Ein recht knappes Posting von Kusanowsky auf Facebook erlaubt mir nun endlich, klar zu beobachten, welchen Kardinalfehler ich in der Systemtheorie Luhmanns beobachte. Das Posting sagte:
(Auch bei wavetank als Kommentar hier zu finden)
Und der Kardinalfehler ist darin zu beobachten, dass das Zitat nahelegt, es sei eine Gesellschaft, die die Gesellschaft beobachtet: „Die Gesellschaft hat sich selbst zur Umwelt. Darin besteht die Gesellschaft der Gesellschaft.“ Tatsächlich ist es keine Gesellschaft. Die Formulierung radiert (ich würde behaupten: systematisch motiviert) die Tatsache aus, dass die Ichs nie zum Wir werden (jenseits des grölenden Pöbels nach einem gewonnen Fußballspiel und ähnlicher religiöser Verzückungsgelegenheiten). Dass der Beobachter also niemals Teil einer Beobachtungsgesellschaft wird, sondern immer nur alleine beobachtet. Die grundlegende Einsamkeit des Beobachters wird systematisch ausgeblendet wenn es heißt, die Gesellschaft sei die Umwelt der Gesellschaft, die sie beobachte. Die Gesellschaft gibt es nicht außerhalb der Beobachtung des Beobachters, der sich dann lesend bei der (oder nach der) Beobachtung der Gesellschaft beobachten lassen muss. (Falls jemanden die Assertorik dieser Darlegung stört, möge er sich gerne die Freiheit herausnehmen, den Text statt konstativ gerne fakultativ oder konditional zu lesen; natürlich ist dem Verfasser der gegenwärtig verbreitete Glauben an die fundamentale Kontingenz bekannt, der selbst allerdings selbstverständlich nicht weniger kontingent ist als die Behauptung der Determiniertheit/Prädestination der Welt – die selbst wiederum behaupten könnte, das die gegenwärtig herrschende Kontingenzbeobachtung determiniert und prädestiniert ist).
Die Beobachtung des einsamen Beobachters wird nie Gesellschaft
Wollt man genauer formulieren, müsste das Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ nicht nur heißen „Die Gesellschaft der Soziologie“ sondern „Die Gesellschaft des Soziologen“ oder gar „Die Gesellschaft des Luhmanns“. Ein solcher Luhmann (ein Beobachtungskonstrukt des Lesers zweiter Ordnung) kann nicht teil einer Gesellschaft werden, solange er sie beobachtet – während er zugleich natürlich dadurch, dass er das, was er beobachtet, als Gesellschaft beobachtet, untrennbar in der Gesellschaft (als theoros) enthalten ist. Er müsst sich in die Gesellschaft begeben, die er dann nicht mehr beobachten kann, weil es dann die Gesellschaft der Beobachtung PLUS seiner selbst ist – also nicht mehr die beobachtete Gesellschaft. Eine Art des Narzissmus. Damit löst er zwar für sich das Erkenntnisproblem, weil der Beobachter auf beiden Seiten der erkenntnistheoretischen Gleichung auftaucht (enth’ousiasmos nannte man das in alten Zeiten: Die Dinge sind im Betrachter, der Betrachter in den Dingen). Wer mit Hegel marschiert mag das ganz in Ordnung finden, da es einer schönen Dialektik gleicht. Von außen beobachtet nimmt es aber nur Lichtenbergs Aphorismus über das Buch wieder auf: „Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken.“ Der Spiegel ist im Auge zusammen mit dem Affen, wie der Affe zugleich im Spiegel ist. Nur wird der Affe seine Affigkeit dabei nicht los. Oder Luhmann den Luhmann. Den einsamen Beobachter, der eine Gesellschaft beobachtet, die es weder vor, noch nach, noch außerhalb seiner eigenen Beobachtung gibt. Andere Menschen legen sich auf Wiesen und entdecken Figuren in Wolken
Anschlussfähigkeit – nicht gleiche Sichtweise
Beim Beobachten kann Luhmann beobachtet werden. Und es kann auch beobachtet werden, dass er gar nicht von einer homogen beobachtenden Gesellschaft ausging. Davon zeugt sein Anschlussfähigkeitsaxiom. Denn die Kommunikation über Gesellschaft muss anschlussfähig sein, das heißt: Es ist nicht dieselbe Beobachtung, die eine Beobachtungsgesellschaft aus der homogenen Beobachtung einer Gesellschaft, die es vor der Beobachtung nicht gab, konstituieren würde. Sondern es ist eine Reihe von Beobachtern, deren Beobachtungen lediglich anschlussfähig sein müssen. Durch die Beobachtung von etwas als Gesellschaft entsteht keine beobachtende Gesellschaft – sondern ein einsamer Gesellschaftswissenschaftler. Ein theoros. Big Luhmann is watching. You?
Die Gesellschaft hat Luhmann zur Umwelt – und Umgekehrt
Letztlich also ist die Soziologie eines Luhmanns eine bestimmte individuelle Beobachtung, die ein individuelles Beobachtetes konstituiert (nennen wir es analog dem Higgs-Boson die Luhmann-Gesellschaft), das der Leser als Beobachter zweiter Ordnung beobachtet, der Luhmann beim Beobachten beobachtet, ihn zugleich aber natürlich nicht beobachten kann, weil er entweder nur den Beobachter, der das Beobachtet beobachtet, beobachten kann – oder das Beobachtete des Beobachters, in dem der Beobachter zwar als theoros der Theoria präsent ist, von dem Beobachteten nicht trennbar, aber eben auch nicht als vom Beobachter getrennt beobachtbar. Es sei denn der Beobachter zweiter Ordnung wird selbst zum Beobachter. Dann ist er selbst natürlich kein Luhmann. Sondern bleibt, der er war – und zeigt damit, dass es die Gesellschaft nicht außerhalb der Beobachtung gibt. Der Beobachtung seiner selbst. Als Ansichtssache.
Das Theater der Gesellschaft
Das übrigens kann eine konsistente Theoria des Theaters besser abbilden. Denn der Soziologe beobachtet eine Gesellschaft, deren Teil er in dem Moment nicht mehr ist, indem er das, was er beobachtet, als Gesellschaft beobachtet. Er stellt sich dem unterstellten Wir als beobachtendes Ich gegenüber wie der König dem Volk. Aber anders als der König kann er das Volk nicht verändern, keinen Einfluss nehmen. Eine tragische Position des Beobachters, dem Schicksal des mythischen Sehers gleich, der das Verhängnis sieht (vorhersehen oder nicht mal dahin gestellt) aber NICHTS dagegen tun kann – weil er sonst Teil des Geschehens werden müsste, das er dann nicht mehr sehen kann.
Die Gesellschaft der Beobachter
Soll so etwas wie Gesellschaft entstehen (und hier liegt meine eigentliche Unzufriedenheit mit Luhmann) müsste konsequenterweise eine möglichst groß0e Zahl von Beobachtern geschaffen werden, die die Gesellschaft beobachtet (heißt: durch Beobachtung eine Gesellschaft in den Augen der Betrachter erzeugt). Nur wenn möglichst alle Teile der Masse (die keine Gesellschaft ist) die Masse um sich herum als Gesellschaft zu betrachten beginnen, kann so etwas wie Gesellschaft entstehen. Als gemeinsame Beobachtung – von Einzelnen, die nicht Gesellschaft sind noch werden. Sie sind, um die Gesellschaft in der Beobachtung erzeugen zu können – aus der Stadt hinaus gezogen wie weiland Agrippa (vgl. hier) und beobachten das Zurückgebliebene als Gesellschaft. Aber sie sind nicht Gesellschaft. Sie sind einzelne Beobachter. Das heißt: In dem Maße, wie die Operation durchgeführt wird, die Gesellschaft als Bewusstsein oder Beobachtung von Beobachtern erzeugen soll, verunmöglicht sie das Entstehen von Gesellschaft, da plötzlich nur eine Reihe vereinzelter Gesellschaftsbeobachter einsam in ihren Sozio-Peepshow Boxen sitzen.
Der fließende Beobachter im Fluss
Geht nun Kusanowsky etwa hin und beobachtet, dass die Empirieform sich vom Dokument zum Performat wandelt (was ich noch immer einen enorm starken Gedanken finde), so zieht er sich damit in die transzendentale Beobachterposition zurück. Das heißt: Der Beobachter wird zu jenem dokumentierenden fundamentum inconcussum, das zuvor durch Produktion von Dokumenten gesichert werden sollte. Er wird zum auktorialen Beobachter oder zum beobachtenden (beobachteten) Autor. Und die angebliche Autopoiesis der Gesellschaft oder des Gesellschaftssystems wird zur Autorpoiesis. Wobei die poiêmata zwar wechselnd, veränderlich und im Fluss sind – nicht aber der Autor, der im Fluss badet und der einzige ist, der feststellen kann, dass er nicht zweimal in „den selben“ Fluss steigen kann. Dabei scheint er anzunehmen, dass der Fluss an beiden Zeitpunkten nicht derselbe ist. Tatsächlich ist aber der Badende ebenso wenig derselbe.
Der normative Beobachter ohne normative Macht
Dabei hat die Beobachtung selbst wieder das Paradox, dass es vom Beobachteten natürlich fordern muss, Beobachtungskonform sich zu verhalten. Also voraussetzen muss, dass etwa die Implikationen der Systemtheorie allen Gesellschafts“mitgliedern“ (die von ihrer Mitgliedschaft ja nichts wissen) transparent sein müssen und sie sich danach verhalten. Also fordert der Beobachter entweder „naturgegebene“ Strukturen oder wird zum Sittenlehrer, der seinem Beobachtungsgegenstand die Mores lehren will (ich halte Luhmann für einen großartigen Moralisten in Tradition von Pascal, Montaigne oder Vauvenargues; als Systematiker wird er m.E. überschätzt – wäre er doch Aphoristiker und Zettelkästler geblieben!)., die er hinterher (oder vorher?) als System der Gesellschaft erkannt zu haben glaubt. Was schon immer das Problem von Gesellschaftstheoretikern war: die unauflösliche Vermischung deskriptiver und normativer Bestandteile (etwa in der Festlegung von „regelkonform““ bzw. „gesellschaftskonform“ und „deviant“ bzw. delinquent). Wird auch zu Luhmanns Problem. Und schlimmer noch: Er vermag dennoch nicht einzugreifen in diese Gesellschaft (wir kommen zur vorher festgestellten Tragik zurück), weil er sich dann ja in die Masse begeben müsste, die gar keine Gesellschaft ist und selbst Teil dieser Gesellschaft würde, die nicht Gesellschaft ist und ihn nur dumm anschaute wie die Kuh und fragte: „Du einer, du Luhmann du, was willst denn eigentlich du? Ich habe eine ganz andere Theorie der Gesellschaft, nach der du dich, Luhmann, anders verhalten müsstest.“ Und so unterliegt der Beobachter dem Paradox, die Welt zwar beobachten, nicht aber verändern zu können (selbst wenn er es wollte).
Letztlich haben Monty Python die Sache bereits wunderbar auf den Punkt gebracht (jedenfalls einen Teil der Ausführung).
Nachtrag: Falls jemand jetzt diagnostiziert, dass ich von Luhmann nichts, wenig, zu wenig oder einiges aber falsch verstanden habe – lautet meine Antwort: Es ist halt meine Beobachtung. Ich kann nicht anders.
[…] Eine interessante Irritation über die Luhmannsche Systemtheorie findet sich aktuell bei Postdramatiker, welche zu kommentieren ich noch keine Zeit hatte. Wenigstens kann man aber schon sagen, welchen […]
Das durch mich Unterschiedene ist nicht Dasselbe…auch nicht: Gedanken und Kommunikation. Denken kann nur Luhmann, kommunizieren nur Kommunikation als Operation der Gesellschaft.
Wenn Luhmann meint, dass seine Beschreibungen Beobachtungen des Gesellschaftssysems sind, heißt das: der Text, den du ließt (der ihm nachträglich zugeschrieben wird), zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass er Kommunikation und deshalb eine Operation der Gesellschaft ist.
Schlimmer für die Argumentation im obigen Text: Jede Beschreibung, von der du dich irritieren lassen kannst, kann nur Kommunikation sein, nicht aber aus Gedanken bestehen. Gedanken sind für die Umwelt des jeweiligen Bewusstseins nicht zugänglich. Eine Beobachtung der Gesellschaft kann also nur durch die Gesellschaft selbst, nicht aber durch ein Bewusstseinssystem erfolgen — selbst wenn dieses es wollte.
“Aber Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.”
Luhmann, N.: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt. In: Soziologische Aufklärung 6. S.38.
Vgl darüber hinaus.:
Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft.
Luhmann, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft.
@unterscheidung: Die Reproduktion von petitiones principiorum führt nicht weiter. Die Behauptuung, dass es (vor, nach, neben der Beobachtung und außerhalb, wann auch immer) eine Gesellschaft außerhalb des Auges des Beobachters geben könnte, steht in Abrede. Und damit werden Formulierungen wie “Beobachtungen des Gesellschaftssysems ” (da es nur Beobachtung ist, die im Auge des Betrachters Gesellschaft entstehen lässt) oder “Operation der Gesellschaft” (da die Behauptung, es “gäbe” eine operierende Gesellschaft problematisch ist) abwegig.
“Eine Beobachtung der Gesellschaft kann also nur durch die Gesellschaft selbst, nicht aber durch ein Bewusstseinssystem erfolgen” — klar, würde ich auch behaupten, wenn ich den Verdacht umgehen wollte, ein Autorpoiet zu sein. “Nur die Kommunikation kann kommunizieren.” Und das Wort war bei Gott. Amen.
“Die Behauptuung, dass es (vor, nach, neben der Beobachtung und außerhalb, wann auch immer) eine Gesellschaft außerhalb des Auges des Beobachters geben könnte, steht in Abrede”
Ich finde es immer wieder spannend, wie sich Bewusstseinssysteme so überschätzen können. Liegt vermutlich daran, dass wir Kinder der Gutenberg-Galaxis mit ihren großen Ideen sind. Es überzeugt einfach nicht, wenn sich ein Postdramatiker gegen Luhmann, Matuarana, Varela etc. stellt, ohne sich auf weitere Begründungen als auf seine eigenen Vorstellungen zu beziehen. Dass so etwas trotzdem möglich ist, daran erkennt man den tatsächlichen Unterschied zwischen Massenmedien und Internet.
Selbstverständlich: “Nachtrag: Falls jemand jetzt diagnostiziert, dass ich von Luhmann nichts, wenig, zu wenig oder einiges aber falsch verstanden habe – lautet meine Antwort: Es ist halt meine Beobachtung. Ich kann nicht anders.”
Aber es bleibt die Frage, wie plausibel die jeweilige Beobachtung ist und vor allem: ob sie als Kommunikation akzeptiert oder aber abgelehnt wird. Kontingenz heißt eben nicht: Beliebigkeit.
Oder, wenn ich mit zugekniffenem Auge einen Professor in solchen Situationen zititeren darf: “Ja, das denken Sie. Aber was sie denken, interessiert ja nun wirklich niemanden.” Sein Credo: zuerst kappieren und dann sehen, ob sich die Kritik tatsächlich halten lässt.
@Unterscheidung “Ich finde es immer wieder spannend, wie sich Bewusstseinssysteme so überschätzen können.”
Das sollte gerade einen Systemtheoretiker nicht verwundern: überschätzen sich nicht alle Systeme?