Auf den ersten Blick, etwa in Programmzeitschriften oder beim verhuschten Zappen über die Kanäle könnte man auf die Idee kommen, der Fernseher sei ein „wunderbarer Raritätenkasten“ (Goethe über Shakespeare), der immer wieder und im Wesentlichen Neues zu bieten habe, das sich schwer kategorisieren lasse, entfernt man sich von den konstanten Inseln wie der Nachrichten und dem Wetterbericht, um die es zuletzt ging.
Beschäftigt man sich allerdings mit Formaten, insbesondere solchen Formaten, die klassischerweise als fiktional gelten, fällt eines sehr schnell auf: Das Fernsehen hat erstens andere Gernres zu bieten als etwa die Filmgenres (und auch als das Theater). Zweitens ballen sich die Formate in auffälliger Weise an einem Punkt: Beim Krimiserien, wie die Wikipedia-Übersicht zeigt. Zusammen mit dem Genre „Justiz/Anwaltserie“ sind es über 500 Serien, die in Deutschland in der Geschichte des Fernsehens in diese Kategorie fallen. Kein anderes Genre schafft diese Konstanz und diese massive Verbreitung unter den Fernsehserien. Es fallen darunter natürlich sowohl deutsche Produktionen (wie der Tatort) und insbesondere amerikanische, die insbesondere im Privatfernsehen weite Verbreitung finden. Das weist in zweierlei Richtung: Einserseits sscheint ein großes Zuschauerbedürfnis nach diesem Format zu bestehen. Andererseits scheint ein enormes Bedürfnis seitens der Macher zu bestehen, dieses Formatbedürfnis zu befriedigen. Der Blick auf beide Seite eröffnet Interessantes.
Die Erlösungserzählung für den Zuschauer
Dass der Heiligenschrein im Wohnzimmer Gleichnisse erzählt, die zwar Zeitvertreib sein mögen, aber zugleich mehr zu bieten haben, als die bloße Vertreibung der tödlichen Langeweile, war ja gelegentlich in den anderen Postings zur #MediaDivina ausgeführt worden. Etwas muss Menschen vor den Fernseher ziehen, das mehr zu bieten hat, als etwa ein Blick in ein Goldfischglas. Das auch mehr zu bieten hat, als ein Gespräch mit der Familie, ein Spieleabend, ein Gang ins Theater, in Spaziergang. Etwas das hinausweist über den bloßen Zeitvertreib und die Erzählung, die da über die Mattscheibe flimmert und die die Welt bedeutet. Dass das Gesendete nur ein Gleichnis ist, dessen Inhalt nicht der Inhalt, sondern die in der Sendung durch Inhalt realisierbare Struktur ist, stand letztens hier. Das trifft auch auf die Kriminalserie zu.
In einer als kohärent erlebten oder unterstellten Lebenswelt ist die Straftat der Einbruch des Unvorhersehbaren. Es ist die menschengemachte Naturkatastrophe, die im Leben des Einzelnen etwa die Wirkung hat, die der Einschlag der Flugzeuge in die Twin Towers hatte, auf das Fernsehprogramm hatte. „The time is out of joint“, der bloße Fluss des alltäglichen Geschehens mit seinen Höhen und Tiefen, liebsamen und unliebsamen Überraschungen wird außer Kraft gesetzt, zumindest wenn es um die „schweren“ Verbrechen geht, also nicht um Steuerhinterziehung und Fahrraddiebstahl (von sporadischen Ausnahmen wie “Schwarz-Rot-Gold” abgesehen), sondern um Entführung, Erpressung, Geiselnahme, Mord. Insbesondere letzterer mit all seinen soziokulturellen Auswirkungen, mit den geübten und durch neuzeitliche Gerechtigkeit und Gerichtsbarkeit außer Kraft gesetzten Racheriten, die durch nachträgliche Wiederholung des mörderischen Aktes an einem zweiten Opfer, das als verursachender Täter betrachtet wird (aber es für die angeblich reinigende Wirkung des Racheritus letztlich nicht zu sein braucht, weswegen rechtsstaatliche Verfahren auch für den Lynchmord aufgegeben werden können), die aus den Fugen geratene Zeit wieder in die Fugen bringen sollen („set it right“ wie Hamlet sagt), ist sowohl lebensweltlich von massivster Auswirkung (nicht nur für das Mordopfer) und ist zugleich das vorherrschende Zentralthema aller Kriminalserien.
Als das absolute Maleficium einer Gesellschaft, die das Leben als garantiert unterstellt, ist es einerseits konstanter negativer Grundbezugspunkt dieser Gesellschaft (als Schutz des Lebens durch staatliche Einrichtungen), wie auch absoluter Albtraum in einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich nach dem Tod kein ewiges und möglichst auch noch besseres Leben erwartet. Wenn das Leben im Diesseits das einzige ist, ist der Raub dieses Lebens die absolute Straftat. Und das Crimen exceptum ist der Mord an demjenigen, der noch das Meiste von diesem Leben vor sich hat und auch nicht ansatzweise einer wie auch immer gearteten Schuld geziehen werden kann, einer Verwicklung, in der die Tötung irgendwelche mildernden Umstände denkbar macht: der kleine Mensch, das Kind – wobei schon hier angesichts des hohen medialen Aufmerksamkeitspotenzials angemerkt werden kann, dass es meines Wissens keine Kriminalserie gibt, die sich ausschließlich um Kindermorde dreht. Was damit zu tun hat, dass die kriminalfilmliche Erzählung Gefahr läuft, von diesem crimen durchschlagen zu werden, heißt: die Heilserzählung könnte von hinreichend vielen Zuschauern als nicht heilsam genug betrachtet werden. Man müsste sich – auch wenn es Kino war – mit Langs M‑Eine Stadt sucht einen Mörder (einem der ersten deutschen Tonfilme übrigens) genauer beschäftigen, um der über das erzählerische Format hinausgehenden Wucht nachzuspüren – und man müsste dabei in Rechnung ziehen, dass in neuerer Zeit ein solcher Kindermord immerhin zu einer Debatte führte, die das archaische Ritual der Folter wieder einführen und sogar rechtlich billigen lassen wollte . Diese soll hier zunächst nicht weiter interessieren. Vielmehr geht es um die zahlreichen Serien, die mit einer offenbar hinreichenden Koppelung von „out of joint“ und „set it right“ versehen sind, um einerseits genug Zuschauer vor den Fernseher zu ziehen (dafür ein bedeutender Joint, der sich eben nicht in kleineren Straftaten erschöpft) und zugleich am Ende der Folge dafür zu sorgen, dass die Auflösung als „right“ akzeptiert wird und nicht mit einem Kommentar versehen wird, der die Angemessenheit der Lösung für die Verwicklung infrage stellte.
Die Kriminalserie, jede Kriminalserie, ist eine Heilserzählung. Sie bezeugt einerseits, dass es in der Welt vielleicht nicht „das Böse“ gibt, aber die Bösen, die anderen nach dem Leben trachten. Und sie bezeugt durch ihre Erzählung zugleich, dass das Böse durch die sinnhafte Erzählung neutralisiert werden kann. Es ist der Wunsch, immer und immer wieder dieselbe Geschichte zu sehen, die Geschichte vom Untäter und seiner Untat und vom Kriminalisten, der den Untäter aufspürt und dingfest macht. Eine Erlösungsgeschichte, die nicht den Heiland als Erlöser benötigt, der von allen Übeln befreit, auch nicht den Priester, sondern jenen Staatsbeamten, der der Kriminalist ist. Es ist das Heilgeschehen jener Weltreligion, deren Kirche das Fernsehen ist, die dem Zuschauer als Gläubigem immer und immer wieder predigt, dass einerseits die Sicherheit er Lebenswelt, die der Zuschauer sich wünscht, nicht einfach voraussetzt und angenommen werden kann, und die zugleich erzählt, dass an der Sicherheit und der Beseitigung von Unsicherheitsfaktoren dauernd gearbeitet wird, ohne dass ein Ende absehbar, ein letzter Untäter dingfest gemacht werden könnte.
Der Zuschauer wird zur Heilsverkündung an den Fernseher gebracht, auf die er sehnsüchtig wartet und die er nicht oft genug in unterschiedlichster Form sehen kann.
Im Kriminalfernsehen verbindet Fernsehen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit
Ist diese Funktion schon von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung, so kommt der fernsehinternen Funktion fast noch ein höherer Stellenwert zu, sorgt doch das fiktionale Format des Kriminal‑, Justiz- und Gerichtsfilmes für eine Selbstbeglaubigung der #MediaDivina – im sogenannten fiktionalen Format.
Dass die Fernsehkommissare kaum Ähnlichkeit mit ihren „realen“ Vorbildern haben, dass die Art der Fälle eher den kleinsten Teil der Fallarten in der Kriminalstatistik aufgreift (und eben zumeist nicht die schnell durchschaubaren Morde und Totschläge im Familien- oder sonstigen sozialen Nahfeld, sowie die Spontantaten), sei festgestellt. Krimiserien interessieren sich nicht für „die Realität“ – selbst wenn bestimmte Serienformate sich an „wahren“ Fällen („Dragnet“/“Stahlnetz“) orientieren, andere Formate für sich „Realismus“ reklamieren und dabei nur eine neue Sehgewohnheit etablieren wollen, die die alten Kriterien der Realitätsbeglaubigung ablösen soll (Schimanski).
Spannend wird es im Rückgriff auf die Vor- und Frühgeschichte dramaturgischer Theoriebildung, nämlich auf Aristoteles. Im 9.Kapitel heißt es dort:
(1) Aus dem Gesagten erhellt, dass nicht Erzählung des Geschehenen Aufgabe des Dichters ist, sondern Erzählung der Begebenheiten, wie sie geschehen sein könnten, und des Möglichen nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit.
(2) Denn der Geschichtsschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, dass sie entweder in gebundener oder in ungebundener Rede sprechen. Man könnte z.B. die Bücher Herodots ins Versmaß bringen und sie wären um nichts weniger Geschichte mit Versmaß als ohne Versmaß. Aber dadurch unterscheiden sie sich, dass der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, wie es hätte geschehen können;
(3) deswegen ist die Poesie auch philosophischer und ernsthafter als die Geschichte. Denn die Poesie stellt mehr das Allgemeine, die Geschichte das Einzelne dar. (Quelle)
Aristoteles lässt den historikos gegen den poietes antreten, wobei ersterer zu erzählen habe, was geschehen ist (genomena), letzterer, was geschehen könnte (genoito). Ersterer ist also der Nachrichtenerzähler, letzterer ein ursprünglicher Konstrukteur, der nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit handelt. Interessant dabei ist, dass beides auseinanderfällt. Beide mögen über die „selben“ Gegenstände erzählen, sie erzählen aber potenziell anders. Auch wenn der Poietes gelegentlich dasselbe erzählt, wie der Dichter:
Denn einige geschichtliche Ereignisse können ohne Anstand von der Art sein, wie sie wahrscheinlicher- und möglicherweise geschehen sein können; und in dieser Hinsicht sind sie einer poetischen Behandlung fähig.
Es gibt, lässt sich sagen, Geschehnisse, die der Logik von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit folgen – nicht aber unbedingt alle. Es lässt sich vom Wirklichen sagen, dass es möglich ist – eine logische Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit muss darin nicht sein. Im Gegenzug lässt sich sagen, das nicht alles, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit gebaut ist, auch wirklich sein muss.
Fernsehen hat das grundlegende Glaubwürdigkeitsproblem, von dem schon im Wetterberichtsposting die Rede war und das den Wetterbericht als ein umgekehrtes Reliquientum und vorwärts gerichtete Archäologie ins Spiel brachte. Es hat das Problem, das es die Welt bildlich referenziert, das Bild des Geschehens als Kommunikationsinhalts einer selbst nutzt, dabei aber nicht verbürgen kann, dass es so geschehen ist. Fernsehen lechzt also danach zu zeigen, dass seine eigene Erzählung zwar vielleicht insofern anders ist, als sie nach den Kriterien der Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit funktioniert (als aristotelische poiesis oder Luhmannsche Konstruktion), dass diese Erzählung aber dennoch den wesentlichen Dinggehalt trifft.
Genau dafür steht die Kriminalserie. Was geschieht hier? In unterschiedlichster Form, verlaufen zwei Serien in jeder Handlung ineinander verschlungen. Es ist einerseits die Serie des (gezeigten oder nicht gezeigten) Tatverlaufs. Und zweitens die Serie des Erzählers, der der Ermittler ist.
Das kann man sicherlich von allen Kriminalserien feststellen, dass die Kriminalisten immer Erzähler sind, die an einer Erzählung arbeiten. An der Taterzählung, die das bloße Geschehen anreichert mit Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit. Dass eine Tat so oder so geschehen ist ist die eine Sache, die andere Sache ist die Ermittlung des Ermittlers, der sie nach – fernsehartig – ausgestanzten Realitätsbruchstücken, wie etwa Spuren und Zeugen, sowie mit erzählungseigenen Bestandteilen wie Motiv“ und „Alibi“ ausrüstet, um zu dem Ergebnis zu kommen, wer der Täter war. Zugleich – der Heilsgeschichte einen Beitrag liefernd – Motivationen für die Tat angibt, die sich wiederum gesellschaftlich integrieren und in eine Kausalitätserzählung dort einbinden lassen, wo doch eigentlich eine Kausalität „out of joint“ gesetzt wurde. Das Unverständliche des Geschehens aus Opfersicht (bzw. der Angehörigen) wird mit einer Sinnerzählung ergänzt, der Bruch in der Zeit durch die Täterkausalität „repariert“.
Zugleich ist der Ermittler aber natürlich ein Fernsehreporter, der tut, was ein Fernsehreporter tut – nur dass er es zu spät tut. Wo der Fernsehreporter „live“ beim geschehen ist, über das er berichtet, was das Fernsehen später zeigen wird, kommt der Kommissar immer erst, wenn es zu spät ist, wenn der Bruch in der Zeit bereits eingetreten ist. Der Kommissar setzt sich nun die Geschichte zusammen – nach Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit, darin dem erzählenden Reporter gleich. Er befragt Augenzeugen und sichtet Indizien und Beweise – auch darin dem Fernsehen gleich.
Der Unterschied zwischen Kriminalserie und Fernsehen als Medium aber: Das „Geschehen“, über das das Fernsehen berichtet, kann nicht Gegenstand des Fernsehberichtes werden. Die referentielle Welt, über die das Fernsehen berichtet, ist weder dem Fernsehen noch dem Zuschauer greifbar – das ist der tiefere Sinn des Nipkow’schen „umgekehrten Teleskops“ (vgl. hier, hier und hier). Fernsehen berichtet über das, was dem Zuschauer schlechthin nicht greifbar ist – kann aber dadurch nicht beweisen, dass die Erzählung „historisch“ ist, auch wenn die Glaubwürdigkeitsprinzipien der Erzählung „poetisch“ sind: nämlich Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit.
Dafür springt die Kriminalserie ein, die zweierlei tut. Zunächst lässt sie beide „Serien“ durchlaufen (das Tatgeschehen und die sich mählich bildende Erzählung vom Tatgeschehen). Dabei ist es gar nicht wichtig, ob der Zuschauer das tatsächliche Tatgeschehen komplett verfolgen konnte (wie in „Columbo“ etwa), oder ob der Erzähler zum Tatort kommt, ohne dass der Zuschauer den Tatablauf kennt. Dieser Abgleich findet notwendigerweise statt – und zwar in einem notwendigen Kulminationspunkt, der typischerweise durch das Geständnis des Täters am Ende markiert wird, gelegentlich einfach durch den Richterspruch. Beide – Geständnis und ersatzweise Richterspruch – haben die Funktion das Geschehene und das Erzählte zu vereinen. Insbesondere im Geständnis beglaubigt der Einzige, der tatsächlich regelmäßig die Übereinstimmung von Geschehen und Erzählung beglaubigen kann, dass beides zur Deckung kommt.
Dabei loten die verschiedenen Krimiserien unterschiedlichste Formen dieser Zusammenhänge aus, folgen insbesondere gesellschaftlichen Leitglaubenssätzen, zu denen etwa die zunehmende Ver-Naturwissenschaftlichung gehört, die sich in dem Heer von Gerichtsmedizinern und ähnlichen realisiert. Zuvor war etwa der leitende Zweifel an den rechtlichen Möglichkeiten der Polizei (insbesondere nach Miranda-Case) nach der klassischen Polizeiserie (wie Der Kommissar) darin gemündet, dass Polizisten Regelbrecher (Dirty Harry) sein müssen oder direkt Privatdetektive (Rockford), die nicht an die polizeilichen Regularien gebunden sind. Das aber ist jeweils nur zeitgeistlicher Kolorit. Es kann nicht die Grundfunktion der Krimiserie für das Fernsehen überdecken: Trotz aller Irrungen und Wirrungen, trotz aller falscher Spuren und zwischenzeitlicher Falschverdächtigungen findet der Erzähler doch die wesentliche Wahrheit heraus. Es laufen am Ende des Krimis die Serie des historikos und des kriminalistischen poietes zusammen.
Indem Fernsehen in diesem fiktionalen Format beide Serien ineinander verwoben zeigen und immer wieder neu ineinander verdrehen kann, beglaubigt es zugleich seine eigene „kriminalistische“ Fähigkeit. Es argumentiert, dass der Erzähler-Reporter-Kommissar zwar eventuell nach eigenen Regeln (der Kriminalistik oder der Poietik) zu seinen Ergebnissen und seiner Erzählung kommt, dass aber dennoch die Erzählung dieses poietes mit der des historikos deckungsgleich ist. Es gibt in Kriminalserien keine Justizirrtümer. Genau deswegen zeigt sie das Fernsehen – und liefert dem Zuschauer jene Heilsgeschichte, nach der er vor der Mattscheibe lechzt, um einer Weltreligion einen Dienst zu erweisen.