Wenn also Massenmedien die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben, so konstruieren und darstellen, dass unser Wissen über diese Geselslchaft mehr oder minder aus den Massenmedien stammt (Luhmann) — was bleibt dann einer darstellenden Kunst noch zu konstruieren? Sich ein Bild von der Welt zu machen, kann es kaum sein. Denn gegen das massenmediale Bild von Fernsehen und Zeitungen kann es nicht ankommen, dafür ist Theater zu langsam, ihm fehlen die personellen und finanziellen Mittel. Und das Publikum ist viel zu klein. In diesem Zusammenhang bin ich über einen kleinen Brecht-Text von 1955 gestolpert, der sich dem Problem der Darstellbarkeit der Welt widmet und dazu Stellung bezieht. Was Brecht im Angesicht der atomaren Bedrohung schreibt, lässt sich eventuell auch über die Welt im Angesicht der monetären Bedrohung noch einmal sagen. Ich zitiere ihn in ganzer Länge unkommentiert. Die Fettungen sind allerdings von mir.
Brecht – Über die Darstellbarkeit der Welt auf dem Theater
Mit Interesse höre ich, daß Friedrich Dürrenmatt in einem Gespräch über das Theater die Frage gestellt hat, ob die heutige Welt durch Theater überhaupt noch wiedergegeben werden kann.
Diese Frage, scheint mir, muß zugelassen werden, sobald sie einmal gestellt ist. Die Zeit ist vorüber, wo die Wiedergabe der Welt durch das Theater lediglich erlebbar sein mußte. Um ein Erlebnis zu werden, muß sie stimmen.
Es gibt viele Leute, die konstatieren, daß das Erlebnis im Theater schwächer wird, aber es gibt nicht so viele, die eine Wiedergabe der heutigen Welt als zunehmend schwierig erkennen. Es war diese Erkenntnis, die einige von uns Stückeschreibern und Spielleitern veranlaßt hat, auf die Suche nach neuen Kunstmitteln zu gehen.
Ich selbst habe, wie Ihnen als Leuten vom Bau bekannt ist, nicht wenige Versuche unternommen, die heutige Welt, das heutige Zusammenleben der Menschen, in das Blickfeld des Theaters zu bekommen.
Dies schreibend, sitze ich nur wenige hundert Meter von einem großen, mit guten Schauspielern und aller nötigen Maschinerie ausgestatteten Theater, an dem ich mit zahlreichen, meist jungen Mitarbeitern manches ausprobieren kann, auf den Tischen, um mich Modellbücher mit Tausenden von Fotos unserer Aufführungen und vielen mehr, oder minder genauen Beschreibungen der verschiedenartigsten Probleme und ihrer vorläufigen Lösungen. Ich habe also alle Möglichkeiten, aber ich kann nicht sagen. daß die Dramaturgien, die ich aus bestimmten Gründen nichtaristotelische nenne, und die dazugehörende epische Spielweise die Lösung darstellen. Jedoch ist eines klargeworden: Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Weit beschrieben wird.
Für heutige Menschen sind Fragen wertvoll der Antworten wegen. Heutige Menschen interessieren sich für Zustände und Vorkommnisse, denen gegenüber sie etwas tun können.
Vor Jahren sah ich ein Foto in einer Zeitung, das zu Reklamezwecken die Zerstörung von Tokio durch ein Erdbeben zeigte. Die meisten Häuser waren eingefallen, aber einige moderne Gebäude waren verschont geblieben. Die Unterschrift lautete: Steel stood ‑ Stahl blieb stehen. Vergleichen Sie die Beschreibung mit der klassischen Beschreibung des Ätnaausbruchs durch den älteren Plinius, und Sie finden bei ihm einen Typus der Beschreibung, den die Stückeschreiber dieses Jahrhunderts überwinden müssen.
In einem Zeitalter, dessen Wissenschaft die Natur derart zu verändern weiß, daß die Welt schon nahezu bewohnbar erscheint, kann der Mensch dem Menschen nicht mehr lange als Opfer beschrieben werden, als Objekt einer unbekannten, aber fixierten Umwelt. Vom Standpunkt eines Spielballs aus sind die Bewegungsgesetze kaum konzipierbar.
Weil nämlich ‑ im Gegensatz zur Natur im allgemeinen ‑ die Natur der menschlichen Gesellschaft im Dunkel gehalten wurde, stehen wir jetzt, wie die betroffenen Wissenschaftler uns versichern, vor der totalen Vernichtbarkeit des kaum bewohnbar gemachten Planeten.
Es wird Sie nicht verwundern, von mir zu hören, daß die Frage der Beschreibbarkeit der Welt eine gesellschaftliche Frage ist. Ich habe dies viele Jahre lang aufrechterhalten und lebe jetzt in einem Staat, wo eine ungeheure Anstrengung gemacht wird, die Gesellschaft zu verändern. Sie mögen die Mittel und Wege verurteilen — ich hoffe übrigens, Sie kennen sie wirklich, nicht aus den Zeitungen ‑, Sie mögen dieses besondere Ideal einer neuen Welt nicht akzeptieren ‑ ich hoffe, Sie kennen auch dieses ‑, aber Sie werden kaum bezweifeln, daß an der Änderung der Welt, des Zusammenlebens der Menschen in dem Staat, in dem ich lebe, gearbeitet wird. Und Sie werden mir vielleicht darin zustimmen, daß die heutige Welt eine Änderung braucht.
Für diesen kleinen Aufsatz, den ich als einen freundschaftlichen Beitrag zu Ihrer Diskussion zu betrachten bitte, genügt es vielleicht, wenn ich jedenfalls meine Meinung berichte, daß die heutige Welt auch auf dem Theater wiedergegeben werden kann, aber nur, wenn sie als veränderbar aufgefaßt wird. (Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Band 23, Schriften 3, S.240/341)
Wenn “unser Wissen über diese Gesellschaft mehr oder minder aus den Massenmedien stammt”, dann gäbe es neben der Veränderbarkeit noch weitere mögliche Ansatzpunkte.
Der erste ist klar — man kann bei jedem Thema auch die Konstruktion dieses Wissens mitreflektieren. Das würde das Theater zur “Frageanstalt” machen.
Die zweite ist nicht so klar, aber in Erinnerung an Negt/Kluge fällt mir der Begriff “Erfahrung” ein, welche die Gegenkraft zum massenmedialen “Wissen” darstellt und letztlich stärker ist als jedes mediale “Wissen”. Theater wäre dann eine “Erfahrungsanstalt” … und darin liegt ja auch der wesentliche Vorsprung des Theaters vor Film oder Fernsehen, nämlich die “Echtheit” des Geschehens: Nur Theater hat körperliche Realität und berührt sich daher mit dem, was man Erfahrung nennen könnte.
Am radikalsten wird dieser Umstand im “unsichtbaren Theater” ausgespielt ( http://is.gd/l8B7XN ), man kann aber auch an “halb-sichtbare” Theaterformen denken wie z.B. “Chance 2000” von Schlingensief, wobei das Theater sich quasi in den ganzen medialen Raum erweitert und zu einer Daueraufführung wird. Alles dies aber Ansätze, die das massenmediale Vor-Wissen durch Gegen-Erfahrungen aufzubrechen versuchen. Das kann ich mir für alle Themen vorstellen, auch für die hintergründigeren und privateren Themen.
(Wobei sich dann schnell die Frage stellt, ob öffentliches Theater heute überhaupt noch der Medialisierung entgehen könnte — es ist ja gar nicht mehr verhinderbar, dass eine Erfahrung im nächsten Moment schon zu einem medialen Ereignis auf Youtube gerinnt.)
Ich stimme dir zu — und der Weg ist ja auch in den letzten 20 Jahren begangen wurden. Erlaubt man sich die Unschärfe des historischen Blicks, der die Gerechtigkeit dem Einzelfall gegenüber zurückstellt für jene Ungerechtigkeit, die Leitlinien und Tendenzen zu eruieren versucht, könnte man formulieren:
Nachdem Film und später Fernsehen sich an die “dramatische” Tradition des Theaters anlehnten, sie aufnahmen, professionalisierten, verfeinerten, durgearbeitet haben und vielfältig erneuerten und veränderten, ist der Medienkonsument des späten 20. Jahrhunderts in die Situation geraten, durch fiktionale dramatische Formate bis zum Erbrechen gesättigt zu werden, die wirtschaftliche Macht der Massenmedien sorgte dafür, dass der Überfluss am Drama einsetzte — und zugleich wurde das Drama, der Versuch also ein konsistent zusammenhängendes Handlungsgebilde zu schaffen, importiert in di sogenannten Nachrichtenformate, die unablässig daran arbeiten, das (z.B. politische) Geschehen in dramatischer Form erzählerisch aufzuarbeiten. Darum gehts ja hier im Blog immer wieder, um diese Erzählungsformen.
Als kritische Gegenbewegung lässt sich dagegen die Fragmentierung, die Abkehr vom Zusammenhang des Anfang-Mitte-Ende-Dramas ebenso verstehen, wie die Betonung der Realpräsenz im gemeinsamen Erfahrungsraum. (Mit aller Verkürzung, die darin liegt, wohlgemerkt). Das “Drama” ist tot.
Was mich aber an dem Brecht-Zitat fasziniert, ist seine tollkühne, nahezu größenwahnsinnige Geste des Aufs-Ganze-Gehens, das nicht nur Veränderlichkeit, sondern Welt in den Blick und das textuelle Theater bringen wollte, ohne sich — wir kennen Brecht — des Dramas zu bedienen. Viel früher schon sagte er:
“Die alte Form des Dramas ermöglicht es nicht, die Welt so darzustellen, wie wir sie heute sehen.” Brecht, Über experimentelles Theater, 47
Kann es der Medialisierung entgehen? Nun, ich würde sagen, Theater müsste sich mit der “Welt” (im Sinne der Luhmann-Paraphrase) unter der Voraussetzung beschäftigen, dass es eine bereits immer mediatisierte Welt ist. Das, was wir als die Welt und die Gesellschaft kennen, in der wir leben, ist eine durch die Massenmedien beobachtet Welt.
Du wirst fragen: Und wie soll das gehen? Ich habe wieder keine abschließende Antwort für dich, außer den Hinweis auf den Namen dieses Blogs, der sich dem bestreben verdankt, darüber und daran zu arbeiten, was denn das Postdrama sein könnte. Und was es heißt, eine “Welt” unter der Bedingung der #MediaDivina zu denken, die Brecht in der gegenwärtigen Form noch nicht kannte, nicht weil er das Internet noch nicht kannte, sondern weil auch das Fernsehen 1955 in Deutschland nur eine klägliche Vorahnung von dem lieferte, dessen wir uns heute rund um die Uhr ausgesetzt sehen.