Folgt man der hier im Blog bereits vorgestellten Hypothese, dass Fernsehen im Gebiet der Kunst operiert, speziell in dem Bereich den Kant als „Schematismus“ (hier bzw. hier)beschrieb, jenem Bereich also, in dem sinnliche Anschauungen und Verstandesbegriffe miteinander verbunden und möglichst zur Deckung gebracht werden, so lässt sich ein anderer Blick aufs Fernsehen werfen. Dieser Blick ist ein durchaus Kant-kompatibler und ermöglicht einen erneuten Blick auf das Phänomen der Ereignis- und Katastrophenfixierung von Fernsehnachrichten einerseits, der Mischung von „Nachrichten“ und fiktionalen Formaten andererseits.
In den Blick rückt ein seltsames Verhältnis von Wiederholung und Neuigkeit. Von Vertrautheit und Unvertrautheit, das insbesondere Nachrichten auszeichnet, die ein zeitlich fest definiertes Format (den Begriff von Stanley Cavell aufnehmend) definieren, in dem möglichst Unerwartetes gezeigt wird, ein Format also, in dem Unerwartetes erwartet oder gar gefordert ist. Man setzt sich vor den Fernseher in der Erwartung, das Unerwartete, die Krise, die Katastrophe, das Ereignis geliefert zu bekommen. Und da, wo die Nachrichten selbst nicht „von sich aus“ den Eindruck erwecken, katastrophisch zu sein, da setzt der Bericht alles daran, das Herausragende dessen, was berichtet wir, zu stärken und möglichst zur Katastrophe zu stilisieren.
Die Katastrophe, deren Ereignishaftigkeit das Zumutbare sprengt, ist in der Lage, den geplanten Fluss des Fernsehens zu unterbrechen. Die Flugzeuge schlugen nicht nur im WTC ein, sie schlugen auch in die Fernsehprogrammschemata ein, die sie zerstörten. Das Ereignis schlägt mit aller Macht zu. Und fordert die Verantwortlichen dazu heraus, unerwartete Formate wiederzugeben. Die Erzählung setzt für einen Moment aus. Das kantische Erhabene hat zugeschlagen. Im Extremfall erschöpft es sich in der bloßen unkommentierten Übertragung von Bildern des Unvorstellbaren. Der Choc erschüttert das Programmfundament. Interessant wird es in der Folge, wenn nicht nur die steinernen Trümmer des WTC beseitigt und durch einen Neubau ersetzt werden, sondern das Fernsehen seine Trümmer einsammelt und ein Gebäude errichtet. Ein Erzählung. Das kurze Aussetzen der Erzählungen und der gleichzeitige, kantisch-erhabene Versuch, es in eine Erzählung zu bringen und damit verstandesgemäß zu machen, lassen die Grundspannung des Fernsehens greifbar werden und schärfen den Blick für das, was Stuart Hall die „strukturierte Vermittlung von Ereignissen“ nannte. Eine in sich paradoxale Formulierung, sofern Ereignisse dasjenige sind, was die Struktur einerseits zerschlägt, sie andererseits doch als Struktur erst möglich macht. Indem das Ereignis das Außerhalb jener Erzählstruktur ankündigt, aus dem heraus es als Ereignis beobachtbar wird. Im Strom der Nachrichten wird die einzeln Nachricht als Unerwartete doch zugleich in das Nachrichtenformat integriert. Das Ereignis, die Katastrophe jedoch zeigen, dass die Strukturierung für einen Moment aussetzt und verweisen damit auf ihr Vorhandensein.
Was aber ist die Nachricht? Nichts von dem, was die Nachrichten bringen, hat Erinnerungswert. Es hat nichts zu tun mit Chronistenpflicht. Spätestens zwei oder drei Tage später ist die Nachricht vergessen, wenn sie nicht in eine längere Erzählung eingebettet und wieder aufgenommen wird. Der Inhalt der Nachrichten ist nachrangig, wenn nicht gar bedeutungslos im Vergleich zur Struktur. Nicht der Inhalt ist die Botschaft. Auch nicht (nur) das Medium. Sondern die Struktur ist die Botschaft. Die Struktur, die jede neue Nachricht nur zu einem Gleichnis werden lässt.
Die Religionen nutzen inhaltlich gefüllte Gleichnisse. Das Fernsehen erzählt Strukturgleichnisse – und zwar als eine Wette des menschlichen, strukturierten, erzählenden Verstandes mit der Sinnlichkeit. Die Wette lautet: Was auch immer an Ereignissen und Katastrophen stattfindet – die Nachrichten schaffen es, es in Format und Struktur zu bringen. Deswegen kommt es in den Fernsehnachrichten nicht darauf an, was erzählt wird. Es kommt lediglich darauf an, dass es sich „strukturiert“ vermitteln lässt. Egal was passiert, welche Katastrophe eintritt, welches Ereignis einschlägt – es lässt sich in Struktur aufbereiten und zu einer Nachricht umformen. Es lässt sich in Verstandesstrukturen einbinden – auf die unterschiedlichsten Weisen. Politik lässt sich – wie schon vor einiger Zeit hier beschrieben – in shakespeare’sche Schurkendramaturgien oder in Groschenromandramaturgie einbetten. Naturkatastrophen in Metaerzählungen von der menschlichen Naturzerstörung oder naturgesetzliche Prozesse. Auch in Geschichten von politischem Versagen. Nachrichtenredaktionen haben ein durchaus großes Repertoire solcher Erzählungen, solcher Plots vorliegen. Und sie wissen zugleich, dass sie solche Strukturierungen vornehmen, wie sie von sich weisen, die Nachrichten etwa zu manipulieren. Wie Stuart Hall schon schrieb – zurecht. Sie fälschen nicht Inhalte. Sondern sie strukturieren sie lediglich. Sie arbeiten radikal konstruktivistisch an einem Weltbild.
Darin werden si von den „fiktionalen“ Bestandteilen des Programms unterstützt, die letztlich nichts anderes sind, als die Einübung in die strukturierte Darstellung. Romanzen und Krimis leisten nichts anderes, als die leere Struktur mit beliebigem Inhalt zu füllen, um anschließend die bloße Struktur für die Nachrichtensendung verfügbar zu machen. Das war ebenfalls lange Aufgabe der Kunst – zusammen oder in Konkurrenz mit Religion. Die Versammlung der Einzelheiten in einen „sinnvollen“ Zusammenhang.
Löst man sich von einem herkömmlichen Begriff von Mythos und versteht seinen strukturellen Aspekt bei Aristoteles, lässt sich diese Einsicht bereits in der Poietik finden, wo es heißt, das Wichtigste der Tragödie sei der Mythos als systasis tôn pragmatôn, also die Zusammenfügung der Dinge bzw. Handlungen („pragma“ bezieht sich nicht nur auf die Praxis, es mint eher so etwas wie „Sachverhalte“). Die Komposition.
Was ist dabei die Wette? Dass sich die Krisen, Katastrophen und Ereignisse in den Mythos einfügen lassen. Dass also eine jede „breaking news“ den Mythos vielleicht kurz zu unterbrechen vermag, dann aber aus den Einschlagstrümmern sich wieder ein Mythos erzeugen lässt, eine Erzählung. Und diese Wette wird dann zur ultimativen Wette zwischen menschlichem Begriffsverstand (wenn man Begriffe nicht nur als solche statischer Objekte, sondern auch zeitlicher Abfolgen zulässt), wenn die sinnlichen Ereignisse „live“ eintreffen, wenn also der geschulte Erzählerverstand gefordert ist, in „Echtzeit“ i eintreffenden Signale und „Pragmata“ in eine Erzählung einzufügen. Wenn jederzeit das Ereignis katastrophal zuschlagen kann und dann fordert, in Echtzeit eingebettet zu werden.
Deswegen erfreuen sich Fußballübertragungen so großer Beliebtheit. Hier wird die Wette zwischen dem erzählenden Reporter und dem mehr oder minder chaotischen Platzgeschehen live ausgetragen. Und dann, wenn die Katastrophe zuschlägt, kommt es darauf an. Zwei „Ereignisse“ mögen dafür als Beispiel dienen:
- Über die Katastrophe im Heysel-Stadion von 1985 , sagte der RTL-Livereporter Uli Potofski: „Ich habe keinen einzigen Kommentar zum Spiel abgegeben.“ Die Erzählung versagte und löste heftigste Kompensierungsbewegungen der Fernsehanstalten aus, die mit einem Dauerfeuer an Berichten sich darum kümmerten, in der „Nachspielzeit“ eine Erzählung aus dem Ereignis zu machen.
- Am 1.4.1998 stürzte vor dem Championsleague-Halbfinale in Madrid ein Tor um, der Anpfiff verschob sich um 76 Minuten, während derer RTL auf Sendung blieb und den (später für den Grimme-Preis nominierten) Moderatoren Reif und Jauch überlassen blieb, die Zeit zu füllen.
Zwei Ereignisse schlagen in einer Form zu, die die „strukturierenden Vermittler“ völlig unvorbereitet treffen. Singularitäten, deren erste dazu führt, dass die Erzählung (bei Potofski) aussetzte, die Verstandesbegriffe vor der Übermacht des Sinnlichen kapitulierten. Deren zweite zur nahezu absoluten sinnlichen Leere führte und dem reinen kommunikativen Verstand die Aufgabe überließ, die Leere zu füllen. Einmal wurde die Verstandeswette verloren, einmal gewonnen.
Was aber immer geschieht, es kommt auf die Einzelheiten nicht an, sie füllen lediglich eine Struktur, der gegenüber sie nichts anderes sind, als Gleichnisse. Gleichnisse von der Verstandesfähigkeit, noch mit jeder Nachricht, Krise, Katastrophe und jedem Ereignis erzählerisch, mythisch fertig zu werden. Jedenfalls solange, bis der Fernseher ausfällt.
“Der Inhalt der Nachrichten ist nachrangig, wenn nicht gar bedeutungslos im Vergleich zur Struktur. Nicht der Inhalt ist die Botschaft. Auch nicht (nur) das Medium. Sondern die Struktur ist die Botschaft. Die Struktur, die jede neue Nachricht nur zu einem Gleichnis werden lässt”
Das ist ein sehr lehrreicher Text.
Ich hatte mir so etwas ähnliches schon mal beim Nachdenken über Popmusik gedacht. Bin aber mit dem Gedanken nicht zu recht gekommen.
Die Struktur ist die Form (nicht die Botschaft), die durch das Medium zustande kommt und welche bei erfolgreicher Ausbildung das MEdium selbst gänzlich verschwinden lässt und stattdessen auf die Welt verweist. Empirisch dürfte es umgekehrt zu sein, aber ideologisch scheint es sich so zu verhalten. DIe Ideologie ist wichtig um die Aufmerksamkeitsbereitschaft zu stimulieren. Denn ein Durchschauen dieses Spiels könnte dazu führen, Fernsehen langweilig zu finden.
Das ist wohl alles so, wie hier beschrieben. Wobei man weitergehend fragen kann, ob nicht das ganze moderne Leben nur dadurch erträglich wird, dass man einen Bewusstseinspanzer zur Schockabwehr aufbaut — so hat es Benjamin gesehen. Er hat es sogar, wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, sehr ähnlich ausgdrückt, nämlich dass dem Bewusstsein (also Strukturierungsinstanz) die Rolle zukommt, die Ereignisse durch Erklärungen zu “erledigen”, um mit hnen fertig zu werden. Der moderne Mensch trainiert sich darauf — die Medien sind die Trainer. Das kann man an den Nachrichten bebachten, genaus gut an Serien und Genres, natürlich auch bei Zeitungen und — zack — da sind wir auch beim Internet, wo die Schocks noch dichter und chaotischer auf einanderfolgen. Da hilft beim Fertigwerden allerdings Ignoranz sowie dass die Aufreger so schnell aufeinanderfolgen, dass sie gegenseitig erschlagen. Am ehesten kann sich davon eine Form absetzen, die scheinbar formlos ist: das Dokumentarische, das eine einzigartige Zwischenstellung zwischen Journalismus und Erzählung innehat. Das zeigt sich auch bei den beiden von dir genannten Sportveranstaltungen.
Die Spannung zwischen dem scheinbar Immergleichen und dem scheinbar Immerneuen hat übrigens schon Dieter Prokop seinerzeit gut beschrieben in “Faszination und Langeweile”.