Es ist, meine ich, nicht uninteressant: Über Schrift und Buchkultur haben Wissenschaftler, Philosophen, Intellektuelle nachgedacht und durchaus eindrucksvolle Theoriegebilde erzeugt, gar ganze historische Abschnitte als Buchkultur bezeichnet. Um das zu tun, nutzten sie die Schrift, veröffentlichten Bücher. Ähnlich verhält es sich mit dem Internet. Als wäre ein Messias auf Erden herabgestiegen explodiert seit Mitte der 90er Jahre die Literatur über das Netz, Cyberspace, Netzkultur usw. Es explodiert in Aufsatz- und Buchform, aber auch in der Selbstreflexion von Netzschreibern. Voll der Utopie, der Prophezeihungen, der lustvollen Auseinandersetzung mit dem kulturellen Umbruch, den der Beginn des Internets mit sich brachte und dessen Auswirkungen sich nun immer unübersehbarer zeigen. Als hätte die Intellginz der westlichen Welt nur darauf gewartet, endlich wieder ein Medium zu finden, dass satisfaktionsfähig und nicht ehrenrührig ist.
Ganz anders das Fernsehen. Für ein neues Stückprojekt mit dem Arbeitstitel „Media Divina – Die göttliche Kommode“ fräse ich mich seit einiger Zeit ein wenig durch die Artefakte von Fernsehtheoretiker und wissenschaftlern. Und kann dabei dem Befund, den Lorenz Engell in seiner Einführung zur Fernsehtheorie gibt, nur zustimmen:
Anders als besipielsweise die Schrift oder der Film hat das Fernsehen keine Theorie, auch keine Mehrzahl an Theorien hervorgebracht, die mehr als einen isolierten Teilaspekt des Mediums erfassen und das Medium auf den Begriff, auf ein Modell oder einen in der Einheit der Differenzen gefassten Blickwinkel festlegen würden. Theoretisch scheint Fernsehen bis heute weitgehend unverstanden und seine Theorie jedenfalls unformuliert geblieben zu sein. (14)
Einige Seiten später beschreibt er „den beklagenswerten Zustand dieser Theorie, ihr Ungenügen, ihr Kleinformat, ihre Zerklüftung, ihre Versprengtheit, ihre eingeschränkte Geltung, ihre Verhaftetheit in einer schnellem Wandel unterworfenen Aktualität“ (24)
Dafür kann es viele Erklärungen geben. Eine könnte sein, dass Fernsehen lange kein Aufzeichnungs‑, sondern ein „Live“-Medium war, dessen Artefakte – darin dem Theater ähnlich – wissenschaftlicher Bearbeitung nur schwer konstant zugänglich gemacht werden können. Dazu mag die Masse an Inhalten in einer Fernsehlandschaft mit einer zunehmenden Zahl von Kanälen kommen. Die schnelle Veränderlichkeit dessen, was Fernsehen tut und was möglich ist, mögen ebenfalls dazu beitragen, dass man sich davon scheut, eine abgeschlossene Theorie zu einem wandlungsfähigen Gegenstand zu entwerfen. Erscheint die Theorie, könnte das Fernsehen schon wieder ganz anders sein.
Das scheint mir aber nicht hinreichend. In einem der wenigen wirklich lesenswerten Schriftwerke zum Fernsehen (aktueller Lektürestand selbstverständlich) schreibt Stanley Cavell , es gäbe insbesondere bei Intellektuellen, eine „Angst vor dem Fernsehen“ (Die Tatsache des Fernsehens, S. 126 hier). Launig schildert er das Vermeidungsverhalten, das von Intellektuellen gegenüber dem Fernsehen an den Tag gelegt wird. Und schließt an die Angsthypothese die Sucht-Hypothese an. Es könnte also Angst machen, weil es süchtig macht.
Ohne an diesem Punkt bereits tiefer einsteigen zu wollen, lässt sich doch zweierlei konstatieren: Die Theoriebildung ist kümmerlich. Und das bei einem Medium, das wie kein anderes zuvor am offenen Gehirn seiner Konsumenten operiert. Fernsehen hat sich mit beispielloser Rasanz als Technologie weltweit verbreitet. Und der durchschnittliche tägliche Fernsehkonsum beträgt in Deutschland im Jahr 2012 geschlagene 222 Minuten. Drei Stunden und 44 Minuten sitzen Deutsche ab 3 Jahren täglich vor dem Fernseher.
Und das schraubt sich bei >50ern hinauf bis auf fast fünf Stunden.
Neben Arbeit und Schlaf ist Fernsehen die bedeutendste Beschäftigung dieser Gesellschaft. Und die Theoriebildung begnügt sich weitestgehend damit, Fernsehen als Unterschichtenmedium, das schon die theoretische Beschäftigung damit in den Ruch des Unseriösen bringt, abzuqualifizieren. Im Zweifelsfall können Adornos Ausführungen zur Kulturindustrie, zumeist in der kritischen Öffentlichkeit unterfüttert von einem Widerstreben gegen „amerikanische Kultur“, als Totschlagargument herangezogen werden, um sich vor den Auseinandersetzung zu drücken. Intellektuelle schauen nicht fern. Sie widmen sich der Buch- und Netzkultur. Der Massenmedienkultur nicht.
Im Gegenzug wäre allerdings zu fragen, ob Fernsehen nicht längst das gesellschaftlich-kulturelle Leitmodell der Gegenwart ist. In einer ersten Heuristik könnte man vom Fernsehen sagen, was Luhmann (dessen bärbeißige Realität der Massenmedien ebenso lesenswert wie ein Beleg für den mangelnden Ernst der Auseinandersetzung ist) über die Kunst sagt. Sie erreiche, heißt es bei ihm, eine „strukturelle Kopplung von Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen“ (KdG, 36 ). Sie überbrücke, ‚wie eine Art von Schrift die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation (KdG 33).
Ohne damit Abschließendes sagen zu wollen, wäre es sicherlich der Mühe wert, Luhmanns Kunstbuch als Fernsehbuch zu lesen, überall dort, wo er „Kunst“ sagt „Fernsehen“ einzusetzen und zu schauen, was dabei herauskommt. Ich denke, mehr als man erwarten würde. Daraus könnte man die These ableiten, dass Fernsehen in der Position von Kunst operiert. Dabei aber zugleich sowohl wissenschaftliche Wahrheitsdiskurse in sich aufnehmen oder simulieren kann. Oder religiöse. Vielleicht auch noch mehr.
Wie dem auch sei. Lohnt sich, weiter darüber nachzudenken.