Vor einem Monat hatte ich im Posting über “Das Grundproblem der Wirtschaft(swissenschaft)” (und hier die Fortsetzung) die Ziellosigkeit wirtschaftswissenschaftlicher Theorie behauptet. Will heißen: Wirtschaftswissenschaft lehrt keinen letztlichen Zweck für den ökonomischen Mitteleinsatz. Die Vermehrung und der effiziente Einsatz der Mittel steht im Mittelpunkt des Interesses. Der Zweck jenseits der bloßen Generation zusätzlicher Mittel (kurz: das sogenannte Wachstum) bleibt letztlich außer acht (auch wenn Ausflüge wirtschaftswissenschaftlicher Lehrer in den Bereich des “Wozu” ja gelegentlich stattfinden — aber eben nur als fakultative Freizeitbeschäftigung jenseits der Hard Science). Momentan kann ich das nicht weiter vertiefen, will aber direkt auf ein anderes Gebiet soliden Halbwissens ausweichen, das ein ähnliches Problem aufweist: In der Medizin gibt es keine überzeugende positive Definition von Gesundheit. Und sie ist medizinisch nicht diagnostizierbar.
Geradezu putzig und trotzig nimmt sich da der Versuch der WHO aus, in ihrer eigenen Verfassung eine Definition zu geben, die dem eingebürgerten professionellen Gebrauch entgegentritt und sich so liest:
Die an dieser Verfassung beteiligten Staaten erklären in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, dass die folgenden Grundsätze für das Glück aller Völker, für ihre harmonischen Beziehungen und ihre Sicherheit grundlegend sind: Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.
Nicht nur das Fehlen von Krankheiten — eine Formulierung, die es nur in die Präambel schaffen kann, wenn damit ein verbreiteter Eindruck oder eine verbreitete Grundannahme getroffen wird. Was der Fall ist. Denn rein pragmatisch wird die Diagnostik so lange laufen, bis der Mediziner zum Patienten sagt “Ich kann beim besten Willen nach all dem Aufwand keine mir bekannte Krankheit bei Ihnen feststellen. Sie müssen gesund sein. Oder eine neue, unbekannte Krankheit haben. Oder ich bin einfach unfähig.” Jedenfalls ist kein definierbares Telos ärztlichen Handelns darin zu sehen. Medizin hat Krankheiten zu bekämpfen — aber keinen Zustand der Gesundheit herbeizuführen. Nota Bene: Das ist auch nicht unbedingt schlecht. Denn in solche Definitionen schleichen sich (wie historisch in den Begriff der “Volksgesundheit”) derartig schnell normative Größen ein (wie aktuell etwa schon beim Body Mass Index oder ähnlichen Gesundheitsvorgaben), die sowohl Zwangsmaßnahmen (Rauchverbote wären nur ein Beispiel) als auch Eugenik und Rassenlehren nach sich ziehen können oder gar müssen.
Also: Ob eine positive Definition von Gesundheit wünschenswert ist — sei dahingestellt. Allerdings ist klar, dass sie nicht vorliegt. Jedenfalls nicht jenseits der subjektiven Dimension des “Wohlergehens”, die nicht nur nicht mess‑, mikroskopier- oder wägbar ist — sondern sich der objektiven Diagnose des Arztes gar entzieht. Das Gesundheitsurteil fällt der Patient, der einzig über sein Wohlsein entscheiden kann. Das wiederum führt natürlich zu mannigfaltigen Paradoxien und Konflikten, an denen ein traditioneller Dramatiker sein große Freude hätte.
Jedenfalls wird medizinisches Denken und Handeln — da es nicht an einem Gesundheits-Telos oder Eschaton ausgerichtet werden kann — darauf verwiesen, sich am Zustand des Anderen, des Behandelten und seinem aktuell geäußerten oder mutmaßlichen Willen zu orientieren. Das wiederum ist aber kein Gegenstand medizinischer Lehre. Im Gegenteil: Medizinische Lehre richtet sich an den objektivierbaren “Defekten” des menschlichen, geduldigen Organismus aus. Und sie strebt danach, jede Beobachtung objektivierbar und dokumentierbar zu machen, indem selbst seelische Störungen mikrobiologisch, chemisch, genetisch, anatomisch diagnostizierbar gemacht werden sollen. Fehlt eigentlich nur noch die Möglichkeit, durch Nachweis bestimmter Hormone, EEG-Wellen, Hirnarealvergrößerungen den objektiven Nachweis von subjektivem Wohlergehen (= Gesundheit) führen zu können. Spaß beiseite.
Medizinisches Handeln wird von der WHO auf ein Jenseits der medizinischen Lehre fixiert. Das wäre ein Fortschritt, der dem wirtschaftlichen Denken gut zu Gesicht stünde. Vorausgesetzt: er würde realisiert.
Und als kleine Schlusspointe noch wie es klingt, wenn ein deutsches Ministerium sich der Frage annimmt, was denn eigentlich Gesundheit sei:
Gesundheit wird als mehrdimensionales Phänomen verstanden und reicht über den „Zustand der Abwesenheit von Krankheit“ hinaus. (Wikipedia)
Man liest es — und hört unwillkürlich den ratlosen Seufzer dahinter. Wie würde das Arbeitsministerium sagen:
Arbeit wird als mehrdimensionales Phänomen verstanden und reicht über den „Zustand der Abwesenheit von Arbeitslosigkeit“ hinaus.
Das Wirtschaftsministerium:
Wirtschaft wird als mehrdimensionales Phänomen verstanden und reicht über den „Zustand der Abwesenheit von TJA WAS DENN? “ hinaus. Welche Abwesenheit hat sich Wirtschaft zum Ziel gesetzt? Welche die Wirtschaftswissenschaft? Und inwiefern geht sie darüber hinaus?