Leider wird die Aufmerksamkeit in der Kulturdebatte gerade durch das von mir zuletzt hier und auf nachtkritik verissene “Kulturinfarkt”-Buch geprägt. Dagegen möchte ich eine Lesempfehlung aussprechen, die zeigt, dass der Themenkomplex nicht nur polemisch zugespitzt angegangen werden, sondern intelligent und vielschichtig reflektiert werden kann — und tatsächlich in “der Kultur” reflektiert wird. Ich meine das Jahrbuch 2011 des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft: Digitalisierung und Internet, das den Kongress “netz. macht. kultur.” dokumentiert und sogar im Vortrag von Bernd Neumann die Reichweite der gedanklichen, praktischen und institutionellen Herausforderung aufreißt:
Das Internet hat die Art und Weise revolutioniert, wie wir an Informationen gelangen, Informationen verarbeiten und mitinander kommunizieren. Es ermöglicht neue Geschäftsmodelle, ist eine faszinierende Quelle gesellschaftlicher Teilhabe an Kunst und Kultur und auch ein großer Arbeitsmarkt. Wir befinden uns mitten in der größten technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzung seit der Entwicklung des Buchdrucks, deren Auswirkungen sich heute noch gar nicht richtig überblicken lassen. (102)
Die zahlreichen Beiträge dieses Bandes machen das aktuelle, zukunftsweisende Spannungsfeld von Kulturpolitik in der Netzgesellschaft auf, erforschen und reflektieren es, ohne sich bloß polemisch abzuarbeiten. Hier geht es um Partizipation und Offenheit, neue Formen von Kulturvermittlung, Institutionen, Förderung und Kunstschaffen — auch wenn der permanente Disput ums Urheberrecht etwas nervtötend ist, weil er nicht wirklich zu einer gangbaren Vision gelangt. Die Beiträge stellen sich der Gegenwart und der Zukunft. Und sie befragen Bestehendes und denken über Neuerungen im Bestehenden nach. Wer also interessiert daran ist, wie sich Kunst und Kultur in Bewegung bringen lassen, wo die Probleme und Herausforderungen, wo aber auch die spannenden Tendenzen zu finden sind, der sollte lieber das lesen.
Zum Beispiel Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung, der seine Behörde revolutionieren will:
Es reicht nicht, die aufgeworfenen Fragen auf kultur- und bildungspolitischer Ebene zu diskutieren, selbst falls diese Debatte fruchtbare Ergebnisse zeitigen sollte. Es braucht auch fundamentalen Wandel innerhalb der Institutionen. … Jetzt gilt es aus {der Bundeszentrale} eine kollaborierende Behörde zu machen, die Gestaltungshoheit über ihre Projekte aufgibt und (…) Beteiligung und freie Verbreitung und Neuverarbeitung der Angebote zulässt. Reflektierter Kontrollverlust ist das Gebot der Stunde. (110)
Oder Gerhard Schulze:
Die digitale Öffentlichkeit könnte sich als Tür ins Freie erweisen, ähnlich der bürgerlichen Öffentlichkeit in der kuzen Zeit ihrer Blüte. Diesmal jedoch besteht mehr Hofnung, das sich diese Tür nicht wieder schließt. Die digitale Öffentlichkeit trainiert den Einzelnen zum Selbstdenker, sie fordert seine Reflexivität heraus, sie übt ihn in kommunikativer Vernunft {…} Sie ist polyzentrisch, spielzersetzend und begegnungsstiftend. Sie ist, um Lessings Formulierung aus dem Jahr 1780 aufzunehmen, eine Schule der “Selbsterziehung des Menschengeschlechts”. Darauf zu hoffen, war damals noch verfrüht, jetzt aber werden die Karten neu gemischt. (38)
Und was Amelie Deuflhard mit Blick auf das Theater sagt, geht weit hinaus über die Strukturdebatten des Kulturinfarkst:
Das “gute alte Theater” allein scheint nicht mehr auszureichen, um unsere heutige Welt zu beschreiben (…) Als öffentlicher Ort hat jedes Theater das Potenzial, die unterschiedlichsten Gruppierungen, die tatsächlich wenig voneinander wissen, in einen nachhaltigen Dialog treten zu lassen. Nur so kann das Theater zu einer Plattform werden, die Möglichkeitsräume schafft.” (62f)
Genau. Darum gehts. Um inhaltliche und formale Potenziale.
Ja, wobei ich ebenfalls Pickel bekomme, wenn ich von “Möglichkeitsräumen” lese. Aber gut. Eine weitere Leseempfehlung in diesem Zusammenhang ist in meinen Augen Adrienne Goehlers nicht mehr ganz neues Buch “Verflüssigungen”, das durchaus auch radikal ist, aber nicht polemisch und die ganze Problematik von den Chancen her sieht und nicht so auf die (fraglos auch bestehenden) Defizite fokussiert.