Anfang November rief das Hamburger Thalia Theater hier die Öffentlichkeit auf, vier Positionen des nächsten Spielplans zu bestimmen. Vermutlich stand im Hintergrund der Wunsch, der sich in verschiedenen Regionen der Welt, in der Occupy-Bewegung, in der Netzöffentlichkeit manifestierenden Beteiligungslust der Öffentlichkeit zu öffnen und selbst durch offene Partizipationsmöglichkeiten ein Stück offener und „demokratischer“ zu werden. Unter Missachtung aller Erfahrungen, die mit ähnlichen Crowdsourcing- und Consumer Empowerment-Aktivitäten vorliegen. Man stolpert einfachmal rein in Partizipationsdynamiken, in Netzbeteiligung und so eine Art Demokratie. Das mag man gutmütig als naiv bezeichnen – oder als … Don’t call me stupid.
Keine Teilnehmerbeschränkungen (zum Beispiel Besucher, Abonnenten, Norddeutsche), keine Qualitätssicherung (zum Beispiel: nur vom Verlag angenommene Stücke), keine thematische Einschränkung, keine Peer Review, keine Jury, kein Quorum an Mindeststimmen. Vielmehr räumt man den Entscheidern ein bruchloses „Durchregieren“ ein. Nicht einmal bemerkenswerte Spielregeln gibt es. Ich erlaube mir, aus der Ausschreibung zu zitieren:
Liebe TheaterfreundInnen und ‑feindInnen,
das Thalia Theater ist, wie Sie wissen, nicht nur ein Kunstinstitut sondern auch ein Dienstleistungsunternehmen. {…} Deshalb haben wir bei der jährlichen Spielplanung schon immer Wert darauf gelegt, auch die Erwartungen des Publikums zu berücksichtigen. Für die nächste Spielzeit wollen wir noch einen Schritt weitergehen. Sie bestimmen einfach selbst, was gespielt wird: 4 Inszenierungen im Großen Haus werden für die Spielzeit 2012/2013 vom Publikum vorgeschlagen. Das ist immerhin die Hälfte aller dort stattfindenden Neuinszenierungen. Sie brauchen nur eine Wahlpostkarte auszufüllen oder eine E‑Mail zu schreiben und nehmen mit Ihrem Stückvorschlag an der Wahl zum neuen Spielplan teil. Die drei meistgenannten Stücke (auch Film- oder Romanvorlagen sind wählbar) werden dann in der nächsten Spielzeit im Thalia Theater aufgeführt. Versprochen!
Die drei meistgenannten Stücke werden gespielt. So einfach. Vorausgesetzt sie waren (einzige Einschränkung) nicht innerhalb der letzten 5 Jahre hier schon zu sehen. Und nun?
Die Vorschläge
Nach nunmehr drei Wochen, etwa Halbzeit des Wahlprozesses, stellt sich folgendes Bild: An der Spitze liegen Stücke, deren Nominierung vermutlich in die Kategorie „überraschend“ gehören. Dazu gleich mehr. Dahinter, jeweils mit einigen wenigen Stimmen, liegt ein Sammelsurium an Traditionstexten, die in etwa dem Inhalt der Reclam-Mängelexemplarramschkisten literaturwissenschaftlicher Universitätsbuchhandlungen entsprechen. Hier zu sehen (ich lasse die nur einmal genannten Texte mal raus):
Die Reaktion des Thalia: Menno!
Auf Facebook ist nun seit einigen Tagen Aktivität des Thalia zu diesem Thema zu sehen – und zwar Überraschende. Die sich in der Diffamierung der Führenden ergeht, sich gegen „feindliche Havarie“ (???) verteidigen will. Man schreibt über den Versuch „schlechte Stücke in die Top5 zu katapultieren“, diffamiert die Führenden als „Spam“, unterstellt „persönliche Eitelkeit“, beleidigt süddeutsche Theater und verunglimpft die führenden Autoren:
Menno, versprochen.…es war aber vor allem als Publikumsbefragung gedacht und nicht als ein: Erfolglose Autoren/ Regisseure/Schauspieler vereinigt euch und wir spielen das, was man in Memmingen nicht sehen mag.…
Was wohl als sympathischer Versuch der demokratisch-partizipativen Öffnung gedacht war, schlägt um in hochmütige Arroganz. Oh what a noble stage is here o’erthrown.
So shall you hear
Of carnal, bloody and unnatural acts;
Of accidental judgments, casual slaughters;
Of deaths put on by cunning and forced cause;
And, in this upshot, purposes mistook
Fall’n on the inventors’ heads. All this can I
Truly deliver.
Die Folge: Mob-ilisierung
Hinter dem Thalia sammeln sich nun – wie in solchen Sozialdynamiken nicht unbekannt – die Freunde des Thalia, starten eine eigene Facebook-Page, auf der sie dasselbe tun, was den aktuell Führenden unterstellt wird: sie gründen eine Lobby oder Partei mit dem Ziel, eigene Präferenzen durchzusetzen, eigene Kandidaten zu nominieren und hochzuvoten. Man tritt als Spielplanretter und Schadensbegrenzer auf:
Auch wenn der ein oder andere sich das ein oder andere wünscht. Irgendwo müssen wir anfangen. Daher stimmt ab für:
Friedrich Dürrenmatt *Die Ehe des Herrn Mississippi*
oder
Thornton Wilder *Wir sind noch einmal davon gekommen*
Hier geht es immer noch darum einen Spielplan vor der feindlichen Übernahme zu retten.
Und das Problem?
Die gegenwärtig Führenden haben sich absolut regelkonform verhalten. Sie haben getan, was das Theater wollte. Aber offenbar hat das Theater anderes erwartet: „Es war als Publikumsbefragung gedacht“. Ein Phänomen, das andere Institutionen, die Versuche mit demokratischer Partizipation machen, auch kennen. Putin wäre sicher ein passender Schirmherr für eine solche Form der Demokratie. Jaja freie Wahl ist schön und gut – aber doch nicht DIESE Bewerber. Die Erwartungshaltung des Thalia wurde enttäuscht, man sieht sich der drohenden Gefahr ausgesetzt, einen Klump auf die Bühne des Großen Hauses bringen zu müssen – und beschimpft also die Führenden, statt sich selbst.
Die Regeln hat das Thalia gemacht. Niemand zwang das Theater, gleich vier Positionen freizugeben, gleich das Große Haus aufs Spiel zu setzen, der Netzöffentlichkeit Vorschlag und Entscheidung ohne Zwischenschritt und Moderation zu überlassen. Ihr habt diese Regeln gemacht – sich jetzt über die Ergebnisse regelkonformen Verhaltens zu ereifern ist zumindest unsportlich.
Niemand zwang euch, die Vorschläge ohne ein Quorum oder eine XX-Stimmenhürde durchzuwinken. Noch größer als das Problem der entschlossenen Minderheit, die es schaffen könnte, durch gute Organisation ihre eigenen Kandidaten durchzudrücken, ist doch, das hinter dieser radikalen Spitzengruppe lächerliche Stimmenzahlen zu finden sind. Ist es wirklich ein Ausweis „demokratischer“ Offenheit, wenn fünf oder sechs Einsendungen dazu reichen, einen Klassiker auf die Bühne zu voten? Vermutlich sind an traditionellen Spielplangestaltungen mehr Entscheider beteiligt. Selbst 100 Stimmen sind ein unspielbarer Witz. Wie viele Plätze gibt es noch gleich im Thalia Theater? Waren das nicht um die 1.000 jeden Abend? Ein Vorschlag unter 500 Stimmen sollte nicht einmal in Erwägung ziehbar sein – Mindestwahlbeteiligung heißt das in demokratischen Prozessen. Oder 5%-Hürde. Dafür gibt es Wahl-Regularien. Außer bei euch natürlich.
Dabei sind ja die wirklichen „Unfälle“ noch nicht einmal eingetreten. Theaterverlage haben die Chance nicht wahrgenommen, durch kluge Mobilisierung ihrer Ressourcen eigene Texte zu pushen. Und schon gar haben theaterferne Radikalgruppen bisher offenbar keinen Einfluss auszuüben versucht. Von „feindlicher Übernahme“ zu faseln ist also zumindest verfrüht, wenn nicht gänzlich unangemessen. Mit ein wenig Phantasie lassen sich „feindliche Übernahmen“ denken, die das Haus tatsächlich in eine bedrohliche Situation bringen könnten – und das Thalia hätt sich die Schuld auch daran selbst zurechnen müssen, da kein „Notaus“-Schalter im Regelwerk vorgesehen ist, keine Peer-Review, keine Mindestanforderung hinsichtlich rassistischer, faschistoider oder werblicher Inhalte. Ist das schlau … oder ist das nicht vielmehr unglaublich … Don’t call me stupid.
Die Lösung?
Ihr habts euch eingebrockt – jetzt löffelts aus. Und zwar ohne Verunglimpfung derer, die ihr vielleicht spielen müsst. Budget, Besetzung, Leitung, Ausstattung wie es sich gehört.
Wenn nicht – müsst ihr wirklich Eier haben und ohne Rücksicht auf das Echo die Aktion vor ihrem Ende beenden, absagen, zurückrufen. Mea Cupla – wir habens verbockt. Für alle Einreicher zwei Freikarten mit Pausenkaltgetränk. Vorschläge heben wir auf fürs nächste Jahr, wenn wir die Publikumswahl mit solider Vorbereitung, klaren Vorstellungen und Zielen und klarem Regelwerk erneut aufsetzen und starten.
Und da das Thalia vermutlich beides nicht will, wird jetzt geschehen: Wahlmanipulation. Man aktiviert Mitarbeiter, Freunde, Bekannte, Unterstützer, um im Rahmen der Schadensbegrenzung eigene Kandidaten aufzustellen und durchzudrücken – unter dem Motto des Thaliarettervorschlags „Wir sind noch einmal davon gekommen“. Gut, dass es keine Wahlbeobachter gibt…
Quintessenz
Was ich bei alledem ganz interessant finde, ist die Teilnehmerzahl: Über 700 Einreichungen zusammen gerechnet. Eine solide aufgesetzte Aktion hätte vielleicht doch Potenzial, das Publikum zu involvieren. Beim nächsten Mal dann.
Nachtrag: Bei Deutschlandradio Kultur gibts hier ein Interview mit dem Intendanten Joachim Lux zu der Publikumswahl. (via Affektblog)
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