Eine für die gegenwärtige Überwachungs-Debatte nicht ganz uninteressante Beschreibung zweier para-noider Beobachtungsweisen findet sich bei Anselm Strauss, (Spiegel und Masken, 55f.). Es ist zu tun um die ‘tiefe Interpretation’, die hinter dem Offensichtlichen einen verborgenen, aber eigentlichen Bedeutungsgehalt vermutet und diesen aufzuklären unternimmt, indem die offensichtlichen Artefakte als Symptome oder Wegweiser zur “tieferen” Bedeutung genutzt werden. Interessant daran vor allem, dass Strauss (im Anschluss an Schwartz und Stanton) diese als “wissenschaftliche” durchaus bekannte und akzeptierte Vorgehensweise im psychiatrischen Umfeld betrachtet, genauer in einem Umfeld, das es mit Schizophrenie bzw. schizophrener Para-Noia zu tun hat, damit einem Krankheitsbild, das der ärztlichen Diagnostik nicht unverwandt ist, da es ebenso offensichtliche “Daten” zu einem ‘tiefer’ verborgenen Gesamtzusammenhang kombiniert. Der Psychiater beschreibt dieses Krankheitsbild, das er aus den offensichtlichen “Daten” ableitet, als Wahnvorstellung, ohne dabei vermutlich auf die Idee zu kommen, dass er dieselbe Strategie wie der soeben als wahnhaft diagnostizierte Patient anwendet. Was allerdings gerade dann noch besonders interessant wird, wenn zwei Psychiater aufeinander treffen. Strauss schreibt:
Ist die Bedeutung eines bestimmten Aktes oder einer Reihe von Akten dunkel oder ungewiss — wenn etwa ein Jugendlicher gegenüber einer Mutter ständig sarkastisch ist -, so beginnt der Wissenschaftler, Daten zu sammeln. Diese werden je nach Interesse, Ausbildung und Scharfsicht des einzelnen Forschers variieren; sie können die motivationalen Feststellungen aller Familienmitglieder, Beobachtungen des Kindes und der Mutter, Batterien psychologischer Tests, Schulzeugnisse und Informationen über die soziale Klasse einschließen. Nach einer ausgewogenen Beurteilung der gesammelten Daten kann ein Urteil über die Handlungsgründe des Kindes gefällt werden. Die Terminologie, mit der der Forscher problematische Akte angeht, ist durch ihre systematische Organisation gekennzeichnet, und darin unterscheidet sie sich von vielen nicht-wissenschaftlichen Vokabularien. Aber die technischen Termini verkörpern wie alle Klassifikationssysteme Auffassungen über das Wesen von Welt und Menschen [N.B. beginnt hier eine paranoide Beschreibung durch Strauss? Termini verkörpern Welt- und Menschenauffassungen? U.S.] Es geht mir nicht um die Genauigkeit der Einschätzung des Forschers, sondern darum, wie sie, gleich der des Laien, auf die Interaktion zwischen dem Wissenschaftler und ‘dem anderen’ einwirkt. Die Beziehung ist hier nicht dunkel; wenn ein Psychiater die grundlegenden oder unmittelbaren Motive seines Patienten zu verstehen glaubt, versucht er dieser Einschätzung entsprechend zu handeln. Ein viel subtileres Beispiel mit vielen institutionellen Verzweigungen wird von Schwartz und Stanton in ihrer schönen Studie über eine Station in einer Nervenklinik beschrieben:
‘Das gewöhnlichste, deutlichste und schwerwiegendste Mißverständnis trat ein, wenn jemand, Klinikangehöriger oder Patient, die explizite Bedeutung einer Feststellung oder Handlung ignorierte und die Aufmerksamkeit auf eine abgeleitete Bedeutung konzentrierte. Das war ein sehr häufiger Fehler schwer schizophrener Patienten; seine Folgen gaben seltsamerweise zu dem Glauben Anlaß, solche Patienten besäßen eine fast mysteriöse Intuition. Gleich häufig war der Fehler bei den Psychiatern, so häufig, daß er sich fast zu einer Berufskrankheit steigerte …
… Patienten mit paranoiden Zügen … fühlten sich in einer solchen Umgebung vollkommen zu Hause und trugen energisch zu ihrer Erhaltung bei …
Beschränkung und Aufmerksamkeit auf ‘tiefe’ Interpretation war nicht … auf den Umgang mit Patienten begrenzt; viele Psychiater schienen im Gegenteil stolz den sichtbaren Wert dessen, was ihre Kollegen ihnen mitteilten, zu ignorieren und sich statt dessen auf das, was ihrer Meinung nach ‘wirklich vorgeht’ einzustellen … Information ging häufig verloren … besonders wenn ein jüngeres Mitglied der Ärzteschaft sich bei einem älteren über bestimmte Aspekte der Klinik beschwerte; der Protest wurde dann gern als Übertragungsrebellion interpretiert. Diese Interpretation erfolgte selten, wenn das jüngere Mitglied mit dem Älteren übereinstimmte. Wegen dieser pseudo-tiefen Interpretationen wurde die Kommunikation manchmal so verzwickt, daß die Situation fast mit der Feststellung zusammegefaßt werden könnte: ‘Wenn Sie nicht mit mir übereinstimmen, müssen Sie einen Psychiater aufsuchen.’ …
Wir haben erwähnt, daß diese Mißverständnisse langfristig sein können. Das gilt insbesondere dann, wenn die Mechanismen des Mißverstehens Prozesse der Selbstbestätigung einschließen … Viele schizophrene Patienten tendieren zur Inkohärenz, wenn sie … ohne angemessene Vorbereitung mit einer ‘tiefen’ Interpretation konfrontiert werden. Interpretiert nun der Psychiater oder Klinikarzt diese Inkohärenz als bestätigenden Beweis für seine Interpretation, wie viele es tun, so fühlt er sich oft tatsächlich verpflichtet, auf jede mögliche Weise ‘den Patienten sehen zu machen’, was ‘wirklich vorgeht’, indem er ‘ihn damit konfrotiert’. Geschieht dies, so kann sich das Mißverständnis endlos fortsetzen. Ähnlich wird der junge Klinikarzt, dessen Protest als Rebellion gegen die ‘Vaterfigur’ interpretiert wird, diesen wahrscheinlich fallenlassen, solange er versucht, das Problem in seiner eigenen Behandlung ‘herauszuarbeiten’; während dieser gewöhnlich verlängerten Schweigeperiode findet der Arzt, der die Interpretation eines Übertragungsphänomens machte, wahrscheinlich allein durch dieses Schweigen seine Ansicht bestätigt. Beide Klinikärzte verlieren den Tatbestand aus den Augen, daß der eigentliche Anlaß des Protestes nicht beseitigt worden ist. ( Alle Fettungen von mir; U.S.)
So interessant die Gesamtausführung ist, wird diese Patient-Psychiater-Psychiater-Konstellation auf Terroristen-Geheimdient-Geheimdienst übertragen, so verblüffend einfach überzeugend ist der letze Satz.