Theater ist ein Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, ein Ort, den sich Gesellschaft leistet und in dem sie sich Gesellschaft leistet. Ein Ort in der Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, vielleicht ein Heterotop, was ich vor einiger Zeit einmal hier im Blog vergleichsweise mit der Agrippa-Legende von Titus Livius verglichen hatte. Theater ist der Ort, in dem hinein man aus der Tagesgesellschaft abends hinaustritt, um in die Gesellschaft zurück zu schauen, Reflexion also nicht im einfach bewusstseinsphilosophischen, sondern im durchaus optischen Sinne, in dem sich etwas widerspiegelt, das es außerhalb der Spiegelung nicht gibt. Eine Mimesis, die nichts nach-ahmt, sondern einfach ahmt und durch den Effekt des scheinbaren „nach“ der Ahmung Erkenntnis und Vergnügen miteinander zu verbinden zu vermag. Es ist ein Spiegelbild ohne Vorbild. Aber machen wirs vielleicht auch nicht zu kompliziert. Also anders.
Seit 40 Jahren schaffen wir allmählich ein gesellschaftliches Bewusstsein über Umweltzerstörung und die ungewünschten Folgen der Manipualtion an der physischen Natur. Es ist an der Zeit, für das21. Jahrhundert neben der Umweltzerstörung auch die Mitweltzerstörung in den Blick zu bekommen, die in den letzten fünf Jahren in der sogenannten Finanzkrise ihr gesellschaftliches Fukushima erlebte. Nämlich nicht nur die (drohende) Kernschmelze der Finanzindustrie, sondern die reale Verstrahlung ganzer Länder und Regionen, gegenwärtig in Südeuropa, aber mit der klaren Perspektive, dass die radioaktive Finanzwolke sich allmählich auch in Richtung Norden bewegt. Ich erlaube mir, da die Formulierung ganz passabel war, hier ein Zitat aus einer Kommentardebatte im Schuld und Schein Blog, in der ich hier Stephan Ewald antwortete:
Trotz aller Befähigung hat diese {Fähigkeit der akademischen Wirtschaftswissenschaft} uns nicht davor bewahrt, heute mit einem Wirtschafts- und Finanzsystem konfrontiert zu sein, das uns in den letzten etwa 5 Jahren – nunja, nicht an den Abgrund geführt hat. Es hat ein wenig gehüstelt. Und dieses Hüsteln hat bereits Millionen Menschen in Südeuropa und den USA (um andere Teile der Welt einmal auszulassen) das soziale Leben gekostet. Das war nicht der Abgrund. Wir haben nicht einmal hineingesehen in den Abgrund. Wir erahnen höchstens die Kante des Abgrunds.
Und machen weiter wie zuvor, da wir noch einmal davon gekommen sind. Ich betrachte die ökonomische Wissenschaft (nicht etwa die bösen Banker oder die doofen Politiker) für die Quelle der größten Bedrohung der Menschheit im 21. Jahrhundert. Sie mag diesen ersten Platz teilen mit der globalen Erwärmung. Die Atomkraft hat sie jedenfalls überholt, wobei letztere eine recht gute Vergleichsgröße darstellt. Vergleichen wir kurz Äpfel mit Birnen, Fukushima mit der sogenannten Weltfinanzkrise. Vergleichen wir die Folgen für die Menschen und die Welt. Hier einige hunderte oder tausende Tote (ohne den Tsunami) einige verstrahlte Quadratkilometer. Eine Katastrophe, die wir in allen Bildern im Fernsehen erleben durften. Dagegen die Finanzkrise: Ganze Länder sind dabei (zumindest für die jüngere Generation) unbewohnbar zu werden, unbezahlbar weil ohne Job. Die sozial schwachen Schichten der Bevölkerung werden weiter ausgeplündert (man nennt es Sozialkürzungen – weil man ja sparen muss, um weitere Krisen zu verhindern).
Was war die Folge von Fukushima? Zumindest die deutsche Regierung hat eingesehen, dass Atomkraft keine beherrschbare Technik ist und stieg aus der Atomwirtschaft aus. Gegenfrage: Ist das Finanzsystem, ist die Finanzindustrie „beherrschbar“. Hat nicht der erste Geldkrieg, der in den letzten Jahren zwischen Regierungen und Zentralbanken einerseits, „den Märkten“ andererseits getobt hat, gezeigt, dass das System nicht beherrschbar sein KANN? Was ist also die Konsequenz? Und was wäre ein Ausstieg?
Es sei Ihnen zugestanden, mich für einen vorweihnachtlich derangierten Spinner zu halten. Ich jedenfalls vermisse die Verantwortungsübernahme der Wirtschaftswissenschaft als Ganzes für die Situation, die in den letzten Jahren eingetreten ist, in der sich Griechenland noch befindet und für den Abgrund, der noch immer existiert. Ob wir ihn je sehen werden? Weiß man nicht, auch wenn ich mir recht sicher bin.
Wenn die geballte Brillianz und Fachkenntnis der Wirtschaftswissenschaft aber nicht hinreicht, ein Wirtschafts- und/oder Finanzsystem zu bauen, das derartige „Unfälle“ ausschließt – wozu sie noch betreiben oder fördern? Warum nicht die Verantwortlichen aus den ökonomischen Fakultäten vor Gericht stellen?
Sie werden jetzt fragen: Was hat das mit der Diskussion zu tun. Meine Antwort: Sie haben recht, dass ich vergleichsweise wenig von der „wissenschaftlichen“ Ökonomie verstehe. Schützt mich das davor, für die Folgen in Regress genommen zu werden, die ihre „Fehler“ verursacht haben? Nein. Dann erlaube ich mir trotz mangelnden Sachverstands auch an der Debatte teilzunehmen.
Die Mitweltzerstörung in den Blick zu nehmen, ist eine, vielleicht sogar die wichtigste Funktion von Theater im 21. Jahrhundert. Die Finanzkrise ist dabei nur eine Quelle der Zerstörung, derer sich weitere hinzufügen ließen, begäbe man sich auf künstlerische Forschungsreise. Für die aber reichen die Textwerke des Kanons nicht aus.
Weder die spezielle Form des Politischen, die die gegenwärtigen Konfilkte politisch aufbereitet und prozessierbar macht, noch auch die Massenmediengesellschaft, die Gesellschaft dadurch herzustellen bemüht ist, indem sie die Einzelnen isoliert vor flimmernde Kisten setzt und das Politische zu einer pseudo-shakespeare’schen Dramaturgie in den Abendnachrichten oder den Zeitungen aufbereitet, das Soziale zur Soap Opera und das Dokumentarische zur Scripted Reality Soap umarbeitet, sind mit den kanonischen Texten fassbar.
Die Wucht der Anforderungen an Texte im wissenschaftlich-massenmedien Zeitalter aber weiterhin auf die Schultern des messianisch ersehnten dramatischen Originalgenies stürzen zu lassen, ist geradezu absurd. Wer sich der Mitweltzerstörung in ihren Facetten stellen will, hat nicht genug Stunden im Tag, nicht genug Tage im Jahr, um sich das inhaltliche Rüstzeug zu beschaffen, das diskursive Satisfaktionsfähigkeit wenigsten ansatzweise garantierte. Und von einem solchen dann noch dramaturgische Exzellenz zu fordern, wie sie einem Kinogänger und Fernsehzuschauer ganz selbstverständlich vertraut ist, zudem Sprachbeherrschung, die in der Lage wäre, es mit einem Kleist oder Müller aufzunehmen – wie unsinnig sind solche kontrafaktischen Forderungen oder Erwartungen?
Wie viele Texte von Nachwuchsautoren schaffen es hinaus über szenische Lesungen, Werkräume oder Kammerspiele auf die „großen“ Bühnen? Und wie viele Texte könnten es in jeder Spielzeit dorthin schaffen? Die jetzt fällige marktdarwinistische Formulierung, dass nicht weiter kommt, was nichts taugt, ist kein Schuss in den Kopf mittelmäßiger Autoren, sondern ins Knie der Theater selbst. Oder eine Magic Bullet, die beide trifft. Natürlich kann man versucht sein, den elenden Paragone zwischen Text und Bühne, Autorentheater und Regietheater jetzt weiter zu treiben. Er scheint ja hinreichend vielen Leuten hinreichend viel Freude zu bereiten. Er ist allerdings so dämlich wie nur irgendetwas. Ungefähr so sinnvoll wie die Frage, um die Brücke zum letzten Posting zurück zu schlagen, wie die Frage, ob Wasser oder Schlauch wichtiger sind zum Brandlöschen. Ein leerer Schlauch löscht ebenso wenig wie Wasser, das nicht ankommt. Von der Schwäche der Autorensituation profitieren nicht Regisseure, sondern die Brandstifter in der Mitwelt.
Die Frage, warum Nora ihren Mann verließ, wird jeden Abend in Telenovelas und Soaps beatwortet. Und zwar besser, als in den altväterlichen Formen des Kanons. Die Geschichte eine pädophilen Naturwissenschaftlers, der zum Teufel geht, taugt allenfalls für das Vermischte der Bildzeitung. Und dänische Prinzen und Prinzessinnen gehören in Promimagazine und Groschenromane. Das einzusehen, heißt aber noch lange nicht, schon Anderes und Heutigeres parat zu haben. Wenn eine Zeit nicht mit einer Tafelrunde von Großschreibern gesegnet ist – dann muss es eben die geballte Fähigkeit von Kleinschreibern (und ich reihe mich gerne in diese Kategorie ein, auch wenn ich bezweifle, dass meine Sozialisation mir eine sinnvolle Teilnahme am von mir geforderten Kollaborationsprozess ermöglicht oder wünschenswert scheinen lässt) richten. Immerhin erleben wir in den letzten Jahren, wie die geballte einzelne Macht der Vielen ausreicht, um die geballte viele Macht der Einzelnen zu stürzen. Auch keine neue Idee. Dramatiker aller Länder vereinigt euch – und schafft gemeinsam.
Die Arbeit an der Mitweltzerstörung fordert schreibende Mitwirkende unterschiedlicher Kompetenz und Provenienz. Nicht nur als postmodernistisches Patchwork, das dem Modell der Tageszeitung folgt, die sich aus vielen Tintenquellen konstituiert. Sondern als kollaborative und kooperative Arbeit von Schreibern miteinander und mit allen anderen Beteiligten an jenem kollaborativen Prozess, der Theater schon immer war. Eine eigene Form der Mitwelt, vielleicht ein Mitweltlabor.
Wenn und solange Theater in sich selbst hierarchisch-monarchisch organisiert bleiben (wie hier und hier letztens gebloggt und hier auf nachtkritik gerade wieder diskutiert), solange werden sie in der Netzgesellschaft nicht ankommen. Und wenn eine gemeinsame Mitwelt nicht im Theater funktioniert – wo dann? (P.S. Ich schenke mir die Diskussion der Mitbestimmungs-Komödien der 60er und 70er Jahre; es gibt inzwischen erprobtere und bessere Modelle – dazu im nächsten Posting mehr)