Dass es einen FC Bayern München gibt, ist kein Einwand gegen Feierabend- und Amateurfußball in zahllosen örtlichen Vereinen. Und dass letztere nicht auf dem Niveau des Ersteren spielen, eine Selbstverständlichkeit. Denn die zahllosen lokalen Vereine haben eine andere lokal-gesellschaftliche Funktion, als die Champions League Sportler.
Mit Laientheater ist es eine ähnliche Sache. Gewöhnt an die Hochämter der Bühnenkunst in professionellen Häusern, kann man recht schnell zu einer enttäuschten Einschätzung solcher Theateraktivitäten kommen und sich gelangweilt oder frustriert abwenden. Man kann sich aber auch den Eigengesetzen dieser vielleicht nicht einmal im emphatischen Sinne „künstlerischen“, sondern lokal gemeinschaftlichen Form widmen.
Die Trierer Produktion „Stadt in Aufruhr“, produziert für und gezeigt im Rahmen des Festivals „Maximierung Mensch 4:Mensch Marx“ der Universität und des Theaters Trier, ist ein solcher Anlass, die Bewertungskriterien professionellen Bühnentheaters zurückzustellen, um sich dem widmen zu können, was da tatsächlich an Spannendem geschah. Das soll hier versucht werden, weshalb es sich hier eigentlich nicht um eine Kritik handelt, sondern um eine Laienkritik.
Es fanden sich mehr als 60 Trierer (meine Zählung – Veranstalterangaben über 100) unter Anleitung der GRUPPE INTERNATIONAL zusammen, um „Stadt in Aufruhr“ zu geben. Nicht auf einer Bühne, sondern indem die Stadt selbst zur Bühne verwandelt, das Publikum zum Spaziergänger in einer Stadtführung wurde. Erschien der Beginn noch auf üblichem Laien-Niveau, wandelte sich die Aktion später plötzlich in Anderes.
Die ersten Akte: Von damals
Erste Spielstätte war die Kunstbaustelle „Tuftapolis“, ein etwas heruntergekommener Abenteuerspielplatz, auf dem Kinder in Kostümen des Michael aus Lönneberga, Batman, Robin und Pippi Langstrumpf Kleingruppen eine Führung gaben und den Besuchern gesprächig erzählten, was das damals alles war. „Damals“ (so verstand ich) ist das Trier der Gegenwart, denn die Inszenierung siedelte sich in der Zukunft des Jahres 2025 (in Anknüpfung an ein gerade veröffentlichtes Strategiepapier „Trier Zukunft 2025“ der Stadt) an – einer durchaus dystopischen, durchökonomisierten und in einer verelendeten und zutiefst in Reich und Arm gespaltenen Stadt.
Durch Seitengassen, an denen sich Bauankündigungen für Entertainment Center fanden, ging es zum zweiten Akt, einen Garagenhof. Dort wurde das Publikum (geschätzt über 100 Zuschauer) aufgeteilt auf verschiedene Garagen, in denen verkleidete Einzeldarsteller verarmte Trierer gaben, die von einer gemeinschaftlichen Aldi-Plünderung erzählten. Weiter dann auf einen Parkplatz, auf dem vier Darsteller sich als Opfer staatlicher Gewalt der jüngeren Gegenwart (Athen, Tunesien) und der entfernteren Trierer Vergangenheit (ein 1848 von der Polizei in Trier getötete Revolutionär) gaben und ihre Geschichte erzählten.
Der dritte Akt: Der Aufstand beginnt
Spannend wurde es direkt im Anschluss. Die Darsteller mischten sich unter die Zuschauer-Spaziergänger, drückten Dutzenden von ihnen Demo-Plakate mit der Aufschrift „Wir zahlen nicht“ in verschiedenen Sprachen und Dialekten in die Hand und begannen dieselbe Parole skandierend mit dem Publikum weiter zu marschieren. Die überrumpelten Zuschauer hielten brav die Transparente hoch, begannen das „Spiel“ mitzuspielen und ebenfalls „Wir zahlen nicht“ zu rufen. Nach kurzem Weg gelangte dieser Zug auf die belebten Plätze der Trierer Innenstand, auf denen in Straßencafés und Restaurants zahlreiche Gäste saßen und sich verwundert die Augen rieben ob der recht aggressiv skandierenden Truppe, die ihnen da plötzlich begegnete.
Interessant insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Konstellationen und Irritationen: Während die Darsteller die Demonstration geprobt spielten, ließen sich Zuschauer plötzlich spielerisch darauf ein, zu demonstrieren und Parolen zu skandieren – viele der Zuschauer dürften zuvor gar nicht auf die Idee gekommen sein, ernsthaft an einer solchen Demo teilzunehmen. Zudem das „unbeteiligte“ Publikum am Rande, das eine Demo wahrnahm, in der sich aber auch Personen mit historischen Kostümen befanden, was zwar Hinweis darauf sein mag, dass es sich nicht um keine „ernste“ Demo handelt, dennoch aber aufgrund der durchaus für die Stadt relevanten Parolen eben auch nicht reines Spiel war.
Demonstration oder Demo-Version zum Ausprobieren?
Der Demo-Zug kam in der Fußgängerzone immer wieder an Flugblattverteilern (gegen ein ECE in Trier) vorbei, an Transparenten, die aus Fenstern hingen und an Wutreden, die von Balkonen und aus Fenstern von Anwohnern skandiert wurden. Die Stadt verwandelte sich in eine Bühne des Protests. Und am Ende landete der Protestzug vor einer Niederlassung der Hypo-Vereinsbank, schmettert dort sein „Wir zahlen nicht“ – und es war nunmehr kaum mehr zu trennen, was hier Theater ist, wer das Sattfindende als Theater wahrnimmt, wer protestiert, wer den Prostest nur spielt. Ein sehr schönes Vexierspiel, das zudem bei den Zuschauern notwendigerweise die Frage nach der Beteiligung stellte: Kann ich hier mitmachen? Soll ich mein Transparent hochhalten, weil es zum Spiel gehört, oder mich der Protest-Vereinnahmung (ironisch-zuschauend) verweigern? Ist das theatral gespielter Protest – oder ist es eine theatrale Protestaktion gegen die Ökonomisierung der Stadt Trier? Wird der Aufstand hier nur gespielt? Oder beginnt – frei nach Heiner Müller – der Aufstand mit einem Spaziergang?
Nach Abgabe der Transparente wurden hübsch (selbst-)gemachte Nachrichten auf einem Fernseher gezeigt, die von Ausschreitungen in Trier berichten, die den Istanbuler Geschehnissen durchaus ähnlich waren und zumindest doch denkbar machten, dass auch in dieser so ruhigen kleinen Stadt, die ihren Sohn Karl Marx inzwischen vorwiegend als Touristenmagnet und Pop-Ikone inszeniert, musealisiert und gewinnbringend vermarktet, doch eine Form des Widerstands denkbar sein könnte.
Der nächste Akt: Im Zentrum der Macht
Nachdem es (mir jedenfalls) schien, als sei die Sache damit zuende, gings in Busse, die allerdings nicht zum Ausgangspunkt zurückfuhren. Sondern stoppten und die Fahrgäste zwischen einige verkleidete Guy Fawkes Figuren entließen, die die Gruppen in ein Gebäude brachten, das sich als Rathaus und Ratssaal entpuppte.
Das Theater endet im Zentrum der örtlichen Macht, einem seltsam altertümlichen Raum, der wie eine Mischung aus britischem Unterhaus und gotischem Kloster wirkt. Ein seltsamer Ort, auf dessen Ratssitzen sich nun das Publikum nieder ließ – eine durchaus symbolträchtige Idee. Und beeindruckend, dass die Theatertruppe diesen Ort in ihr Spiel einbeziehen konnte. Was dort stattfand (den Wahlkampf dreier bösartig kapitalistischer Trierer um die Eherenbürgerwürde), ist vielleicht gar nicht so interessant und zeigte hier und da auch darstellerische Grenzen. Man wurde multimedial mit professionell gemachten Wahlkampffilmen konfrontiert. Und zwischendrin gab ein Männerchor Gesang zum Besten – was die pseudosakrale Atmosphäre des Ortes schön betonte.
Eine Theaterstadt probt den Aufstand
Thematisch zahlte alles, was geschah, auf die großen Themen der Finanz- und Staatskrisen ein (gelegentlich etwas sehr plakativ) und zugleich auf die Situation der Stadt Trier, schaffte damit die Verbindung der abstrakten Krisenthematik mit der ganz konkreten örtlichen Situation. Die Theatermacher reflektierten sich selbst und ihre Stadt im Zusammenhang der Krise und wussten daraus eine theatrale Aktion mit starken konzeptionellen Ideen zu machen. Man spielte nicht Theater, wie man es sich vorstellt, sondern war sich neuerer Formen sehr bewusst und verstand sie zu nutzen – ebenso wie die ganz alte Form der Verwandlung der Stadt selbst in eine große Stationentheater-Bühne. Das ist eindrucksvoll – und rechtfertigt eben genau die Betrachtung dieses Laientheaters unter seinen eigenen Gesetzen. Es ist kein Bayern München, keine Musentempelkunst, die hier stattfindet. Es ist die Wandlung von Bürgern in Theatermacher. Und damit eine Form der Partizipation, des Mitmachen-Könnens, die einem Champions League Theater mit seinen eigenen Qualitätskriterien überwiegend nicht offen steht. Diese Laien haben tatsächlich etwas zustande gebracht, was Profis so nicht könnten.
All the city’s a stage – und Stadt(Theater) steht auf dem Spiel(plan)
Die Profis, die in Trier an der Produktion beteiligt waren, allerdings tun gut daran, sich mit den Laien zu beschäftigen und vielleicht zu verbünden. Das Theater Trier steht unter massiver finanzieller Existenzbedrohung, könnte sich also in diese Inszenierung hervorragend integrieren: als durch Ökonomen bedrohten Ort der Stadt. Es könnte nicht nur lernen, dass nicht nur Theater sich isoliert gegen die finanzielle Erdrosselung wehren (müssen), sondern dass sich Allianzen mit Bürgern schließen lassen, die – wie theaterfern zunächst auch immer – unter ähnlichem Finanzdruck stehen. Die Theaterprofis des Stadttheaters können auch lernen, dass Theater keine den Bewohnern der Stadt so ferne Kunst ist, wie es gelegentlich erscheinen mag, betrachtet man die maue Unterstützung für die Schließungsproteste des Theaters. Ein Stadttheater, das sich diese eindrucksvolle Arbeit von Theaterbegeisterten und kritischen Geistern genau anschaut, würde vielleicht neu definieren müssen, was denn „Stadttheater“ wirklich heißen kann und „Wozu Theater?“ in Trier gut sein könnte. Nämlich als Theater-in-der-Stadt, für die Stadt und mit der Stadt, notfalls sogar außerhalb des Theaters. Und dass Partizipation – anders als beim FC Bayern – nicht heißen muss, Laien als Statisten einzusetzen, sondern sich als Bürger der Stadt mit den Bürgern der Stadt zu verbinden. Wo die Piraten nur politisches Laientheater gemacht haben, machen hier Laien politisches Piratentheater und entern die Stadt. Ihre Stadt.
Wenn Theatermacher und Bürger verstehen, dass ein bedrohtes Theater und eine bedrohte Stadt vieles (wenn nicht: alles) gemeinsam haben und dass man im selben Boot sitzt; wenn das Motto heißt: „Stellt dir vor, es stirbt ein Theater und keiner schaut hin – dann kommt das Theater zu dir“, dann kann ein „Theater des Aufstands“ (H.-T- Lehmann) seine Kraft entfalten. In der Stadt. Für die Stadt. Mit der Stadt. Für das Stadttheater und die Theaterstadt.
Theater des Aufstands und Sitzenbleibens
Als Theater kann man den Aufstand (nur) proben und künstlerisch ein Exempel statuieren – der Aufstand der Trierer gegen die „Sparzwänge“ wäre danach die Probe aufs Exempel. Immerhin für einige Minuten haben die Bürger schon mal im Ratssaal gesessen. Man möchte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn sie dort sitzen blieben und den Rat okkupierten. „Warum bist du gekommen, wenn du schon wieder gehst?“ singt am Ende im Ratssaal der Chor. Vielstimmig. Vieldeutig. Listig.
Weitere Termine 22.6., 25.6., 26.6. jeweils um 20.00h
Treffpunkt vor der TUFA’
Eine Produktion des TUFA e.V. und der GRUPPE INTERNATIONAL für das Festival Maximierung Mensch 4 des Theaters Trier in Kooperation mit MASKéNADA Luxemburg. Gefördert durch den Fonds Soziokultur und das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur, Mainz.
Realisation: Roman Schmitz/Hannah Speicher/Theresa Willeke
Regie & Konzeption: Roman Schmitz, Hannah Speicher
Produktionsleitung: Theresa Willeke
Musik: Felix Lange
Video: Roman Kuskowski
Regieassistenz: Isa Schulz
Ausstattung und Assistenz: Oliver Hofmann, Ella Möller und Christian Roth
Ensemble: Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Trier