Der erste Satz von Luhmanns „Realität der Massenmedien“ ist (neben dem Buchtitel selbst) so komplex, dass eigentlich kein Leser mehr lesen müsste oder dürfte, als diesem Satz. Vorausgesetzt, dieser Leser hätte das Interesse und die Fähigkeit, diesen Satz als mehr denn nur eine Kalenderweisheit zu verstehen, die besagt, dass das Fernsehen uns ziemlich beeinflusst. Warum, dazu gleich.
Fernseh-Spaces
Fernsehen verwandelt die unmarkierte, ungeformte Welt in einen marked space, der ihr Sinn verleiht, zugleich die Welt als unmarked space ausschließend. Wer sich vor dem Fernsher befindet, nimmt die Welt als eine wahr, die Sinn hat – sitzend in einer dadurch nur umso mehr als sinnlos erfahrbaren Welt. Der Fernseher produziert eine „Sinnwelt“ (Luhmann, KdG 61), die sich durch Abbildung aus Elementen einer Welt konstituiert, die dadurch nur als umso sinnloser erfahrbar wird. Fernsehen gibt der Welt als Welt Sinn. Die Außenseite dieser Form „Fernsehen“ – lässt sich Luhmann parodierend (KdG 63) überraschend sinnvoll sagen – bleibt unmarked space.
Nipkows “Elektrisches Teleskop zur elektrischen Wiedergabe leuchtender Objekte” ließe sich ja so verstehen, als würde einfach eine unendlich lange Röhre die Möglichkeit gestatten, von A nach B zu schauen. Als würde einfach der Blick erweitert in die Ferne. Tatsächlich ist das, was im Fernsehen läuft das Ergebnis einer Konstruktion. Dass sich eine Kamera zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort befindet und mit einer bestimmten Brennweite in eine bestimmte Richtung „schaut“, ist das Ergebnis eines vielfältigen Auswahlprozesses, der Kriterien folgt. Welche Kriterien das sind, ist nicht immer erkennbar. Hier können sowohl ideologische, als auch politische, gesellschaftliche Motivationen am Werk sein, aber auch nur technische Präferenzen oder Forscherinteressen. Als Zuschauer hat man lediglich Vermutungen zur Hand, Unterstellungen – oder man nimmt es hin wie es ist.
Wenn man den Grundsätzen des radikalen Konstruktivismus folgt – und einiges spricht dafür das zu tun -, dann ist das, was einem Beobachter als Welt erscheint (oder als Objekt, Mensch, Fußball usw.) immer schon Ergebnis eines komplexen Prozesses der Vereinigung von sinnlichen „Daten“ und Strukturgebung. Spätestens seit Kants Abschied von den noumena und den „Dingen an sich“ ist eine solche, folgenreiche Betrachtung der Welterkenntnis verbreitet, ergänzbar um den Cartesischen Verdacht, die wahrgenommene Welt sei nur Selbstaffektion des träumenden Gehirns oder auch der platonischen Lehre, die allerdings die (scheinbare) Irrtumsanfälligkeit der Sinnlichkeit durch Hinwendung zu den Ideen überwinden wollte.
Ist es nun so, dass die Weltwahrnehmung und Erkenntnis ursprüngliche Konstruktion ist, so bedarf sie einerseits einer Anstrengung des Wahrnehmenden oder Erkennenden (die ihm vielleicht nicht einmal bewusst ist, aber bewusst werden kann, wo das selbstverständliche Verstehen aussetzt). Andererseits ist sie inkommunikabel. Es kann einer einem anderen die Welt nicht so kommunizieren, wie er sie konstruiert hat, da zumindest Teile dieser Konstruktion für den Wahrnehmenden nicht oder nur mit großer Anstrengung bewusstseinsfähig sind. Auch hier sorgt nur die Irritation, die Täuschung oder das Aussetzen der Konstruktion. Die Nicht-Integrierbarkeit dessen, was ein anderer Beobachter zu kommunizieren scheint mit der eigenen Konstruktion dafür, dass für einen Moment die eigene Konstruiertheit zugänglich wird.
Fernsehen nimmt dem Beobachter die Mühe der Konstruktion ab. Fernsehen bietet nicht den Strom von wahrnehmbaren Daten oder Sensibilia, die von einem Verstand geordnet werden müssten, bietet dem bildenden Bewusstsein nicht einfach Rohstoff. Es liefert vielmehr durchs eine Konstruktion und Konstruiertheit mehr oder weniger fertige Konstrukte. Wie ein Mensch die Welt wahrnimmt, ist anderen Menschen zumeist nicht zugänglich. Im Fernsehen plötzlich wird ein kollektives Bewusstsein zugänglich, das „Welt“ für alle anderen Wahrnimmt. Die Fernsehwelt ist bewusst aufbereitete Welt. Der marked sace behauptet, den unmarked space wiederzugeben, wo er doch tatsächlich den unmarked als marked space darstellt – und damit zugleich den den Fernseher umgebenden unmarked space für einen Beobachter, der den Beobachtungen des Fernsehens nachfolgt, sukzessive zu markieren unternimmt.
Luhmanns Weltwissen
Luhmanns Realität beginnt mit dem Satz:
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.
Dieser scheinbar so einfach verständliche Satz hat es in sich. Was heißt hier „Gesellschaft“, was „Welt“, was „wir“, was „wissen“. Und was überhaupt Massenmedien?
Vor dem Massemedium gibt es kein „wir“ – es sei denn vor dem Massenmedium. Das heißt: Bevor ein Medium da war, an dem sich eine Masse kristallisieren konnte, gab es das „wir“ in der Form nicht, von dem Luhmann spricht. Das Zuschauer-wir. Dieses wir konstituiert sich dadurch, dass an den unmöglichsten Stellen zugleich einzelne Beobachter sitzen, die das gleiche sehen. Erst nachdem viele zugeschaut haben, werden sie zum „wir“. Egal, ob sie sich im selben Wohnzimmer befinden oder verstreut in der Welt. Das Massenmedium ist Massenmedium, weil es eine Masse erzeugt, die ein „wir“ wird. Wir sehen fern, also sind wir wir. Spectamus ergo sumus.
Das Gemeinsame dieses „wir“ ist das, was sie teilen, das „wissen“. Sie befinden sich zur selben Zeit am selben Ort (wo auch immer aber vor dem Fernseher), einer Kirchengemeinde gleich, und konsumieren denselben Inhalt. Sie sehen nicht nur, sie erlangen wissen. Und dieses geteilte Wissen ist das Vereinende. Wer dieses Wissen nicht weiß, steht außerhalb des Wir.
Der scheinbare Inhalt dieses Wissens sind Gesellschaft und Welt. Beides aber, muss man nach den langen einleitenden Bemerkungen hier sagen, sind Konstrukte. Dass das vielfältige Gewusel in den Straßen „Gesellschaft“ sein soll, dass das seltsame Spiel von Farben und Linien „Welt“ sein soll, wie sich Gesellschaft und Welt konstituieren, wie sie sich gegenseitig verhalten, das ist das Ergebnis des Konstruktes „der Massenmedien“. Massenmedien zeigen den Massen Massen, die sie durch Konstruktion in Formen namens Gesellschaft und Welt verwandeln, die wiederum nun für die konstituierten Massen vor den Fernsehgeräten als Gesellschaft und Welt konsumierbar werden. Es bedarf keines konstruierenden Beobachters um die Konstruktion vorzunehmen, sie wir frei Haus geliefert vom (wenn man so will) transzendentalen, kollektiven Superbeobachter Fernsehen.
Und es handelt sich nun nicht um fremde Welten und Gesellschaften, sondern um diejenige „in der wir leben“. Das heißt: Das Massenmedium Fernsehen (ich schränke bewusst auf Fernsehen ein), verwandelt den unmarked space, in dem die Einzelnen sich befinden, in eine Welt und eine Gesellschaft, von der es wissen gibt. Allerdings fehlt eines dabei: Der Zuschauer. Im Fernsehen ist die ganze Welt, die ganze Gesellschaft wissensfähig dargestellt und aufbereitet – nur er selbst fehlt darin. Damit wird letztlich der einsame Fernsehzuschauer potenziell zum letzten „unmarked space“ der Welt und der Gesellschaft.
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.
Der Artikel hat einen kleinen, aber entscheidenden Haken: Luhmann meinte mit Massenmedien mitnichten nur das Fernsehen (und auch nicht nur Boulevardmedien), sondern alle Medien mit massenhafter, unsymmetrischer Verbreitung, also eben auch vor allem BÜCHER.
So lässt sich die hier behauptete Differenz von Fernsehwelt und der gelesenen oder anders wahrgenommen Welt zumindest ih ihrem kritischen Impetus kaum aufrecht erhalten.
Typisch für Luhmann war außerdem, dass er sich selbst nicht ausnahm: Auch Soziologen wissen das meiste, was sie über die Welt wissen, aus den Massenmedien. Das hätte dem Autor zu denken geben können.
Die ganze Semantik mit “Masse” usw. ist ziemlich Luhmann-fremd. Den Begriff Massenmedien hat er zwar übernommen, spricht aber niemals von “der Masse” als Rezipient.
Schade. Ich hoffte, die Sache hätte einen großen Haken.
Ich habe den Artikel mit Interesse gelesen und finde das Verhältnis von (Menschen-)Masse und Gesellschaft (als Summe aller Kommunikationen) sehr spannend. Ich werde den Gedanken noch etwas weiter treiben:
In “Die Politik der Gesellschaft” geht Luhmann explizit auf die “öffentliche Meinung” als Spiegel der Politik ein, mit deren Hilfe politische Kommunikation zwischen Wähler und Parteien/Politikern erst möglich wird.
Nach meiner Kenntnis gibt es von Luhmann keine Erläuterung, wie die Transformation der “fernsehenden Masse” zum “politisch kommunizierenden Bürger” als Teil der öffentlichen Meinung von statten geht.
Natürlich kann man sich über die gesellschaftlichen Funktionssysteme behelfen und Zuschauer einer politischer Sendung als Teil der politischen Kommunikation beschreiben. Schaltet er dann auf Fussball um ist er Teil des “Sportsystems”. Ist er damit dann Teil einer (Fan-)Masse?
Es wird deutlich, dass der Begriff “Masse” zur Beschreibung von Rezipienten außerordentlich ungünstig ist. Für die massenhafte Bereitstellung von Informationen mag der Begriff dienen. Sobald Rezipienten innerhalb des Massenmediums Fernsehen und noch deutlicher im Medium Internet “Entscheidungen” treffen und ein “individuelles Profil entwickeln”. Sie entwickeln ihr eigenes Bild von der Welt über Medien. Dieser Prozess geschieht umfasst die gesamte Gesellschaft.