Mit einem originellen Vorschlag mischt sich der Publizist Sascha Lobo in die Debatte rund um Bergleute, die zunehmend über Lichtmangel und Staublungen beklagen und wirft ihnen fröhlich das Motto zu: Geht doch mal raus aus den Flözen und an die frische Luft.
Ein Scherz. Es geht hier zum zigtausendsten Mal um den Zusammenhang von elektronischen Kommunikationsmitteln insbesondere Smartphones mit Überlastungs- und Erschöpfungsphänomenen, die unter dem völlig ausgefransten, überstrapazierten und dann wieder völlig bestrittenen Konzept des „Burn Out“ durch die Medien gehetzt werden. Anlass für Lobos dünnes Textchen ist diese Meldung, dass der VW-Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung erwirkt hat, dass die Blackberry-Server der Unternehmen eine halbe Stunde nach Ende der Gleitzeit abgestellt und erst eine Halbe Stunde vor ihrem Beginn wieder angeschaltet werden. Das Problem an Lobos Text ist, dass er zwar über digitale Technologie und ihre Nutzung weiß, was es zu wissen gibt – zugleich aber kein Verständnis organisationsinternen Zusammenhänge hat. Deswegen lohnt sich eine kurze Erörterung, wie die VW-Vereinbarung für betriebliche Effizienz und zugleich zur Reduzierung des Stresslevels in viel höherem Maße sorgt als etwa Lobos „Einfach mal abschalten“ Empfehlung — und weswegen sie folglich viel näher an den von Lobo geforderten “richtigen Gebrauch” heranreichen, als sein eigener Vorschlag.
Pause – wer wann?
Dass Arbeitspausen und Feierabend nicht großzügige Gesten gegenüber den Arbeitnehmern sind, sondern betriebswirtschaftlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der optimalen Arbeitsfähigkeit dienen, darf wohl vorausgesetzt werden. Dass Pausen und Feierabend nötig sind, haben betriebliche Organisationen anerkannt. Die Frage ist dann allerdings: Wann sollen sie stattfinden und wer entscheidet darüber, wann Pausen oder Feierabende stattfinden. Je mehr die einzelnen Funktionen miteinander verkettet sind, desto abhängiger würde die Gesamtkette von den Einzelentscheidungen: Macht jeder Arbeiter am Fließband Pause oder Feierabend, wann er selbst glaubt, es sei jetzt dafür Zeit, würde die Produktion zusammenbrechen. „Einfach mal Pause machen“ wäre also vielleicht für den Arbeitnehmer ein ideales Versprechen – die betriebliche Organisation wäre am Ende.
Die Lösung: Einheitliche Festlegung von Arbeitszeit- und Pausenregelungen. Nur eine ziemlich verbretterte Stirn wird glauben, dass eine betriebsvereinbarte Pausenregelung ein Sieg der geknechteten Arbeitnehmer über die bösen Kapitalisten sei. Vielmehr legt sie fest, wie das anerkannte Bedürfnis nach kurzzeitigen Arbeitsunterbrechungen mit der betrieblichen Prozessorganisation vereinbar ist, wie also die Prozesse von möglichst frischen Arbeitern profitieren, ohne unter den Unterbrechungen zu leiden. Recht einleuchtend, denke ich. Die Zusammenhänge um die Festlegung von Arbeitszeiten und Feierabenden lassen sich analog herleiten. Ich verzichte darauf.
Abschalten – aber wann
Wenn nun aus der Burnout-Diskussion zumindest abzuleiten ist, dass Arbeitnehmer Tageszeiten brauchen, an denen sie nicht elektronisch erreichbar sind (und sei es im Schlaf) , dann stellt sich unmittelbar dieselbe Frage: Wer entscheidet, wann abgeschaltet werden darf? Gegenwärtig herrscht entweder Anarchie („Ich gehe manchmal nicht dran“) oder im übereifrigen Gehorsam überzogene Dauererreichbarkeit. Letzteres ist nicht nur deswegen nicht erwünscht, weil es gegebenenfalls Konzentration und Konstitution von Mitarbeitern überfordert. Sondern noch viel mehr, weil nicht klar ist, wann der Mitarbeiter durch Aufnahme des Nachtschlafes nicht mehr erreichbar ist. Es entsteht betriebliche Unsicherheit: Der Mitarbeiter regiert bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in Minutenschnelle – und plötzlich entsteht ein reaktionsloch von mehreren Stunden, weil der Mitarbeiter schläft. Heute aber ging er schon um 9 ins Bett, normalerweise doch erst gegen 11. Andere Mitarbeiter entscheiden vielleicht, dass sie während Abendessen und Beschäftigung mit Kindern nicht antworten. Andere entscheiden, dass sie auch während der Tagesarbeitszeit gelegentlich ein Päuschen machen, um nicht überfordert zu werden. Ich habe in meiner letzten Stelle angekündigt, Mails zukünftig nur noch morgens zwischen 9 und 10 zu lesen, um hinterher konzentriert arbeiten zu können – dem Gegenwind konnte ich leider nicht Stand halten.
Das heißt: Lobos sich an gewerkschaftlicher Regelungswut abarbeitende, scheinbar die Mitarbeiter ermächtigende Sottise „Einfach mal abschalten“ führt dazu, dass der Betrieb selbst weniger Verlass hätte, dass Mitarbeiter in gegebenen Situationen innerhalb bestimmter Zeitfenster erreichbar und aktivierbar sind. Das ist der Sinn der Blackberrys. Entscheiden die Mitarbeiter, wann sie Pause machen, wenn sie Feierabend machen, begibt die Organisation sich in eine Unsicherheit, die sich – interessanter Weise – in zusätzlichen Stress für die Kollegen verwandelt. Denn die flache Hierarchie der Teams setzt darauf, dass Kollegen gleicher Hierarchie sich selbst organisieren und in Vernetzung Aufgaben erledigen und Probleme lösen. Dafür muss – dem Fließband nicht unähnlich – jeder Prozessschritt darauf vertrauen, dass der nächste irgendwann übernimmt und weiter arbeitet. Bis das geschieht, liegt das Problem bei der abgabebereiten Funktion, die bereits weiß, dass es das Problem gibt und es möglichst schnell bearbeiten bzw. zur Bearbeitung weitergeben muss an eine Position, die erst von dem Problem weiß, wenn sie kommunikativ erreicht wurde. Was dann zum Glückspiel wird, wenn der Kollege seine Kommunikationspausen in Lobo-Manier nimmt, anstatt die Übernahme der Aufgabe zu quittieren, zurückzuweisen oder weiter zu delegieren.
Geregelte Pause – cui bono?
Für Mitarbeiter wäre Lobos „Mal abschalten“ zunächst vielleicht die attraktivere Variante: Wenn ich Müde bin oder keine Lust habe – schalte ich mal ab. Sie wird dann zur Belastung, wenn die Kollegen genau so agieren und sich Pausenzeiten nicht etwa decken, sondern sequenzieren und statt Prozess- und Arbeitsketten Pausenketten entstehen. Betriebliche Effizienz leidet, der persönliche Stresslevel steigt.
Die VW-Regelung sorgt nun für zweierlei: Zunächst macht sie jedem Mitarbeiter klar, in welchem Zeitraum fortan grundsätzlich keine Antwort/Reaktion/Arbeitsübernahme mehr erwartbar ist. Nach 19 Uhr (?) macht es keinen Sinn, stressend zu erwarten, dass der Kollege reagiert oder nicht reagiert. Die Erwartung ist: Er wird erst morgen reagieren. Das steigert die prozessuale Zuverlässigkeit des Unternehmens, weil es sich nicht in die Unwägbarkeit begeben muss, von der Müdigkeit oder der Freizeitgestaltung der einzelnen Mitarbeiter zeitlich abhängig zu sein und dadurch keinerlei Klarheit mehr über erwartbare Projektdauer (die etwa an Kunden kommuniziert und ihnen gegenüber vertreten werden muss) zu haben.
Zugleich wird ex negativo durch die Garantie von Freizeiten auch regelbar, dass es während der Arbeitszeit keine elektronischen Auszeiten mehr gibt. Die Organisation kann nun – unter Verweis auf die als Freizeit garantierten Zeiträume – verlangen, dass die Nicht-Freizeit auch komplett als Arbeitszeit genutzt, dass arbeitszeitliche Vollverfügbarkeit sicher gestellt ist. Während also etwa nach 19 Uhr Stress durch ungeklärte Erreichbarkeit sich nicht lohnt, weil Unerreichbarkeit erwartbar ist, lohnt sich während der Arbeitszeit der Stress nicht, weil Erreichbarkeit garantiert wird, die nicht durch „Einfach mal abschalten“ unterbrochen wird.
Die Frage: Wem nützt es – findet beim genauen Hinschauen nicht die gewerkschaftlich unterstützen larmoyanten Jammerer, die aus irgendwelchen Gründen nicht abschalten können. Es findet die Großorganisation, die es noch immer Arbeit nennen, komplexe Arbeitsprozesse miteinander so zu verzahnen und zu organisieren, dass nicht nur maximale Effizienz herrscht, sondern (wiewohl letztlich Teil dieser Effizient) die irreduzible Pausenbedürftigkeit menschlicher (erweitert um Wartungsbedürftigkeit Maschineller) Prozessbeteiligter so organisiert wird, dass in Prozessen jeder zu dem Zeitpunkt an dem Ort ist, an der er erwartet und benötigt wird, während zugleich sicher gestellt ist, dass hinreichend Pausen gewährt werden, die die maximale Frische des Mitarbeiters gewährleisten.
Hoffen wir, dass das Niveau der Debatte rund um Digitalisierung und Vernetzung der Arbeitswelt sich vom jämmerlichen Niveau in Lobos Artikel im Jahr 2012 befreie und zu einer wirklich fundierten, hinreichend komplexen Erörterung kommt.
Es gibt nicht nur Praktisch-Dauer-Erreichbarkeit mit selbst gewählten, willkürlichen Pausen oder Erreichbarkeit von 7 bis 19 Uhr. Das jemand am eigentlichen Arbeitstag erreichbar ist, ergibt sich beinahe von selbst. Man arbeitet, also kann man auch erreicht werden. Das jemand nach seinem Arbeitstag noch erreichbar ist, kann nicht vorausgesetzt werden. Insofern hat Lobo eben doch recht: Wer am Feierabend seine Mails checkt, ist selbst schuld. Solange klar ist, dass nur innerhalb der Gleitzeit von einer Beantwortung ausgegangen werden kann. Wer danach antworten will, soll dies tun können. Vielleicht mindert das den Stress am nächsten Tag? Vielleicht ist demjenigen sonst langweilig? Vielleicht hat er solche Freude am Job, dass er gerne mal seine Mails checkt? Ist doch alles egal.
Der Sinn der Überreichung eines Blackberry ist aber derjenige, dass er außerhalb des Arbeitsplatzes erreichbar ist. Das kann sich auf die bloße Lokalität beziehen (auf Reisen etwa), ist aber nicht automatisch ausschließlich auf die Kernarbeitszeit reduzierbar — es sei denn, es werde dem Mitarbeiter klar kommuniziert, etwa durch die besagte Betriebsvereinbarung. Diese sorgt dafür, dass alle Beteiligten der Kommunikation Erwartungshaltungen formulieren können, die die Erreichbarkeit der Kollegen betreffen. Bleibt es der Lust aller Beteiligten überlassen, “einfach mal abzuschalten” sorgt das paradoxerweise für allseits zunehmenden Stress und organisatorische Unsicherheit, da der Absender nicht weiß, wann seine (eventuell tatsächlich zeitkritische) Nachricht bearbeitet wird, während der Empfänger sich der Gefahr aussetzt, in Verzug zu sein. Eine Organisation kann diese Beliebigkeit nicht wollen.