In der neuesten ARD/ZDF-Onlinestudie bin ich über einen Vertipper gestolpert, der mir sehr gefiel:
Nicht nur die gelegentliche zeitversetzte Nutzung von Fernsehsendungen oder Ausschnitten daraus via Internat hat sich seit 2008 von 14 Prozent auf 29 Prozent verzweifacht, … (hier Seite 4f.)
Das „Internat“ ist ein wunderbares Bild für die traditionelle, dokumentbasierte Nation: Räumliches Zusammenwohnen unter Aufsicht von Autoritäten, Zugangs- und Ausgangsbeschränkungen und autoritäre Festlegungen sowohl der Formen und Regeln sowohl des Zusammenlebens als auch dessen, was zu lehren und zu lernen, zu wissen und zu können ist. Die Nation war (und ist noch) ein Internat, Internationalität die Zusammenarbeit von Internaten. (N.B.: Vielleicht ist es gar kein Zufall, dass die erfolgreichste Romanserie der letzten Jahre gerade in einem Internat spielt, einem letzten zauberhaften Traum dieser nur noch als historische Wohlfühlreminiszenz taugenden Lebensform). Die Leitdifferenzen, die dieses Internat ausmachten, werden nun von der Internetionalität kassiert: Raumgrenzen, Autoritätspositionen, verbindliche Regeln und Wahrheiten finden sich nicht vor-geschrieben in der Netion. Weniger Organisation, ist sie eher Selbstorganisation oder Autopoiesis. Die herrschende Lehrmeinung wird zur geteilten Meinung, die verbindliche Erzählung wird, wie letztens geschrieben, in einem Geflecht von Erzählungen aufgelöst, die zwar noch erzählt werden, für die es aber immer schwieriger wird, sich durchzusetzen. Noch mag zeitversetztes Ansehen der Massenmedien einen Rest solcher Erzählmacht im Internat zeigen. Aber – aller litaneihaft wiederholten Beteuerungen in der ARD/ZDF-Studie zum Trotz – es wird mehr und mehre eine Erzählung unter vielen anderen. In der Studie heisst es auch (hier auf Seite 15):
Wenn es darum geht, ein Massenpublikum zu mobilisieren, reicht kein Medium an das Fernsehen heran.
Das ist natürlich eine wunderbare Verdrehung der Tatsachen – denn Massenmedien mobilisieren natürlich nicht wirklich. Es reicht vielmehr kein anderes Medium an die Fähigkeit der Massenmedien heran, die Massen zu immobilisieren. Man sitzt still im Internat eingesperrt und glotzt fern.
Endliche und unendliche Diskussion
Zu den Kernfähigkeiten der immobilisierenden Internation gehörte es, Diskussionen dramatisch aufzubereiten, auf den binären Entscheidungspunkt zuzuspitzen und dann durch Entscheidung zu beenden. Die Vielfalt des Stimmen- und Erzählungsgewirrs ist nichts Neues. Die Internation führte nur einen Prozess ein, der eben die Grautöne in Schwarz/Weiß überführte und dann Schwarz oder Weiß, Schwarz oder Rot als Kernalternativen herausstellte. Diese Reduktion fand insbesondere über die möglichst öffentliche Debatte (in Parlamenten oder Massenmedien) statt. Erst wird debattiert, dann kann abgestimmt werden. Und damit ist fest-gesetzt was Gesetz wird. Diese Fähigkeit eignet der Netion nicht, in der die Debatten ausufern durch tendenziell unendliche Vermehrung der Debattenteilnehmer, Debattenplattformen und Debattenbeiträge. Das ist das Problem, das sich mit der entstehenden Netion auftut und das nicht einfach weggewischt werden kann. S21 weist darauf hin. Wo die Diskursmacht nicht die Möglichkeit hat, eine Zäsur einzuführen und nicht setzen kann, was Gesetz sein soll, treten immer neue Argumente, Mitredner auf, die die Debatte in Ewigkeit führen können. Wie schwankend zudem die Mehrheiten in solchen Debatten sein können, zeigt der gerade vollzogene Atomausstieg. Volksentscheide können solche Probleme nur oberflächlich lösen oder kaschieren, wäre doch nach dem Volksentscheid immer auch vor dem Volksentscheid, könnte einer den anderen ablösen. Vor allem könnten organisierte Aktivisten und Lobbyverbände, schlagkräftig organisierte Truppen, besser in der Lage sein, Einfluss zu mobilisieren, die erst im Nachhinein wiederum zu massiver Gegenwehr bei der unterlegenen „Minderheit“ führen wird, die gar nicht Minderheit sondern schweigende Mehrheit gewesen sein könnte. Die Behauptung „Ihr habts doch so gewollt“ ruft automatisch das „Ich doch nicht“ der Unterlegenen auf den Plan und erzeugt Gegenbewegung. Die traditionelle Demokratieform löste vor allem das Problem, unterliegende Minderheiten ruhig zu stellen, ihnen den Eindruck zu geben, in einem fairen Wettstreit unterlegen zu sein und deswegen die Niederlage akzeptieren zu müssen. Deswegen gehört – neben den letztens angeführten Wetterprophetien, die Übertragung von Sportwettbewerben als quasi politisch dekontextualisierte Einübung des Akzeptierens von Niederlagen zum innersten Wesen der Live-Massenmedien: Verlieren üben im spielerischen Umfeld bereitet auf das Akzeptieren politischer Niederlagen vor und verspricht, dass es immer ein nächstes Spiel geben wird, bei dem die Chance auf Sieg besteht. Wo Diktaturen massive Probleme haben, Sportveranstaltungen in ihren Fernsehprogrammen zu akzeptieren, in denen die Niederlage möglich ist, nutzen traditionelle Internat-Demokratien gerade die Übertragung der kollektiven Niederlage als politische Sandkastenübung.
Das Problem des Betroffenheitsaktivismus
Die vorhandene Demokratieform organisierte zudem bewusst die Unterscheidung zwischen Entscheidern und Betroffenen vergleichbar der Form, die aus der Rechtsprechung bekannt ist. Persönliche Interesselosigkeit soll durch diese Organisation produziert und voraussetzbar werden, wenn Entscheidungen anstehen. So wenig ein Opfer über Täter zu Gericht sitzen darf, so wenig darf der politische Entscheider Privatinteressen verfolgen. Es gehört zum schwersten Vorwurf an gegenwärtige politische Entscheider, letztlich nur die Eigeninteressen zu bedienen – und selbst wenn es sich nur um ein paar Bonusmeilen oder verbilligte Urlaube handelt, führt das Aufdecken von möglichen entscheidungsbeeinflussenden Privatvergünstigungen zum sofortigen Ende einer politischen Karriere.
Gleichzeitig ist aber das Interesse an einem bestimmten Ausgang von Entscheidungen natürlich bei denen ungleich höher, die selbst betroffen sind. Die eigene Aktivitätsbereitschaft steigt in dem Maße, in dem von einer Entscheidung persönliche Vor- oder Nachteile abhängen. Darauf weist etwa der Umfang der Debatte rund um das Thema Netz, Netzkommunikation und Netzpolitik bei denen hin, die das Netz für sich als wichtigen Lebensteil verstehen – im Vergleich zu friedenspolitischen, umweltpolitischen oder sozialpolitischen Debatten etwa. Wer einen wesentlichen Teil des Alltags im Netz verbringt, ist geneigter, aktiv für bestimmte netzbezogene Entscheidungen zu werben (auch hier in diesem Blog gelegentlich, jetzt gerade zum Beispiel). Das überrascht nicht. Es zeigt aber, dass wenn die Trennung zwischen Entscheidern und selbstmotivierter Partizipation einfach kassiert wird, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass radikale Eigeninteressen tendenziell übermächtigen Einfluss auf Entscheidungen haben.
Die Inszenierung des einfachen Gegensatzes
Zum Wesen der dokumentbasierten Internat-Demokratie gehörte die von Mouffe/Laclau geschilderte Fähigkeit, die als diametrale Pro/Contra Gegensätze aufbereiteten Meinungsgeflechte auf der politischen Bühne durch streitende Parteien aufzufangen und zu kanalisieren (hier im Blog etwas polemisch aufbereutet vor Lektüre des Textes, hier einige weitere Gedanken in Auseinandersetzung mit Maurice Gauchet). Der potenzielle Bürgerkrieg der unterschiedlichen Meinungen oder die potenziell unendliche Vielstimmigkeit der Meinungen findet sich in der Dyade Regierungspartei/Opposition repräsentiert, kanalisiert und pazifiziert durch die Parole: Du magst deine Präferenzen und Wünsche gegenwärtig nicht durchsetzen, weil sie von der Opposition vertreten werden – aber bei der nächsten Wahl besteht die Chance, dass deine Parte an die Macht und damit deine Wünsche zur Realisierung kommen. Dieser institutionalisierte Wunsch-Aufschub ist verbunden mit der Spekulation auf das schlechte Gedächtnis der Wähler, die beim tatsächlichen Machtwechsel schon vergessen haben werden, was sie eigentlich wollten (oder was in Koalitionen nicht durchsetzbar ist, aus Vertragsbindungsgründen nicht änderbar usw.)
Spätdramatische Inszenierungsversuche
Gegenwärtige Bestrebungen, Bürgerforen als eine Art Honeypot aufzubauen, in dem sich die Streithähne dann die Köpfe einreden können, während nebenan bequem weiterregiert wird, sind untauglich, auf diese Problemlage zu reagiere, der die Netion sich stellen muss. In Konsequenz geht es um die Frage der Handlungsfähigkeit, die auch die Netion braucht, wenn sie nicht nur eine riesige Schwatzbude sein/werden/bleiben will. Die spätdramatischen Versuche, die Zahnpaste wieder in die Tube zu drücken zeigten sich im vergangenen Jahr besonders faszinierend rund um S21: Man spielte „Das Fernsehgericht tagt“, stellte hastig zwei Parteien zusammen (wenn auch keine politischen Parteien mehr im Grunde) und versuchte durch Schlichtungsspruch von Richterin Barbara Geißler dem Dilemma zu entkommen – dem dieser sich allerdings listig verweigerte, indem er mit seinem Schlichtungsspruch etwas vorstellte, was in der zweiwertigen Parteienlogik nicht vorkommt. Eine dritte Variante, die damit erstens das schöne Drama zerstört (überraschende Wendungen durch bisher nicht aufgetretene Parteien sind in der orthodoxen Dramaturgie nicht vorgesehen) und aus der Tragödie des unauflöslichen, unversöhnlichen Konfliktes eine Komödie oder Klamotte machte. Man lese nur in der Wikipedia-Definition des Deus ex Machina statt „Gott“ einfach „Heiner Geißler“, um das Ausmaß der Komik genießen zu können:
In der antiken Tragödie gab es tragische Konflikte, die sich nicht immer kraft menschlicher Handlungen ‚lösen‘ ließen. Ihre Behebung oder Entscheidung erfolgte ‚von oben‘ durch das überraschende Eingreifen einer Gottheit, die dem Geschehen die Schlusswende gab. Der Deus ex machina schwebte in einer kranähnlichen Hebemaschine, der sogenannten Theatermaschine, über der Bühne oder landete auf dem Dach des Bühnenhauses. Damit wollte man die Macht der Götter in der antiken Vorstellung darstellen, und in der Tat waren ihre Eingriffe in das Bühnengeschehen oft überraschend. (hier)
Das Problem der wegfallenden Problemlösung
So paradox es zunächst klingt: Ein großteil der aufziehenden Probleme der repräsentativen Demokratie rührt daher, dass diese Organisationsform die Lösung für ein Problem darstellte – und dass es nun, da es dieses Problem nicht mehr gibt, die Lösung zum Problem wird. Das zu lösende Problem war: Wie können in einem Flächenstaat, in dem der Souverän (also das Volk) nicht mehr regelmäßig an den öffentlichen Debatten und Versammlungen teilhaben (es sei denn, es wohnt zufälligerweise in der Hauptstadt) und was noch wichtiger ist: mitentscheiden kann, politische Entscheidungen mit demokratischem Antlitz getroffen werden? Schließlich war die Demokratie eine Erfindung von Stadtstaaten, die das Zusammenwohnen von Entscheidern und Betroffenen einfach voraussetzen konnte – im Flächenstaat wird die Entfernung zum Problem. Die Lösung bestand in der Delegation: Lokale Wahlbezirke wählten ihren Vertreter und gaben ihm hinreichend Geld, damit er im politischen Machtzentrum „vor Ort“ regulär und konstant anwesend und tätig sein konnte. Darin überlagern sich natürlich lokale Auswahlkriterien mit Inhaltlichen – weswegen das deutsche Wahlsystem die Mischung aus (lokalen) Direktmandaten und (überregionalen) Listen kennt. Der Abgeordnete mit Direktmandat hat sich in seinem Wahlbezirk gelegentlich sehen und sprechen zu lassen, um den Eindruck zu vermitteln, er vertrete die Region tatsächlich.
Dieses Abgeordnetensystem löst das Problem der räumlichen Distanzen. Das ganze Land ist durch Delegierte vertreten, die wiederum idealiter die durch sie Repräsentierten in der Hauptstadt „vertreten“. Als Nebeneffekt stellt sich die zahlenmäßige Reduktion der Prozessbeteiligten ein: da einige zehn- oder hunderttausend Bürger durch nur eine Person „vertreten“ werden, wird die Zahl der Beteiligten im politischen Entscheidungsprozess überschaubar. Die Tatsache der räumlichen Distanz, die zunächst das Problem bot, wie die Entfernten im Entscheidungsprozess vertreten sind, was dazu führte das (Aus-)Erwählte als Delegierte in die Hauptstadt geschickt werden, macht es möglich, eine große Zahl von Menschen durch eine relativ kleine Zahl von Delegierten vertreten zu lassen. Und mit dieser kleinen Zahl, deren persönliche oder individuelle Präferenzen zudem noch durch den Fraktionszwang beschnitten werden, lässt sich recht gut ein Entscheidungsprozess basteln.
Nun aber fällt das Ausgangsproblem der räumlichen Differenz weg: Die Netion ist jederzeit überall. Unabhängig von Raum und Uhrzeit kann jeder im Netz jederzeit auf die gesamte politische Information in Echtzeit zugreifen, sie in Echtzeit mit anderen Beteiligten diskutieren – und sogar abstimmen wäre kein Problem. Anders als in älteren Zeiten, da nur der physisch Anwesende im Parlament die physische Hand heben konnte, wäre jetzt der virtuelle Abgeordnete denkbar, der sich über Telepresence-Installationen in den Plenarsaal übertragen bzw. den Saal zu sich übertragen lässt, der seine Redebeiträge über diesen Kanal abgibt, der seine Stimme über diesen Kanal abgibt. Und es ist jetzt nur noch schwerlich vermittelbar, warum das nur ein Delegierter tun darf – und nicht beispielsweise ich. Mit dem Wegfall der Raumdifferenz und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, aus dem entferntesten Winkel des Landes aktiv im Debatten- und Entscheidungsprozess eingebunden zu sein, fällt auch die Überzeugungskraft der Lösung weg. Es ist jetzt möglich, auf Hallig Hooge, auf der Zugspitze oder auf einem Handelsschiff irgendwo auf den Weltmeeren in Echtzeit zugeschaltet zu werden. Die Delegationslösung stellt sich plötzlich in neuem Lichte dar: Als handele es sich um eine elitäre Mischpoke, die sich das Recht der politischen Entscheidung in Hinterzimmerkungeleien gegenseitig zuschiebt und den eigenen Machterhalt sichert – so jedenfalls lesen sich die Diagnosen in Machtwerken über die sogenannte Postdemokratie etwa bei Crouch. Keiner der Delegierten musste in der Vergangenheit Kompetenz zu besonderen Themenstellungen nachweisen. Im Gegenteil: Thematische Kompetenz würde einen Regionalvertreter eher verdächtig gemacht haben, eigentlich eher ein Thema als die lokale Wählerschaft und Landschaft zu vertreten. Inhaltliche Ahnungslosigkeit war damit der Preis, der für das Delegationssystem gezahlt wurde – und an das man sich gewöhnt hat.
Wenn nun aber die Legitimation dieses Entscheidungsverfahrens entfällt, wenn sich räumliche Distanz technologisch überbrücken lässt – dann wäre eigentlich zu fordern, dass die „Experten“ sich zu den strittigen Themen austauschen. Das Stuttgarter Bahnhofstheater spielte das ja als Kompetenzversammlung vor, ähnlich versuchen Ethik‑, Enquete- usw. Kommissionen Fachkompetenz zu versammeln, um Delegierte zu beraten. Die Frage aber lautet: Was legitimiert jetzt noch die Delegierten? Ihre Betrachtung schlägt um, sie erscheinen als kleiner Kreis uninformierter, elitistischer, verbandelter Bremser, die zwar zu allen möglichen Themen in den Massenmedien Stellung nehmen, bei keinem Thema aber wirklich über fundiertes Fachwissen verfügen. Da die Notwendigkeit entfällt, entfernte Bevölkerungsgruppen im Zentrum zu repräsentieren, stehen die Repräsentanten plötzlich selbst als Problem am Pranger.
Die Internetion als Opensourcokratie – statt Mitmachstaat
Nachdem die alte Internat-Demokratie also glänzend das Problem löste, eine große Masse sehr verstreut lebender Menschen durch Delegierte sowohl auf eine entscheidungsfähige Kleingruppe zu verkleinern, als auch im Machtzentrum präsent zu halten, stellt sich nunmehr die Frage: Wie lässt sich die gigantische Masse an potenziell an der Beteiligung an Entscheidungsprozessen Interessierten, wie lässt sich die Masse von Engagierten und Experten in den demokratischen Prozess der Netion integrieren? Wie lassen sich Entscheidungsprozesse organisieren, die nicht einfach nur das alte System lahmlegen, sondern die engagierte Masse in einer Form beteiligen, die dennoch nicht nur aus kurzfristigem, eigeninteressegeleiteten Betroffenheitsaktivismus und finanzmächtigen Lobbygruppen besteht? Solange man den Übergang von der Internation zur Internetion nicht als im Gange begreift, solange man nicht begreift, dass es nicht darum geht, die alten Strukturen nur mit neuen pseudo-partizipativen Gewändern zu bemänteln, solange man nicht begreift, dass sich hier fundamental die Organisationsform demokratischer Beteiligung verschiebt, so lange wird sich nicht einmal ansatzweise eine Lösung andenken lassen. Die Internat-Demokratie löste ein Problem, das es nicht mehr gibt. Das ist das Problem.
Gegenüber der an frühe Parteitage der Gründen gemahnenden Utopie des „Alle können sich basisdemokratisch einbringen“-Mitmachstaats, der sich wie alle seine Vorgänger in Geschäftsordnungsdebatten erschöpft bis der Größte anzunehmende Umfaller die Macht ergreift und Außenminister wird, scheint mir, dass die Orientierung an der Open Source Bewegung mit ihren vorhandenen, aber transparenten, diskursfähigen und legitimitätsbedürftigen Regularien fruchtbar sein kann. Sie zeigt einige bedenkenswerte Möglichkeiten – die für den einen oder anderen Utopisten allerdings vermutlich enttäuschend sein werden. Denn natürlich gibt es hier keinen machtfreien Diskurs. Open Source heißt nicht: Jedermann kann ein bisserl rumprogrammieren und seinen Kot in das Gesamtkonstrukt kopieren. Sehr spannend im Sinne einer differenzierten Betrachtung der Open Source und Crowdsourcing Prozesse finde ich Arbeiten von Andreas Schmidt, etwa Justice by Slavery? The meanings of crowdsourcing und seine nüchterne Gegenüberstellung von „Alle machen mit“-Crowdsourcingutopien und den problemlösenden „Virtuosen“.
Zwischenbemerkung: Mein Wissen über Entscheidungsprozesse in Open Source Projekten ist extrem gering – ich betrachte diese Ausführungen deswegen lediglich als Startpunkt für eine Auseinandersetzung, nicht als Ergebnispräsentation. Sachdienliche Kommentarhinweise sind höchst willkommen!
Open Source setzt auf transparente Peer Review. Jeder mag auf die quelloffene Software zugreifen, mit ihr arbeiten können. Seine Arbeit muss deswegen aber noch lange nicht in der Software wirklich enden. Die Peers entscheiden, was aufgenommen, umgesetzt´, realisiert wird. Open Source ist, wenn ich es recht verstehe, keine „Jeder ist gleichviel wert und hat gleichgroßen Einfluss“ Bewegung. Es ist eine transparente, legitimitätsbedürftige, Kompetenz- und Reputationsrelative Selbstorganisation. Das setzt sie insbesondere dem dokumentarischen Software-Development-Process entgegen, in dem letztlich wie im Internat gearbeitet wird.
Es ist und bleibt ja ein Irrtum, dass im „Mitmachweb“ plötzlich alle kreativ, produktiv und partizipativ aktiv werden. Der „Prosumer“ ist kein feststehender Typus, sondern das Tertium, das über der Dyade Produzent-Konsument steht, aber innerhalb der damit beschriebenen Userschaft natürlich massive Differenzen zulässt: Für die Meisten ist der „produktive“ Anteil im Netz noch immer das Schreiben von Emails und gelegentliche Chatten, Facebooken usw. Das Verschwinden der Trennung zwischen Information, die „Lean Back“ (so differenzier die ARD/ZDF Studie ganz hübsch) rezipiert im Gegensatz zum „Lean Forward“ der Partizipation, Kreation, Kommunikation ist bei den meisten Onliner noch nicht angekommen oder vielleicht auch nicht erwünscht – stellen sie doch zudem fest, dass diese Kommunikation dazu tendiert, nicht einfach etwas über etwas zu sagen, sondern damit wiederum im Raum des Politischen aktiv zu werden. Diese Gruppe umfasst der Prosumer allerdings ebenso, wie die Blogaktivisten, Power-Tweeter oder Google-Surplusser, denen es gelingen mag, aus der Filter Bubble der Netzaktiven herauszuragen und jenseits der Scene wahrnehmbar zu werden (etwa in Enquete Kommissionen – was macht eigentlich http://digitalegesellschaft.de/?). Anders als die Dyade Regierende/Regierte, die in die Logik der Internation gehört, ist Produzent-Konsument keine kategoriale Unterscheidung, sondern eine graduelle Differenzierung, die alle Beteiligten im Konzept des Prosumenten versammelt – mit unterschiedlichen Graden der Aktivität. In der Internation konnte es Nicht-Regierende geben. In der Netion kann es keine Nicht-Prosumenten geben. Zugegebenermaßen ist das alles ziemlich vage. Die Konzepte der Netion, der Opensourcokratie, des demokratischen Prosumers bedürfen der Ausarbeitung bevor sich eine Netionalversammlung in der Paulskirche einfindet.
Die Piraten! Die Piraten?
Ich stehe der Piratenpartei maximal skeptisch gegenüber: zunächst laufen si Gefahr den Fehler zu reproduzieren, der die Gründung der Grünen darstellte. Als diese Partei in den 80ern entstand sorgte sie dafür, dass breite Bürgerbewegungen mit unterschiedlichen Forderungen, insbesondere Anti-AKW, Umweltschutz, Friedensbewegungen in diese Organisation mündeten – und die Artikulation der Anliegen in der seinerzeit massenmedial notwendigen Form der öffentlichen Demonstration ziemlich schlagartig endete. Der inhaltliche Aktivismus wurde zu einer Geschäftsordnungs- und Hierarchiebildungsstreiterei, die in ihrer Sinnlosigkeit historische Ausmaße hat. Interne Richtungsstreitereien lähmten die inhaltliche Arbeit und verhinderten, dass der Druck auf die bestehende Regierung aufrecht erhalten wurde. Die Gründung der Grünen war der Tod für Bürgerinitiativen. Vielleicht findet sich irgendwann einmal ein politikwissenschaftlicher Doktorand, der nachzeichnet, wie sehr diese Umleitung der Forderungen von Bürgerinitiativen in innerparteiliche Selbstzerfleischungsenergien das Erreichen der Ziele tatsächlich behindert hat, wie viele Jahre verloren gingen. Dasselbe Schicksal droht einer netzpolitischen Bewegung, die Partei sein will, anstatt außerhalb des Parteiengeflechts Druck auf Parteien auszuüben.
So ehrenwert auch die Liquid Democracy Ansätze sind – sie sind m.E. nicht geeignet, die Herausforderungen einer Netion zu adressieren. Wenn das Net sich durch etwas bestimmen lässt, dann durch seine Dezentralität. Eine Liquid Democracy Plattform als neues, lediglich elektronisches oder virtuelles Internat im Internet zu errichten, folgt der alten Logik. Vielleicht ist es ein zwischenzeitlicher Lösungsansatz – aber nicht wirklich Lösung. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die zahllosen vorhandenen Kommunikationsformen und Plattformen in ihrer Dezentralität zu belassen und zu stärken – und dennoch die Beteiligung in demokratischen Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. Die tatsächliche Lösung allerdings ist keine technische Lösung. Technik könnte eventuell Entscheidungsfindungsprozesse unterstützen und abbilden – die Prozesse aber sind unabhängig von der Technologie zu diskutieren. „Ne neue Webseite“ wäre kein Ansatz.
P.S. Wer sich trotz größeren Interesses am Theater als an politischen Formaldebatten bis hier durchgelesen hat, mag den Gedanken erwägen, wie ein Netionaltheater sich an die Stelle der Nationaltheater-Internate setzen und wie es aussehen könnte.
zuerst ein kompliment. in meinen augen ein wirklich guter artikel, dankeschön.
und dann noch einen einwand.
zu den piraten und lqfb. ist eine dezentrale entscheidung nicht ein paradoxon? wer auch immer entscheidet, wieviele auch immer dies tun und wo auch immer eine entscheidung getroffen wird. eine entscheidung ist ein einmaliges ereignis, und kann deswegen nur zentral sein. in dem sinne halte ich lqfb für eine sehr lobenswerte entwicklung, die der netisierung schon im grossen masse berücksichtigt. die piraten müssten sich meiner meinung nach eben nicht unbedingt inhaltlich von den anderen parteien unterscheiden, sondern vorallem strukturell.
unterscheidest du zwischen netion und internetion? wenn netion das pendant zur nation ist, bezweifle ich deren existenz. das netz kennt keine nationen.
mehr vielleicht bei wiederholter lektüre.
Untergründiges Zentrum deiner Ausführungen, auf das sich die Beweisführung fokussiert, ist wohl: Dezentralität bejahen (belassen und stärken).
“Wenn das Net sich durch etwas bestimmen lässt, dann durch seine Dezentralität.”
“Ist aber die Begierde nach dem Zentrum, als Funktion des Spiels, nicht das Unzerstörbare?” (Derrida, Ellipse, in: Die Schrift und die Differenz)
Scheinbar! :)
Danke für die Kommentare. Ich versuch mal Antworten:
@adrian
Touché. Wenn es einen Unterschied zwischen Netion und Internetion geben kann, wird er sicher anders sein als der zwischen Internat und Internation. Man müsste sich mit Versuchen beschäftigen, solche Grenzen zu ziehen, die es ja gibt. Nicht nur in China, sondern etwa mit den regional/sprachlichen Aussteuerungen von Webseiten wie YouTube und Facebook, die allerdings mit ihrer Künstlichkeit und den einfachen Umgehungsmechanismen zugleich zeigen, dass es eben keine Internatsmauern mehr sind, die hier undurchlässig hochgezogen werden. Ich habe keine abschließende Meinung dazu, vielleicht ermöglicht das Begriffspaar Netion und Internetion aber, bestimmte Phänomene auf der Grundlage dieser Differenz zu beobachten und genauer zu qualifizieren.
@alwin
Unmittelbare Replik: Ich wäre vorsichtig damit, (schlechte) Angewohnheiten zu unveränderlichen bzw. unzerstörbaren Konstanten zu machen. Deswegen auf Derridas Frage die Antwort: Nein. Sie scheint nur unzerstörbar, ist aber kulturelles Konstrukt, das sich eine Zeitlang sicher bestens bewährt hat, jetzt aber in der Bewährungsprobe in den Verdacht gerät, überwunden werden zu müssen. Monotheismus, Zentralperspektive, Monarchie waren kulturelle Erscheinungsformen der Begierde nach dem Zentrum — das heißt nicht, dass die Begierde nichts anderes als seinen Gegenstand wählen kann, als ausgerechnet das Zentrum. Bzw. dass vielleicht alle nach dem Zentrum streben — aber nicht alle nach demselben Zentrum. Antwort bleibt insofern ein Stück offen. Aber:
@Alwin+adrian
Vermutlich macht es Sinn das Begriffspaar Zentrum-Dezentralisierung ähnlich aus dem Schwarz-Weiß zu lösen wie das Produzenten-Konsumenten, Regierung-Regierten-Gespann. Der Gedanke, dass Schwarz und Weiß keine Gegensätze sondern lediglich zwei scheinbar prominente Punkte auf einer Grauwertskala sind, führt m.E. da weiter. Das haben auch herkömmliche Zentralregierungen lange schon erkannt und ihre eigenen lokalen Unterzentren, ihre Stadthalterschaften, Gemeinden, Landkreise, Bundesländer usw. erschaffen, die als “Unterzentren” fungieren und damit ebenfalls auf das Raumproblem reagieren: Manche Fragestellungen lassen sich aus der Hauptstadt nicht lösen, da sie zu fern ist. Und die De-Zentralität des Netzes heißt ja nun nicht Zentrenlosigkeit: Es handelt sich lediglich um erheblich mehr Zentren, mehr Plattformen, mehr Foren usw. Und es handelt sich um eine Mehrzahl, teilweise hierarchisch kaskadierter Entscheidungen (auch heute schon) innerhalb eines Entscheidungsprozesse. Heißt: Es wird auch in Zeiten des Netzes eine Art Zentralinstanz geben (darauf deutet Andreas Schmidt im Verlinkten Artikel zum Thema Crowdsourcing/Virtuosen ja hin), es wird zugleich in zahllosen Unterzentren Debatten und ggf. “lokale” Entscheidungen geben, die teilweise auf die zentrale Entscheidung Einfluss nehmen, teilweise nur “lokalen” (aber nicht im räumlichen, sondern eher im thematischen Sinne) Entscheidungen sind. Die größte Herausforderung für die gegenwärtige Organisation von Politik und politischer Entscheidung oder politischer Machtausübung ist m.E. der Umgang mit diesen Grauwerten, zumal die Zentralregierung nie vorhersagen noch bestimmen kann (wie es der Wunsch nach Volksentscheiden ja zu implementieren versucht), wann welche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in Gang gesetzt werden.
“Vermutlich macht es Sinn das Begriffspaar Zentrum-Dezentralisierung ähnlich aus dem Schwarz-Weiß zu lösen wie das Produzenten-Konsumenten, Regierung-Regierten-Gespann.”
Ja, so sehe ich das auch. Würde mich deshalb meinerseits von vereinseitigenden und essentialisierenden Pauschalaussagen wie “Das Internet ist dezentral” (denen ja immer auch eine gehörige Portion wishful thinking eignet: wer könnte auch heute ausschliessen, dass jene heiterere Mannigfaltigkeit von oberstem Regie-Posten her angeleiert und meisterhaft inszeniert wird?) eher fernhalten. Ist´s nicht vielmehr ein Kräftespiel aus zentralisierenden Strebungen (der bündelnden Ausrichtung und Zusammenfassung) und gegenstrebigen disseminatorischen Tendenzen? EIN Zentrum ist ohnehin KEIN Zentrum: als Zentrum ist´s immer schon in sich gespalten und gedoppelt, deswegen der Verweis auf die Ellipse mit den zwei Brennpunkten. Vielleicht ist es das, was du als Grauwert bezeichnest.