Luhmanns „Die Kunst der Gesellschaft“ ist gelesen als schriftliche Abhandlung über Kunst durchaus inspirierend und lesenswert. Mindestens ebenso anregend und assoziologisch anschlussfähig ist sie aber für eine Beobachtung von Fernsehen. Und zwar scheint die Bemerkung, Kunst sei ‚zweckentfremdeter Gebrauch von Wahrnehmungen’ (KdG 41) weiterführend.
Luhmann beginnt im Kunstbuch mit der Gegenüberstellung der klassisch-neuzeitlichen Trennung von Sinnlichkeit und Verstand/Vernunft (13). Auf eine zugleich irritierende und interessante Weise mäandert Luhmann (etwa über die imaginationsinkludierende Anschauung und das ‚mit Gedanken möblierte’ Bewusstsein) sich durch zu einer Reformulierung dieses Verhältnisses als Wahrnehmung-Kommunikation. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist dabei der (auch von Luhmann selbst bemerkte) Verdacht, Wahrnehmung spitze sich dabei wesentlich aus visuelle Wahrnehmung bildartiger Objekte, Kommunikation hingegen auf Sprache zu. Und wohl nur unter dieser Voraussetzung macht das Zitat über die Zweckentfremdung sinnvoll, weil in der (visuellen, bildlichen) Kunst eben Wahrnehmungsinhalte zu Kommunikationsinhalten werden. Und ebenso im Fernsehen. Anders als sprachliche Kommunikation weicht das Fernsehen nicht in die Sprache aus, um ÜBER etwas zu berichten (wie Zeitungen), sondern es überträgt ein Bild als Bericht. Man könnte also reformulieren, dass das Fernsehen nicht auf die Unähnlichkeit der Signifikanz (oder imaginäre Referenz) zielt, sondern das Bild als ähnlichen Referenten einsetzt. Ein Wahrnehmungsinhalt (Bild) wird damit nicht mehr nur zum Gegenstand der Wahrnehmung, sondern zum Kommunikationsinhalt. Fernsehen verwandelt durch das Kameraobjektiv gefilmte Gegenstände zu Bedeutungsträgern ihrer selbst. Man muss lediglich im folgenden Zitat „Kunstwerke“ durch „Fernsehbilder“ ersetzen:
„Anstelle von Worten und grammatikalischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann.“ (KdG 39)
Nun ist allerdings Fernsehen nicht sprachlos. Im Gegenteil, eine ganze Reihe von Fernsehtheoretikern und ‑philosophen zielen auf die Verwandtschaft des Fernsehens mit dem Sprachmedium Radio ab. Fernsehen bringt die (durch die Kamera wahrnehmbaren) Bilder des Geschehens als Information zum Empfänger UND bedient sich zugleich sprachlicher Kommunikation, die als Stimme hörbar ist. Damit durchdringt es sowohl einerseits die Wahrnehmung bereits „verstandesmäßig“ (denn die Bilder sind bewusst als Kommunikationsinhalte ausgewählt und ausgeschnitten, zudem dramaturgisch zusammengefügt), wie es andererseits die Stimme des Verstandes stärker in die Wahrnehmung bringt, als es etwa die Schrift des Philosophen tut, der es gerne vermeiden würde, an die Sinnlichkeit der Schrift erinnert zu werden. Schrift ist – Derrida wies darauf hin – das Ausgeschlossene der Philosophie, das zugleich ihr Eigenstes ist. Luhmann geht knapp darauf ein:
„Könnte man sagen, dass Kunst (bzw. Fernsehen) wie eine Art von ‚Schrift’ die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt, die Wahrnehmungsunfähigkeit der Kommunikation kompensiert?“ (34)
Nun hieß schon vor Jahrzehnten in der Schule einer meiner Oberstufenkurse „Visuelle Kommunikation“ – insofern wäre dieser Gedanke nicht neu. Interessant aber wird er in zweierlei Hinsicht:
- Wenn Philosophie und Intellektualität seit Platons Zeiten schriftgebunden ist – mit allen Vor- und Nachteilen -, dann ist das Auftauchen der Möglichkeit eines „Thinking in Pictures“ eine Herausforderung an diese Schriftlehren. Schon bei Platon tauchte sie in den Nomoi auf, hier als Frontalstellung der Schriftphilosophie gegen die Tragödie (Nomoi, 7.Buch)
- Wenn Philosophie seit ihren Anfängen unter der Differenz insofern leidet, dass sie das, worüber sie handelt, nur benennen, aber nicht zeigen kann, wird sie im Fernsehen mit einem Medium konfrontiert, das es kann. Mit allen Nachteilen (des Mangels eines „reinen“ Denkens, das sich die Philosophie aneignen konnte) wie auchs einen Vorteilen (der scheinbar unmittelbaren Verständlichkeit durch Vorhandensein eines ähnlichen Referenten). Auch das lässt sich bei Platon bereits wunderbar anchweisen, in seinen Ausfällen gegen die mimetischen Künste wie in seiner berühmten Bemerkung, die Schrift bedürfe der Hilfe ihres Verfassers, weil sie sonst unkontrolliebar herumvagabundiere (Phaidros).
Der Fernseher als Bedrohung des Schriftgelehrten
Der Fernseher bringt die traditionelle erkenntnistheoretische Schichtung von Sinnlichkeit und Verstand/Vernunft durcheinander. Fernsehen liefert verstandene, strukturierte und dramaturgisch konstruierte Wahrnehmung oder visuelle Gedanken. Sie operiert damit im Bereich des kantischen Schematismus, dem aufgegeben war, Anschauungen und Begriffe – als zuvor unverbundene – zu verbinden unter dem Leitsatz „Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer“. Vor dem Fernseher war es allein die Kunst, die in dieser Schnittstelle der Urteils- oder Urvereinungskraft operierte. Oder genauer gesagt: Die Kunst und der Platonismus.
Kants KrV ist nichts anderes als Organigramm und Prozessflow einer Fernsehanstalt. Einer öffentlich-rechtlichen. (Der Vollständigkeit halber: Hegels Phänomenologie ist ein Weihnachtsmehrteiler. Ein tschechischer.)
Wenn aber die KrV eine Fernsehanstalt, die Fernsehanstalt also das Erkenntnissystem ist, so ist vielleicht zugleich eine Ausnahme für Luhmanns Regel gefunden, dass ein Bewusstsein einem anderen nicht zugänglich sei. Das Fernsehen ist das öffentliche oder gesellschaftliche Bewusstsein, ob auch ein transzendentales hängt davon ab, ob Bild und Ton der Fernsehsendung zu den Aistheta oder Noeta gehören, ob also intellektuelle Anschauung mithilfe des Fernsehens möglich sei.
Vermutlich – das ist der intellektuelle Verdacht – erweckt sie zumindest den Eindruck, intellektuelle Anschauung sei möglich – und kommunikabel. Dazu noch einmal das Zitat von oben in seiner ganzen Sprengkraft für den schriftlich-philosophischen Diskurs:
„Anstelle von Worten und grammatikalischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann.“
In einem lesenswerten Text (hier downloadbar) hat Lorenz Engell darauf hingewiesen:
Nur das in der Philosophie stets vorausgesetzte, aber nicht mitgeteilte Medium der Verbalschrift sichert die Reflexivität der Kommunikation, das Bedenken des Denkens, die Sinnhaftigkeit des Sinns und ermöglicht damit — und benötigt — Philosophie. Erst seit kurzem jedoch ist der Philosophie diese Bindung bewusst geworden, nachdem andere Medien bereitstehen, ähnliche Leistungen zu erbringen wie die Verbalschrift, doch auf ganz anderem Wege. Die Differenz nicht der bloßen Formen, sondern ganzer Formenhorizonte erst lässt die dahinter liegende Medialität erahnen
(…)
Den Innenraum der Verbalschrift, den sie bewohnt, hat die Philosophie dennoch nicht verlassen können. Medienphilosophie dagegen, in Komplementarität zur Philosophie zu begreifen, müsste den Versuch unternehmen, Tätigkeit und Funktionsweise der Medien auch jenseits des Schriftgeschehens und der Schreib und- Lese-Praxis zu begreifen.
Abschließend könnte man also sagen, dass das Fernsehen jenen Missbrauch, den die Philosophie mit der „Kunst“, so wie sie sie definierte, nämlich als das Klebemittel zwischen Sinnlichkeit und Verstand/Vernunft, getrieben hat, auszubaden hat. Die angebliche Zweckfreiheit der Kunst für die Philosophie hatte ihren Zweck darin, die getrennten Sphären in der Urteilskraft zu vereinen. Fernsehen, in derselben Position agierend wie die Kunst, wird zur Bedrohung des Intellektuellen, weil es sich nicht damit begnügt, schön und erhaben zu sein, sondern weil es sich anmaßt, in das ureigenste Feld des Philosophen einzudringen, der sich in genau dem Moment, wo er damit konfrontiert wird, der Armseligkeit seines Werkzeugs, der Schrift, bewusst wird.
To be continued