Ein Skyponat mit Klaus Kusanowsky bringt mich dazu einen Gedanken herunterzuschreiben, der mir schon länger durch den Kopf geht und der Teil eines größeren Projektes mit dem Arbeitstitel „Monitori te salutant – Überwachen und Fernsehen“ ist. Nämlich den Folgenden:
Nipkows „elektrisches Teleskop“, als das das Fernsehen hier bereits mehrfach beschrieben wurde (hier und hier), leistet die Ausstanzung aus dem potenziell wahrnehmbaren Kontinuum durch das Kameraobjektiv, die Markierung eines Ausschnittes als herausragend und zugleich die Übertragung dieses Bildes in einen unmarkierten Raum, d.h. in Räume, in denen Zuschauer vor ihren Heiligenschreinen die Nachrichten verfolgen.
Diese Struktur ist für die demokratische Verfassung von Staaten des späten 20. Jahrhunderts von fundamentaler Bedeutung. Lässt man nicht alleine wörtlich Demokratie aus Demos, den Beherrschten, und Kratos, den Herrschenden bestehen, so ist die Aufteilung in diese beiden funktionalen Positionen alles andere als selbstverständlich. Wie kommt es, dass eine Gruppe zu Kratos wird und in dieser Funktion stabilisiert wird, wie kann der Rest sich im unmarkierten Raum der Bevölkerung, des Demos, wiederfinden – wenn nicht (im späten 20. Jahrhundert jedenfalls) durch das Fernsehen?
Die Egalität der Bevölkerung für den Herrscher
Im vordemokratischen Zeitalter waren die Dinge klar: in die Herrschaft wurde der Herrscher hineingeboren, umgeben von einer Gruppe von potenziell Herrschaftsfähigen, mit eigenen (mehr oder minder begrenzten) Herrscherbefugnissen in begrenzten Territorien ausgestattet. Der Pöbel war durch dicke Mauern und bewaffnete Wächter ausschließbar. Dass überhaupt Herrschaft stattfand, dass absolute Macht (wenn schon kein Absolutismus) herrschte, musste der Herrscher von Zeit zu Zeit aktualisieren: Mittels Steuereintreibung und Armeeaushebungen etwa. Oder in Zwischen- und Friedenszeiten durch Erlasse und Verordnungen, die vervielfältigt in die letzten Winkel des Landes getragen und dort an Kirchen- oder Rathaustüren genagelt und von Kanzeln verlesen wurden. Dass diesen Verfügungen kaum praktische Bedeutung zukam, wie neuere Studien über den Mythos des Absolutismus zeigen, lag daran, dass der Zentralherrscher keine hinreichende Organisation hatte, um die Verbreitung und insbesondere Einhaltung der Verfügungen überprüfen und sich mitteilen zu lassen, keine lokalen Mächte in hinreichender Zahl, um überall die Einhaltung durchzusetzen. Die Verordnungen an ihren Nägeln waren der Existenzbeweis der Herrschaft. Die Nichteinhaltung, das Quittieren eines zentralen Edikts durch Achselzucken durch die Bevölkerung war seine Schwäche. In einem interessanten Aufsatz schreibt Achim Landwehr:
Die medialen Möglichkeiten der Publikation und Verbreitung solcher Befehle waren verhältnismäßig begrenzt und bestanden vornehmlich im Aushang und der öffentlichen Verlesung. Angsichts einer allgemein als gering zu veranschlagenden Alphabetisierung kam vor allem der Verlesung, ob sie nun vom Rathaus oder von der Kirchenkanzel vonstatten ging, ein recht hoher Stellenwert zu. Hier stellte sich aber ein weiteres, kaum zu unterschätzendes und auch zeitgenössisch bereits thematisiertes Problem: Wie ließ sich garantieren, daß beispielsweise nach einem Gottesdienst die Aufmerksamkeit der zuhörerschaft noch hoch genug war, um einer längeren Verlesung von Policeyverordnungen mit der nötigen Aufmerksamkeit zu folgen? Wenn die Anweisungen nicht weniger Policeyverordnungen, diese im vollen Wortlaut vorzulesen, tatsächlich befolgt wurden, dann konnte selbst vom besten Gedächtnis kaum verlangt werden, sich den Inhalt mehrseitiger, mündlich vorgetragener Verordnungen zu merken. Auch andere Faktoren standen der ungeteilten Aufmerksamkeit entgegen, die eine Vorlesung herrschaftlicher Normen verlangte: Die Zuhörenden waren bei der Bekanntmachung unkonzentriert, sie verließen Kirche oder Rathausplatz frühzeitig oder waren erst gar nicht erschienen, die Vorlesenden verstanden zum Teil selbst nicht, was sie vorlasen, geschweige denn, dass die Umstehenden es begriffen. Anschläge wurden abgerissen, Amtleute kamen dem Befehl zur Publikation erst gar nicht nach, oder die Verlesung in Kirchen wurde eingeschränkt, weil sie die Kirchgänger verwirrte und das in der Predigt Gehörte verdrängte. Eine mögliche Lösung, um diese Unwägbarkeiten zu umschiffen, hieß: Wiederholung. {…}
Dies vorausgesetzt, läßt sich das für den Absolutismus wesentlich wichtigere Problem angehen, wie Policeyordnungen nach einer solchen, nicht selten wiederholten Publikation in die Gesellschaft einwirken konnten. Mit anderen Worten: Gelang auf diesem Weg eine Zentralisierung der monarchisch-staatlichen Gewalt und eine Disziplinierung der Untertanen im absolutistischen Sinn oder war dieses Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt? Nach meinen bisherigen kritischen Anmerkungen zu Konzept und Begriff des Absolutismus wird es nicht überraschen, wenn ich in Übereinstimmung mit jüngeren Forschungen zur Implementation frühzeitlicher Normen nicht davon ausgehe, daß die Untertanenschaft im Sinne der Formulierungen entsprechender politischer Programme obrigkeitlich diszipliniert wurde. (Absolutismus oder “gute Policey“in: Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? 211f.)
Die „sintflutartigen Massen“ (Landwehr) von Policeyverordnungen hingen von der Bereitschaft der Bevölkerung ab, sie zu akzpetieren nachdem sie von ihnen bewertet und ggf. als sinnvoll erachtet wurden. Eine „drakonische“ Rechtsordnung ließ sich auf ihnen in der Fläche nicht aufbauen. Wozu auch? Weitestgehend konnte dem Regenten das Volk ebenso egal sein, wie der Bevölkerung der Regent. Als gelegentliche Machtdemonstration dienten die Strafexzesse und gewalttätigen Übergriffe des Theaters der Strafen, von denen Foucault kündete. Oder die Prunkausfahrten mit Leibgarde, die die englische Königin noch heute vollzieht. Dem Herrschenden konnte das Volk eben deshalb egal sein, weil er in seiner Macht nicht abhängig war von ihm. Er herrschte durch Gottes (angebliche) und seiner aristokratischen Herkunft und Umgebung Gnaden. Es lohnte sich, ein Auge auf Intriganten und Empörer am eigenen Hofe zu haben. Die Bevölkerung im Blick zu haben, lohnte sich kaum – jedenfalls solange nicht, wie die Bevölkerung nicht den Regenten und seine aristokratische Umgebung köpfte und sich selbst an seine Stelle setzte.
Die Aufspaltung der Bevölkerung
Mit diesem revolutionären Akt, der Köpfung der geborenen Herrscher und der Selbstbehauptung des demokratischeren Staatsgebildes erst entstand die Notwendigkeit, die Postion des Kratos zu besetzen, der aus der Masse hervortrat und diese Funktion übernahm. Und der durch sein Heraustreten aus der Masse nicht nur die Position des Kratos – wie die des Schauspielers auf der Bühne – besetzte, sondern der zugleich auch den unmarkierten Raum des Demos als Publikum definierte. Kratos tritt heraus und begründet alle, die Nicht-Kratos sind als (zuschauenden) Demos. Die demokratische Wahl ist eben jener Akt, der nicht nur im regelmäßigen Abstand diesen Prozess der Zwiespaltung in Kratos und Demos, von der ich hier bereits schrieb, vollzieht, sondern der zudem noch bestimmt, wer für eine bestimmt in der Position des Kratos sein soll.
Wie aber stabilisiert sich zwischenzeitlich, zwischen den demokratischen Wahlriten die Spaltung von Kratos und Demos, ohne zurückzufallen in die Monarchia? Wie also lässt sich eine Spaltung einerseits als Spaltung aufrechterhalten, zugleich verhindern, dass eine Abspaltung stattfindet?
Die Aufspaltung durch das elektrische Teleskop
Es ist zu Anfang die Presse, der Journalismus, die nunmehr beginnt, einerseits durch die Verwandlung des Kratos in den Referenten der Berichterstattung und Einbettung in erzählte Geschichten die Spaltung in berichtenswerten Kratos und lesenden Demos vorzunehmen, die aber zugleich durch die Einblicke und die laufende Berichterstattung jenen Eindruck von Nähe schafft, der den Unterschied gegenüber der Vorzeit macht. Die Existenz braucht Kratos jetzt nicht mehr unbedingt durch Edikte zu beweisen – dieser Beweis wird ihm abgenommen durch Journalismus, der zugleich von seiner Existenz kündet, ihn als Berichteten entfernt und doch zugleich nahebringt. Kratos braucht sich nicht auf das Risiko einer Verordnung einzulassen, die befolgt oder nicht befolgt werden und damit seiner Herrschaft gefährlich werden kann. Seine Präsenz in der Fläche gewinnt er dadurch, dass über ihn Geschichten und Legenden erzählt werden.
Dieser journalistischen Zeitungsfigur – unbedingt zu ergänzen durch die Theaterkultur des 19. Jahrhunderts, die diese Spaltung in Akteure und Publikum ebenfalls vollzieht, die einem „Recht auf Einsicht“ des Demos einerseits das Recht auf Darstellung und (Re-)Präsentation des Kratos gegenüberstellt – wäre nachzugehen, was aber hier nicht geschehen soll. Denn die Formation zeigt sich auch im Fernsehen des späten 20. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit (und als Verbindung von Zeitung und Theater). Das elektrische Teleskop setzt sich zwischen Kratos und Demos, spaltet beide so auf, dass die Positionen von Demos und Kratos getrennt sind – und dennoch eben vereint in der Demokratie und dem Fernsehen. Das Teleskop ist Trennungsmittel und Bindeglied. Es ist trennende und verbindende Scheibe.
Das Teleskop richtet sein Objektiv auf Kratos, den es eben dadurch laufend, allabendlich heraushebt aus der Masse des Demos und überträgt ihn in die Heiligenschreine. Kratos ist – wie die Götter der Antike – nur was er ist, indem über ihn berichtet wird. Keiner mag Zeus gesehen haben, keiner den Bundeskanzler oder den Präsidenten. Allein im Bericht zeigen sie sich. Und werden dadurch, dass sie als Referenten des Berichts herausgestanzt werden aus dem Kontinuum auf der leuchtenden Mattscheibe verklärt. Auf jeder Mattscheibe in jedem Wohnzimmer. Wie die alte Verordnung, das (versuchte) Machtwort des Monarchen, das an der Kirchentür hängt, wird nun sein flimmerndes Bild auf den Heiligenschreinen zum laufenden Beweis seiner Existenz „anderswo“. Zu seiner „Realität“ – ohne dass er dabei eine Machtprobe befürchten müsste wie noch zu Zeiten, da sein Edikt ignoriert werden konnte.
Die unmarkierte Masse des Demos konstituiert sich als Fernsehpublikum, die eben vor und nicht auf der Mattscheibe ist. Es ist jene Masse des „bardischen Fernsehens“ (John Fiske), die sich allabendlich vor dem Lagerfeuer versammelt, das in allen Wohnzimmern steht und das unmarkierte Ende des elektrischen Teleskops darstellt. Der Fernseher leistet die Trennung zwischen Demos und Kratos und vereint sie zugleich in der Demokratie. Man sollte den Fernseher vielleicht doch nicht unterschätzen, wenn die Demokratie zur Diskussion steht – und seine Funktion als Dekadenz oder gar Ausweis der Postdemokratie zu verstehen, ist zumindest vorschnell, vermutlich aber einfach dumm.