Interessantes tut sich rund um die sogenannten Demokratisierungsversuche des Thalia Theaters – und es beginnt ein Theater rund um das Theater, das vermutlich weitaus interessanter ist als die Frage, was denn am Ende wirklich gewinnen wird. Natürlich ist Klugscheisserei hinterher einfacher als die solide Organisation eines Partizipationsprozesses – diese Einfachheit erlaube ich mir ebenso wie das Recht, meine anfängliche Beeindrucktheit jetzt der nüchternen Betrachtung weichen zu lassen. Denn zu beobachten ist hier zunächst ein zukünftiger Lehrbuchfall missverstandener Demokratisierung, den zu betrachten sich lohnt jenseits der bloßen und letztlich ziemlich irrelevanten Frage, was an einigen Abenden in einem Hamburger Theater demnächst läuft. Zudem ist hier das eigentlich erste Erscheinen eines zukunftsträchtigen Theaters festzustellen, von dem am Ende dieses Postings zu handeln sein wird.
Das Projekt: Mehr Demokratie gewagt – oder nur Lux und Dollerei?
Das Thalia beschreibt die Aktivität als Demokratisierung eines Dienstleistungsunternehmens. Der Intendant äußert hier im Interview sein Interesse daran, was denn das Publikum wirklich sehen will – und sei es Harry Potter. Anders ließe sich beschreiben: Die von einem demokratischen Gemeinwesen – der Stadt Hamburg – als verantwortliche Leiter einer städtischen Einrichtung Eingesetzten entziehen sich ein Stück weit der ihnen vom Gemeinwesen zugewiesenen Aufgabe der inhaltlich-konzeptionellen Ausrichtung dieser Institution und der damit verbundenen Verantwortung der von den Bewohnern des Gemeinwesens aufgebrachten Finanzmittel. Man lässt eine nicht begrenzte und undefinierte Gruppe von Menschen darüber entscheiden, was stattfinden soll. Wir spielen, was irgendwer will. Was auch immer, wer auch immer. Es muss nur eine ausreichend große Zahl von Stimmen zusammenkommen. Man könnte die Bewohner Hamburgs ebenso gut dazu verpflichten, Regenschirme aufzuspannen, wenn es in Australien regnet. Die Fremdbestimmung durch die – sich selbst als undemokratisch verstehende – Theaterleitung wird potenziell abgegeben in eine andere Fremdbestimmung durch irgendwen.
Was heißt demokratische Entscheidung? Wer entscheidet was für wen in demokratischen Entscheidungsprozessen? Ich will gar nicht behaupten, dass sich diese Frage einfach so nebenbei in einem Satz oder einem Posting beantworten ließe. Die Problematik der Spielplanwahl reißt lediglich ein Feld auf, das an die Wurzeln des Demokratieverständnisses reicht. Natürlich stellt es sich für S21 in ähnlicher Weise. Wer entscheidet hier? Die Stuttgarter – weil der Bahnhof in ihrer Stadt liegt? Die Reisenden, weil sie vom Bau betroffen sind und potenziell profitieren? Die lokale Wirtschaft, der durch den Bau Gelder in die Kasse gespült werden? Die Finanzpolitiker, die unterschiedliche Projekte gegeneinander abwägen müssen?
Wer nicht verstanden hat, dass die Entscheidungszuweisung und die Definition des entscheidungsberechtigten Kreises eine der grundlegenden Aufgaben der Organisation demokratischer Prozesse ist – hat von der Demokratie vermutlich nicht viel verstanden. Er (oder sie) versteht nicht die politische Gliederung von demokratischen Strukturen wie des föderalen Staatssystems, mit seinen Kommunal‑, Länder- und Bundesebenen. Er (oder sie) versteht nicht, wo und inwiefern die Europäische Union ein Demokratiedefizit hat. Und er (oder sie) versteht letztlich auch nicht den fundamentalen Unterschied von Aristokratie, Ochlokratie, Plutokratie und Demokratie.
Wer hätte über den Thaliaspielplan zu entscheiden wenn denn eine „Demokratisierung“ der Spielplangestaltung gewünscht wird? Die Abonnenten, die vermutlich am meisten „betroffen“ sein werden von der Entscheidung? Die Nichttheatergänger, die wieder ins Theater gehen wollen, sich aber vom bisherigen Spielplan nicht angesprochen fühlen? Die Hamburger Bürger, zu deren Gemeinwesen das Theater gehört, für das sie mit ihren Steuermitteln aufkommen? Die Theaterliebhaber der Welt? Sind diejenigen, die von der Entscheidung unmittelbar betroffen sein werden, allein entscheidungsberechtigt? Wem gebührt – und das ist die demokratische Grundfrage – die Macht der Entscheidung, wenn die Intendanz diese Macht zumindest partiell abgeben will?
Man kann und sollte dem Thalia vorwerfen, sich dieser Frage nicht gestellt oder sie nicht beantwortet zu haben. Und man kann nun verfolgen, was die Konsequenzen der vermiedenen Antwort sind – indem man sich anschaut, was sich in den letzten Tagen und Wochen getan hat. Denn es finden sich hier komödiantische Varianten demokratischer Verwerfungen, die aus anderen Zusammenhängen bestens bekannt sind.
Die Machtergreifung der Interessengruppen
Wie sich an den Zwischenständen ablesen lässt, haben als erstes Einzelne oder Gruppen den Griff nach der Macht versucht, die unmittelbar selbst von der Entscheidung profitieren würden: Autoren wenig bis gar nicht gespielter Stücke, die das Interesse verfolgen, durch Aufnahme in den Spielplan Renommee und Tantiemen zu erlangen. Eine direkte lokale Verbindung nach Hamburg ist nicht auszumachen. Es handelt sich offenbar nicht um Besucher des Thalia sondern Produzenten, die die Gelegenheit wittern, wirtschaftliche Interessen (im weitesten Sinne) zu verfolgen. Und deren Interesse gepaart mit einem „Freundeskreis“ ist groß genug, die vorderen Plätze in der Rangliste zu erobern. Denn zugleich tut die betroffene Gruppe der Hamburger Theatergänger, was zu erwarten war: Jeder verfolgt ein kleines Partialinteresse – was in der explosiven Zunahme an Vorschlägen mündet, die eine bis einige wenige Stimmen erhalten.
In demokratischen Wahlprozessen wurde gegen dieses Phänomen eine Absicherung eingezogen: Wahlvorschlag und Stimmabgabe werden üblicherweise streng voneinander getrennt. Zunächst erfolgt die Aufstellung einer Kandidatenliste, wobei die Kandidaten in einigermaßen transparenten Prozessen in der Zahl begrenzt werden. So sind etwa bestimmte Unterstützerzahlen vonnöten, um überhaupt als Kandidat zugelassen zu werden. Oder es ist eine Auswahl durch bestimmte Gruppen – etwa Parteien – vorgeschaltet, die selbst wieder nach (idealiter) transparenten und demokratischen verfahren Kandidaten oder Kandidatenlisten aufstellen. Schon diese Prozesse und Verfahren sind voller möglicher Unfälle, unerwünschter Einflussnahmen oder haben Transparenzdefizite. Trotzdem sollen sie dafür sorgen, dass die beim Thalia gerade zu beobachtende Gefahr einer Zersplitterung in eine Vielzahl einerseits, die Bevorzugung durch starke Interessen vereinter und mit hinreichendem Einfluss ausgestatteter Gruppen andererseits zu verhindern.
Die Reaktion der anonymen Empörten
Als sich die Spitzengruppe abzeichnete, war plötzlich die Bereitschaft zur Empörung groß: Von „feindlicher Übernahme“ war auf der Facebookseite des Thalia die Rede. Und es bildete sich eine neue Gruppe mit einer eigenen Facebookseite, die die Empörten um sich zu versammeln unternahm – und eine eigene Liste aufzustellen begann. Unter dem Pseudonym „Friedrich T.halia Wilder“ (Update 2015: Facebook-Page inzwischen offline) unternahm ein offensichtlich Empörter, über den interessanterweise auf seiner Facebookseite keinerlei Informationen zu finden sind, die Zusammenstellung von drei Stücken aus dem durchaus konservativen Dramenrepertoire – mit dem Ziel der Schadensbegrenzung. Es findet sich kein Hinweis bei ihm darauf, dass die von ihm ausgewählten Stücke inhaltlich besonders sinnvoll wären. Vielmehr scheint ein „kleinster gemeinsamer Nenner“ das ausschlaggebende Kriterium zu sein sie auf den Spielplan zu hieven. Es wird also von den Vielen, die ihre einzelnen Vorschläge eingereicht haben (oder auch noch nicht haben), verlangt auf selbstbestimmte Auswahl zu verzichten, um – so sagt es auch das Profilbild – das Thalia zu retten vor den „feindlichen Übernahmen“. Zwei der zu nominierenden Stücke wurden bereits mit Start der Facebookseite benannt. Ein Drittes wurde aus etwa einem Dutzend durch kreative Umnutzung der „Gefällt mir“ Funktion von den Seitenfans „gewählt“. Dabei sind die abgegebenen Stimmen für dieses dritte Stück verschwindend gering. Es geht hier also nicht um inhaltliche Vorschläge – sondern lediglich um die Gegenreaktion zur ersten Gruppe der selbstinteressierten Autoren. Eine in ihrer Trolligkeit bemerkenswerte Aktion, die aber bei den aktuellen „Machthabern“ scheinbar auf Sympathie trifft. So betrachtet handelt es sich um die aus vielerlei Zusammenhängen bekannten bezahlten Claqueure, die auch in den allerletzten Phasen der despotischen Regierungen des Maghreb noch mobilisiert werden konnten, um die alten Machthaber zu stützen. Denn es vereint sie inhaltlich nichts anderes als der unbedingte Wille, möglichst nichts zu ändern. „Wir sind noch einmal davongekommen“ – dürfte wohl eher als Kommentar der Situation zu verstehen sein, denn als wirklich dringlicher Wunsch, den Schultheaterschrott von Thornton Wilder nochmals zu sehen.
Rückrufaktion der Macht
Inzwischen tut wohl auch das Thalia das, was zu erwarten war: Sich scheinbar der „demokratischen“ Öffnung hingebend, setzt man auf die eigene Netzwerk- und Medienmacht, um die Wahl zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Eine Methode, die ebenfalls aus pseudodemokratischen Zusammenhängen wie dem Italien Berlusconis bestens bekannt: Jaja, klar sollt ihr wählen. Aber ich nutze meine mediale Macht, um eure Präferenzen so zu beeinflussen, wie es mir behagt. Man mag es als Zufall betrachten, dass ernst zu nehmende Demokratien sehr genau den Einfluss politischer Parteien und Akteure auf Massenmedien beobachten und zu begrenzen versuchen (auch wenn parteipolitische Gefräßigkeit in vielen dieser Medien dazu führt, dass die guten Absichten an Kungeleien und Proporzentscheidungen in Hinterzimmern, Medienräten und anderen Aufsichts- oder Entscheidungsgremien zu scheitern drohen) – die vermutlich unreflektierte Einflussnahme des Thalia allerdings zeigt, wie leicht und schnell „die Macht“ bei der Hand ist, ihre eigenen Positionen durch Einsatz ihrer Medienmacht zu stabilisieren..
So hat also wohl das Thalia per Newsletter einen Versuch gestartet, die Wahl inhaltlich zu beeinflussen und eigene Vorstellungen zu promoten. Das jedenfalls geht aus einigen Hinweisen hervor – etwa auf nachtkritik. Der Newsletter liegt mir bisher nicht vor – falls ihn jemand hat: Bitte schicken an kontakt@postdramatiker.de. Dann werde ich diesen Absatz hier updaten.
Unfreundliche Mächte oder befreundete Übernahme?
Eine etwas undurchsichtige, aber durchaus aktive Rolle hat Kampnagel in Hamburg eingenommen. Auf Facebook postete man hier den Aufruf, für die Wiederaufführung des Black Rider von Wilson zu voten. Und nicht nur das: Kampnagel fragte Wilson auch direkt an, ob er das nicht übernehmen wolle – und der sagte zu. Was ist davon zu halten? Liest man den Text auf Facebook dazu, klingt es nach einer „freundliche Übernahme“ gegen Wunsch und Willen des Thalia Theaters:
Eigentlich hatte uns Thalia-Geschäftsführer Ludwig von Otting verboten, weiterhin über das Thalia Theater und Intendant Luxy zu schreiben. Nun erreichte uns aber ein Hilferuf, weil eine derzeit laufende Online-Abstimmung des Thalia Theaters zum Desaster zu werden droht: Der neue Thalia-Philosoph Carl Hegemann hatte durchgesetzt, das Publikum über Stücke für die nächste Spielzeit abstimmen zu lassen. Die Bürger sollten sich ihr Käthchen selbst besorgen. Nun haben aber unterbeschäftigte Autoren ihre Chance erkannt und ihre Freunde zur Abstimmung für Stücke wie „Die Erbsenfrau“ motiviert, welche derzeit die Liste anführen. Hoffnung gibt es erst auf Platz 8, wo Robert Wilsons legendäres Stück „Black Rider“ mit 20 Stimmen steht. Wir haben deswegen gestern dem amerikanischen Welt-Regisseur Wilson eine Mail geschrieben: {…} Und jetzt Sie: Schicken Sie bitte eine E‑mail an das Thalia an: spielplanwahl@thalia-theater.de mit dem Betreff The Black Rider restaged vom Bob und schicken in der Mail Ihren Namen und ihre Adresse. Mehr nicht — Sie retten mal eben das Thalia Theater und holen Bob nach Hamburg.
Eine Allianz also wiederum gegen die „unterbeschäftigten Autoren“ – auch hier also bloße „rettende“ Gegenbewegung, ergänzt um die Auswahl einer auf der Liste befindlichen Position – erweitert um die organisatorische Initiative. Man kann fragen, ob und inwieweit das Thalia mit in der Sache steckt – und damit einen schmutzigen Weg gefunden hat, die selbst auferlegte Enthaltung zu umgehen. Handelt es sich um eine Eigeninitiative und damit Wahlhilfe einer befreundeten Macht? Man möchte sich ja schon fast der ernsthaften Nachfrage entziehen, was es mit dem „Hilferuf“ wohl auf sich habe, weil die schmissig geschriebene, launige Einlassung doch gar so sehr den Wind ernsthafter Diskussion aus den Segeln zu nehmen scheint. Aber die Inszenierungsfachleute wissen natürlich genau genug, warum sie reden wie sie reden – das ist ihr Beruf. Es gilt, ein „Desaster“ zu vermeiden. Klingt jetzt nicht so wahnsinnig lustig.
Man scheint bei Kampnagel auch keine Probleme damit zu haben, auf jeder Plattform ein eigenes kleines Schmierenkomödchen aufzuführen. Wo also aus Facebook die Rettung vor dem Desaster gestartet wird – da behauptet man auf nachtkritik, dass es sich um eine großartige Aktion handele:
Dass Carl Hegemanns demokratische Partizipations-Aktion ein Coup ist, zeigen nicht nur die Kommentare und Verschwörungs-Vermutungen hier, sondern auch die ungewöhnliche Platzierung von Stücken auf der aktuellen Hitliste. Den Mut haben jedenfalls andere Dramaturgien nicht, sich auf so ein offenes Spiel mit allen Konsequenzen und Beschimpfungen einzulassen.
Aha. Auf Facebook wird eine Wahlbeeinflussung losgetreten, mit direkter Kontaktaufnahme zu einem Regiekandidaten. Und auf nachtkritik wird die Notwendigkeit einer Rettung abgestritten – oder wie soll sonst die jubelperserhafte Lobpreisung Hegemanns zu verstehen sein? Was denn nun? Hat Hegemanns Aktion ein drohendes Desaster verursacht – oder ist er der große Demokrator? Übrigens könnte die Fortsetzung des Kampnagelkommentars direkt von Erich Honnecker stammen:
Denn alleine die Kommentare auf der Thalia-Seite zeigen, dass sich die Hamburger nichts mehr wünschen, als nochmal THE BLACK RIDER zu sehen („total ausgebucht, ich konnte keine Karte bekommen, dem trauere ich immer noch nach“). Das Stück wäre immer voll, wir denken dabei also auch an unsere Freunde vom Thalia-Theater.
Richtig, den Wilson in seinem Lauf halten weder Ochs noch Otting auf. Richtig – Demokratisierung heißt, wenn eine bedrohte Institution oder ihr ästhetischer Bruderstaat es besser wissen als das Volk. Das Volk wünscht Wilson statt Reformen – auch wenn das Volk das selbst vielleicht gerade noch nicht weiß. Hamburger Frühling? Abgesagt. Kampnagel marschiert mit Wilson im Thalia ein. Erbarmen! Zu spät – die verkampnagelten Russen kommen. Und in der Mail an Wilson behauptet Kampnagel jedenfalls, dass Thalia selbst mit in dieser Manipulation steckt:
The Thalia Theatre in Hamburg is in a mess. They have started an online vote to let the audience decide about 50% of their program for next season. Some unknown, supposedly bad writers with new media skills have activated all their friends to vote for their own plays and are now leading the election-list. Now the Thalia Theater has asked me to help them. There’s little hope for them, as your Black Rider is number 8 on the list. Would it be ok for you, if we try to push it with our Kampnagel-newsletter? (Hervorh. Von mir)
Also doch unheilige Allianz von Kampnagel und Thalia? Das ist die Demokratie von der Intendant Lux im Deutschlandradio Interview sprach? Nochmal zum genießen:
Lux: … Das heißt ja nicht, dass man jetzt in Permanenz alles per Volksabstimmung zur Disposition stellt, aber Sie haben es vorhin in der Anmoderation schon gesagt, wir leben ja in einem Verhältnis zu unserer Demokratie, das in den letzten Jahren öfters problematisch geworden ist, wo ja viele — also insbesondere die Grünen basisdemokratische Elemente viel deutlicher verankert haben möchten. Warum? Um die Partizipation der Bürger an dem, was sie tun, zu erhöhen. Das ist ja eine Grundtendenz in unserer Gesellschaft, auch übrigens in den sozialen Ausformulierungen der jeweiligen Bezirke und Gemeinden, da gibt es ja auch immer Tendenzen, wo man sagt: So, wir wollen jetzt hier — weiß ich nicht — eine Treppe bauen, oder wir müssen da am Kirchplatz drei Bäume hinpflanzen. Es gibt einfach diese Grundtendenz, dass die Bürger wieder mehr …
Führer: … wieder mehr Demokratie …
Lux: … mehr Demokratie wollen oder mehr Beteiligung jedenfalls. (Hier; “Führer” ist übrigens der Name der Interviewerin Susanne Führer — nur um hier Missverständnisse zu vermeiden …)
Selbstverortung in der Tendenz zu mehr demokratischer Beteiligung – und dann Wahlmanipulation? Natürlich ist diese theatrale Demokratie nur eine Komödie – nichts aber auch gar nichts hängt politisch davon ab, was das Theater auf den Spielplan setzt. Aber den großen Worten so kleingeistige und schmuddelige Taten folgen zu lassn zeugt von einem Demokratieverständnis, das einem Theater nicht würdig ist.
Man könnte glauben, das sei nur die paranoide Vorstellung eines einzelnen Bloggers. Aber immerhin in der Berliner Zeitung findet sich hier (und hier auch in der Frankfurter Rundschau) ein in ähnliche Richtung weisender Kommentar:
Zum Thema: Wie torpediere ich die Direkte-Demokratie-Projekte eines Konkurrenten?, gibt die Hamburger Off-Spielstätte Kampnagel ein Beispiel. Unter dem Slogan: „Ein Herz für das Theater“ wird dazu aufgerufen, für das eben noch auf Platz acht liegende Musical „Black Rider“ von Robert Wilson und Tom Waits zu votieren, das bereits im Thalia lief. Wenn jetzt die Wilson-Freunde gewinnen (bestimmt mehr als 139), würde man die Thalia-Intendanz zwingen, sich in den Schatten eines Vorvorgänger-Erfolges zu stellen. Und während dieser Text entsteht, rutscht „Black Rider“ bereits auf Platz eins (166).
Freunde – ihr wollt Demokratie fördern und bedient euch Mechanismen, die ihr in demokratischen Zusammenhägen ablehnen würdet. Oder wie würde es euch gefallen, wenn die Türkische Regierung die in Deutschland lebenden türkischstämmigen Mitbürger klar zur Wahl eines bestimmten Kandidaten auffordern würde? Ist das die heraufbeschworene Demokratie – oder ist es so oder so nur ein ziemlich klebriges und höchst undemokratisches Verfahren, um die eigene Kommunikationsmacht für eigene Zwecke einzusetzen?
Es ist ja nicht, so dass etwa nur hier im Blog dieses zwielichtige Gehabe kritisiert würde – auch auf der verehrten nachtkritik finden sich zur Spielplanwahl interessante Kommentare. So postete eine „Lina“:
Also, irgendetwas ist da faul. Da soll das Publikum über vier Inszenierungen der nächsten Spielzeit abstimmen und von allen Seiten wird manipuliert. Kann denn bitte mal jemand vom Thalia oder von Kampnagel öffentlich dazu Stellung nehmen?
Nun – wer ist das Volk? Ein anderer Kommentator eröffnet eine potentielle neue Variante der „Übernahme“ des Spielplans, die er insbesondre in der Wahl seines Pseudonyms aufscheinen lässt. Er nennt sich „Occupy Thalia“ und schreibt:
Jedenfalls brauchen wir jetzt eine Facebook-Aktion für diese unbequemen Stücke, die das Thalia wegdrücken will, falls die Zählungen nicht auch manipuliert werden, wovon ausgegangen werden muß.
Noch ist nicht zu sehen, dass tatsächlich Initiativen der Aktion bemächtigen, die sie wiederum für eigene, eigentlich untheatrale, allgemeinpolitische oder wirtschaftliche Zwecke für sich zu Nutzen zu machen versuchen. Aber warum eigentlich sollte die „Occupy“-Bewegung nicht versuchen, das Thalia vier Inszenierungen lang über die wirtschaftlichen Zusammenhänge informiert zu werden und nachzudenken? Occupy erwähnt die Möglichkeit einer Klage gegen das Vorgehen des Theaters – was insofern nicht rein akademisch ist, da es sich bei der Aktion in humorloser Juristigkeit wohl um ein Gewinnspiel handelt, dessen Manipulation Gerichte gar nicht so wahnsinnig akzeptabel finden.
Wer sich in Demokratie begibt, kommt dabei um … einige Erfahrungen reicher wieder heraus
Wie schon Putin nach der vergangenen Duma-Wahl sagte: „Das ist das beste Resultat, das wir angesichts der Lage in unserem Land erzielen konnten.” Inzwischen geht es längst nicht mehr um lustige Spinnereien über mögliche Harry Potter Inszenierungen, Musicals oder interessante Publikumswünsche. Inzwischen ist ausgebrochen, was in Demokratisierungsprozessen halt so ausbricht. Trolle versuchen sich an die Macht zu bringen. Interessengruppen versuchen, sich in Stellung zu bringen. Die Konservativen versuchen die alten Strukturen zu bewahren. Die Machthaber finden, dass das mit der Demokratie nicht so gemeint war. Ihre Verbündeten springen ihnen bei und unterstützen sie mit hilfreichen oder Danaer-Geschenken. Ein 1A-Komödie entspinnt sich hier. In deren Verlauf mit jedem neuen Vorschlag auf der Liste der eingereichten Stücke die Frage, was denn gespielt wird, weniger relevant wird. Eine potenziell endlose Abfolge von Belanglosigkeiten, deren Belanglosigkeit mit jedem weiteren Vorschlag nur immer weiter zunimmt. Ob hier die Ehe des Herrn Mississippi oder Senf mit Würstchen gespielt wird – ist völlig unerheblich. Jeder Text, der sich auch dieser Liste findet, nimmt einen kaum wieder gut zu machenden Schaden. Weil er Teil eines Kram- und Trödelladens, Verlierer eines banalen Wettkampfs, Unterlegener in einer Auseinandersetzung ist, in der es längst um ganz anderes geht , als um die Texte und die Spielplanpositionen. Es geht um: die Macht.
Die wollte das Theater zu Beginn ein wenig abgeben. Und stellt nun, da sich andere dieser Macht bemächtigen fest, dass es sich in der Position der geringeren Macht schlechter leben lässt. Freie Entscheidung – jaja, schon. Aber bitte: Keine Autoren, die wir scheiße finden. Wäre ja noch schöner. Und in den Kommentaren auf nachtkritik beginnt sich allmählich ein Shitstorm zu formieren – ein Phänomen, für das sich auch die Publikumspresse sehr interessiert. Mal schauen, wann die großen Medien wie SpOn oder ZEIT Online aufspringen.
Das Theater der Demokratie
Wie eingangs gesagt, geht es gar nicht so sehr darum, diese eine Aktion zu bewerten, die Beteiligten zu diffamieren oder zu klugscheißen. Vielmehr ist hoch interessant, wie sich an solch einer eigentlich vernachlässigbar kleinen „Demokratisierung“ Prozesse beobachten lassen, die sich in anderen demokratischen Prozessen – in denen es um Wesentliches geht – ebenso sehen lassen. Tatsächlich also spielt sich hier ein Theater der Demokratie ab – ein Theater spielt Demokratie in einem improvisatorischen Mitmachtheater und führt dabei – vermutlich ungewollt, wenn nicht ein dramaturgischer Teufel am Werke ist – ein veritables Netztheaterstück auf. Diese Produktion des Thalia, nennen wir es „Das Drama der Demokratie“, gehört deswegen meines Erachtens auf die Nominierungsliste des Mühlheimer Dramatikerpreises des kommenden Jahres. Seit langem hat kein Theater es in ähnlicher Weise geschafft, eine größere Menge von Menschen in eine theatrale Aktion einzubinden (und Kampnagel feier ja zurecht im nachtkritik-Kommentar die Breite und Intensität der sich entspinnenden Diskussion rund um das Theater und diese Aktion), die allen Beteiligten am eigenen Leibe erfahren lässt, was es mit Demokratie, Mitbestimmung, Partizipation wirklich auf sich hat. Eine in dieser Hinsicht grandioses Projekt, dem es gelingt, lang verschüttete, halb- oder unbewusste demokratische Prozesse offen zu legen, sie in ihrer ganzen Fragilität, Bedrohlichkeit, Missbrauchs- und Unfallanfälligkeit darzustellen.
Mag also die Spielplanwahl eigentlich nur ein Kasperletheater sein – die (schein)partizipative Dynamik im Netz macht aus dieser Produktion eine zukunftsweisende Arbeit. Und das übrigens meine ich ernst. Wer sich mit dieser Produktion beschäftigt, lernt so viel über Demokratie, Macht, Einfluss wie seit der Orestie darüber nicht mehr in Theatern zu lernen war. „Pathei mathos“ hieß es bei letzterem: Durch Leiden lernen. Ich erlaube mir umzuformulieren: pathei demokratos. Durch leiden wird man Demokrat.
Man wird erkennen, dass hier vielleicht die Geburtsstunde eines neuen Theaters ist, das zumindest eine Spielart eines zukünftigen Netztheaters für Surfer ist. Was in diesen Theatern auf den Bühnen gespielt wird, ist dabei übrigens letztlich gar nicht so entscheidend.
[…] die Diskussion etwas differenzierter aus. Insbesondere Postdramatiker berichtete sehr fundiert und wiederholt über die Aktion. Axel Kopp und Christian Henner-Fehr begrüssten das Experiment und kritisierten […]