie das Alles, das die Bevöl­ke­rung die­ses Staats ist, kann nur durch die Null des Bun­des­prä­si­den­ten (oder eines bun­ten Stück Stoffs im Win­de) mate­ria­li­siert und sym­bo­li­siert wer­den. Fast schon tri­ni­ta­risch. Vater – Hei­li­ger Geist – Sohn.

Aber das ist nicht Poli­tik. Es ist Sym­bo­lis­mus, der mit Poli­tik so wenig zu tun hat, wie die all­sonn­täg­li­chen Bun­des­li­ga­spie­le bei Chris­ti­an­sen, Will oder dem­nächst Jauch. Das Auf­fah­ren der Immer­glei­chen zu wech­seln­den Anläs­sen, die auf­ein­an­der los­ge­las­sen wer­den wie Kickers Offen­bach und Ein­tracht Frank­furt. Und die nach 45 Minu­ten wie­der in die Kabi­ne gehen und gemein­sam duschen. Das ist nicht Poli­tik, son­dern tele­vi­sio­när auf­be­rei­te­ter Symbolismus.

Precht begeht an die­ser Stel­le (im Gegen­satz zum wei­te­ren Ver­lauf sei­nes Arti­kels) den­sel­ben Feh­ler wie die Neo­na­tio­na­lis­mus-Dia­gnos­ti­ker bei der Welt­meis­ter­schaft: Er hält das Sym­bo­li­sche für das Inhalt­li­che: Eine Prä­si­den­ten­wahl durch „das Volk“ durch­füh­ren zu las­sen, ist zwar der sym­bo­li­sche Akt des Wäh­lens, der einer Demo­kra­tie gebührt. Er wählt aber eine Null. Und damit nichts. Der thea­tra­le Voll­zug eine Ehe­schlie­ßung ist das Zitat einer Ehe­schlie­ßung (Aus­tins Theo­rie der Sprech­ak­te kennt die­ses Bei­spiel). Eine Null-Wahl ist ledig­lich das Zitat einer Wahl – und ver­stärkt nicht nur die Ent­frem­dung, son­dern genau jene Zitat­form, die auch bei vie­len Fah­nen­schwin­gern der Welt­meis­ter­schaft zu sehen ist. Ohne inhalt­li­chen Natio­na­lis­mus Mani­pu­la­tio­nen an Sym­bo­len vor­zu­neh­men, die zum dem natio­na­lis­ti­schen Umfeld gehören.

Das gro­ße Pro­blem aber ist das Zitat an bei­den Stel­len: Soll­ten die Fah­nen­schwin­ger kon­se­quen­ter­wei­se die DFB-Fah­ne schwin­gen? Die Euro­pa­fah­ne? Jeden­falls eine, die kei­nen Natio­na­lis­mus zitiert und für ober­fläch­li­che Betrach­ter den Ver­dacht des Natio­na­lis­mus auf­kei­men lässt. Und die Wäh­ler? Sie müs­sen gar nicht mehr oder ande­res wäh­len. Sie müs­sen nur den Unter­schied zwi­schen Wahl und Wahl­zi­tat ver­ste­hen – und sich tat­säch­lich um ein Gebil­de Gedan­ken machen, dass man als Nati­on bezeich­nen könn­te. Die Wahl muss die Fra­ge ent­schei­den: Wie soll es in Deutsch­land wei­ter­ge­hen? Dafür lohnt sich inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, Kampf mit und um Argu­men­te und Posi­tio­nen. Dazu mehr mor­gen im Teil 3.

P.S. Die „Netz­be­we­gung“ für Gauck übri­gens hat­te – soweit ich sehe – kei­ner­lei inhalt­li­che Dimen­si­on. Es soll­te schlicht und ein­fach „der ande­re“ wer­den, um damit zu bewei­sen, wer die Macht im Staa­te hat. Nicht weni­ger. Nicht mehr.  Aneig­nung des Null­sym­bols um des sym­bo­li­sier­ten Nichts Herr zu wer­den. Papst und Gegenpapst.

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