April 24th, 2012 § Kommentare deaktiviert für Bühnenverein mit Ideenwettbewerb auf der #rp12 § permalink
Mindestens so erstaunlich wie die Tatsache, dass der Deutsche Bühnenverein nicht nur Partner der re:publica 2012 ist, sondern dort sogar einen zusammen mit jovoto umgesetzten Ideenwettbewerb für das Theater der Zukunft unter dem Motto “TheaterInteraction” veranstaltet und präsentiert, ist die Tatsache, dass ich das bisher völlig übersehen habe. Woran das auch immer liegen mag. Wenn ich recht zähle, sind immerhin schon 42 Vorschläge eingereicht. Was ja nicht nichts ist. Ich hoffe es zu schaffen, mir die Prämierungssession am 02.05. um 18:45 anzuschauen.
Außerdem kündigt Tina Lorenz einen Vortrag für den 03.05. dort an mit dem » Read the rest of this entry «
April 9th, 2012 § Kommentare deaktiviert für Postdramatiker-Interview im aktuellen Magazin des Deutschen Theaters Berlin § permalink
Im Anschluss an die Blackfacing-Debatte und meinen Artikel “Das Politische im Ästhetischen” auf nachtkritik bzw. hier im Blog, hat mich Sonja Anders, Chefdramaturgin am Deutschen Theater Berlin, per Email-Interview noch einmal zu der Debatte selbst und zur Veränderung des Theaters durch das Netz, den Übergang von der Massenmediengesellschaft zur Netzgesellschaft befragt. Hier gibts das Interview als PDF-Download
März 16th, 2012 § § permalink
So, jetzt hab ichs gelesen: „Der Kulturinfarkt“ von Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knösel und Stephan Opitz. Schnurriges Büchlein. Vier Verwaltungsfuzzis treffen sich in der Kneipe Wirtschaft und kotzen sich einfach mal richtig aus. Der Eine zieht über Verwaltung und Förderung vom Leder. Der Andere entdeckt seine Liebe zur marktliberalen Ökonomie (und langweilt alle damit). Der Nächste lässt seine unglückliche Vergangenheit an Adorno aus. Und der Vierte versucht, sein gesellschaftliches Anliegen irgendwie reformuliert zu retten. Das Ganze zerfällt nicht nur stilistisch. Auch inhaltlich sind sich die apokalyptischen Schreiber offenbar ziemlich uneins. Man ist sosehr überzeugt von der eigenen Meinung, dass man nicht mehr merkt, dass man gar nicht einer Meinung ist. Warum sie das in ein Buch und einen gemeinsamen Text zwingen mussten – schleierhaft. Die skandalisierte Etathalbierung ist eigentlich eher vernachlässigbar. Ansonsten lustige Ausfälle gegen ein Gebilde, dass sie „die Kultur“ nennen, die es aber leider nicht gibt. Es sei denn, man einige sich darauf, Kultur sei alles, was in öffentlichen Hauhaltsdokumenten unter der Position „Kunst und Kultur“ zu finden ist. Zitat: „Dabei kritisieren wir weder Personen noch Projekte noch Institutionen als Einzelne; wir benutzen sie höchstens zur Illustration.“ (173) Solche Generalisierungen und unverbindliche Allgemeinheiten haben zwar den Vorteil, immer irgendwas oder irgendwen zu treffen, aber leider nie das Ganze, das sie zu beschreiben behaupten. Mangels konkreter Objekte läuft der Rant ins Leere. Das tut er gelegentlich kurzweilig und nicht uninspirierend. Gelegentlich hohl, dümmlich oder gezwungen. Und kann – um beim feuilletonistisch aufgegriffenen » Read the rest of this entry «
März 12th, 2012 § Kommentare deaktiviert für (As)soziologisches Theater: Die Arbeitslosen von Marienthal und die Verlierer von Wittenberge § permalink
Vor etwa 80 Jahren brachen Soziologen in den österreichischen Ort Marienthal nahe Wien auf, um eine sozialpsychologische Studie über ein im Ganzen arbeitsloses Dorf zu verfassen. Es entstand eines der wichtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts, die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Buch, Wikipedia, Materialien). Anders als der Name des Ortes, bleiben die Bewohner im Buch anonym. Keine Namen, keine Charakterisierungen, die Fremden die Identifizierung Einzelner ermöglichten.
Vor einigen Jahren brach nun erneut eine Gruppe von Soziologen, begleitet von Theaterleuten, auf, um diese Studie nachzuspielen, zu wiederholen, zu erneuern. Unter Leitung von Heinz Bude besuchten sie Wittenberge in Brandenburg, um eine Studie über eine Verliererstadt anzustellen, in der Ausgangslage fast ähnlich zu Marienthal. Im direkten Vergleich der daraus entstandenen Bücher ist das Wittenberge-Buch „ÜberLeben im Umbruch“ (hier die Projektwebseite) zunächst eine herbe Enttäuschung. Die beobachteten Bewohner wollten nicht so recht mitspielen.
In Marienthal konnten die Forscher noch verschleiern, was ihre wahre Absicht war. Mit Mitteln nachrichtendienstlicher Agententätigkeit konnten sie sich einschleusen, das Vertrauen der Bewohner gewinnen und Einsichten über das beobachtete Leben generieren, bei dem die Beobachteten sich nicht beobachtet wähnten – und sich deswegen nicht für die Beobachtung inszenieren:
Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben einzufügen hatte. (28)
Vielfältige Tricks kamen zur Anwendung, die die unverstellte Meinung oder die wahre Situation der Menschen zum Vorschein bringen sollte: Institutionen und Initiativen wurden geschaffen. Selbst die eingerichteten ärztlichen Behandlungen dienten zur Erhebung von Material. Man gewinnt „unauffällige Einblicke“, „Vertrauen“, „Kontrolle“, verschafft sich Aufzeichnungen durch Schnittzeichenkurse, lockt Mädchen durch einen Turnkurs an und horcht Eltern in der Erziehungsberatung aus. Im Verlauf des Textes finden sich gelegentlich Erklärungen, welcher kreativer Methoden man sich bediente, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und verdeckt Informationen zu sammeln. Ein Beispiel:
Die Erhebungsarbeit in Marienthal begann damit, daß wir hundert Familien einen Hausbesuch abstatteten, um sie nach ihren besonderen Wünschen bei einer von uns geplanten Kleideraktion zu fragen. Diese Besuche wurden dazu benutzt, durch Beobachtungen und Gespräche Material über die Grundhaltung dieser Familien zu sammeln. Als dann die Kleider bei uns abgeholt wurden, fragten wir die Betreffenden nach ihren Lebensgeschichten, die gewöhnlich breitwillig erzählt wurden. Dieselben » Read the rest of this entry «
Februar 22nd, 2012 § § permalink
Gestern erschien auf nachtkritik.de (hier) ein Artikel von mir zu der in theateraffinen und antirassistischen Krisen im Netz heftig geführten Debatte zum Thema “Blackfacing”, der Praxis also, weiße Darsteller durch Gesichtsbemalung “Schwarze” darstellen zu lassen. Die Erbittertheit dieser in zahllosen Kommentaren und Beiträgen ausgetragenen Diskussion wartet mit der einigermaßen überraschenden Situation auf, dass beide Seiten sich in der Ablehnung des Rassismus zutiefst einig sind, auf der einen Seite aber rassistische Praktiken von Antirassisten angeprangert und nachvollziehbar begründet werden, andererseits sich Theaterleute mit Verweis auf “harmlose” Theatertraditionen verteidigen, für die ebensogute Argumnte ins Feld zu führen sind. In dem Artikel unternehme ich — mit einer Volte über die Luhmann’sche Figur des “Unterschieds, der einen Unterschied macht” — den Versuch, die gemeinsame Quelle von Rassismus und einer rollenzentrierten Theatertradition freizulegen, mit dem Ziel zu einer gründlicheren Reflexion der Fragestellung und möglichen Konsequenzen für Theaterpraxis zu kommen.
Da der Artikel umfangreich ist und sich vermutlich hier im Blog schlecht lesen lässt, gibt es ihn hier als PDF-Download.
Um die Debatte un das ewige Krisen in sich ähnelnden Kommentaren nicht über zusätzliche Plattformen zu zerstreuen, deaktiviere ich in diesem Posting ausnahmsweise die Kommentarfunktion und lade zu Kommentar und Diskussion auf nachtkritik.de ein.
Nachtrag: Inzwischen ist ein interessanter weiterer Text von Jürgen Bauer zu der Diskussion auf nachtkritik.de (hier) erschienen, der sich mit den Erscheinungsformen von Blackfacing differenziert auseinander setzt.
Wer hier lesen möchte, kann das im Folgenden tun: » Read the rest of this entry «
August 10th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Feuer in London, Finanzkrise, Erzählmacht und ctrl-Gewinn § permalink
Im Diskussionsthread meines Gastbeitrags auf nachtkritik (hier) fragte ein Kommentator, ob jene im Artikel geforderte Konzentration des Theaters auf das umgebende Gesellschaftliche in der Netzgesellschaft eine Politisierung beinhalte. Ich hatte mit einem Link auf meinen zwei Jahre alten Text Das Politische zurück ins Theater (hier downloadbar) darauf geantwortet. Dort hatte ich am Beispiel der Geschichtenerstellung rund um den Amoklauf von Winnenden zu zeigen versucht, wie sehr sich das Politische gerade in der Genese eines verbindlichen Dramas zeigt und zugleich verbirgt – in der Dramaturgie. Angesichts von Ereignissen, die das geübte Erzählen der Medien herausfordern und zu unterbrechen scheinen, laufen die Print‑, Radio- und Massenmedien geradezu hysterisch zu einer Hochform auf, die sich darin zeigt, dass unterschiedliche Erzählungsansätze ausprobiert werden. Und gerade der genaue Blick auf diese Erzählungen und ihre Entstehung, ihre Dramaturgie und ihre Implikationen sind es, die ein Theater zu fokussieren hat, das das Politische aufnehmen will.
Wie wird „London“ beobachtet
Es ist bedauerlich, dass gerade jetzt Klaus Kusanowsky in eine Blogpause abgetaucht ist, wäre doch aus seinem scharfen Blick auf das Beobachten vermutlich einiges an provokanten Einsichten über die Form der Beobachtung dessen, was in London sich gerade vollzieht, zu erwarten. Wie beobachten Medien die Ereignisse in London, Manchester und Birmingham? Wie beschreiben sie ihre Beobachtung, welches Drama bauen sie daraus und versuchen, es als gültige Beobachtung zu etablieren? Wird die Geschichte von Unterprivilegierten erzählt, deren ungerichtete Wut sich nunmehr „blind“ in einem Aufstand entlädt – den Aufständen in Los Angeles 1992 oder der Pariser Banlieue vergleichbar? Handelt es sich um eine englische Form der Sozialproteste, wie sie auch in Spanien zu beobachten sind? Artikuliert sich hier also soziale Ungleichheit in flammenden Fanalen? Oder handelt es sich um „Banden“, die die gegenwärtige Unübersichtlichkeit, die Unfähigkeit der sommerlich schläfrigen Ordnungsautoritäten ausnutzen, um maifertags- und hooliganhafte Randale und Krawalle anzuzetteln? Die göttliche Ina Bergmann, vormalige Würstchenbudenbesitzerin in London und einzigartige Nachtjournal-Moderatorin des ZDF, die verlängertes Wachbleiben durch unvergleichlichen Moderationsstil und Kugelschreiberartistik belohnt, brachte Montagabend sowohl die Referenz auf L.A. und Paris wie auch die Beschreibung des Geschehens als Bandenkrawall. Noch ist die Erzählung nicht ganz fertig. Noch herrscht Unsicherheit über die Einordnung. Noch ist der Raum des Politischen offen und nicht gänzlich definiert.
Spiegel Online etwa schwankt in der Bewertung der Ereignisse ähnlich wie die „Märkte“, die sich gerade am DAX austobten:
Am 07.08. schrieb man: „Aufgebrachte Bewohner setzten in der Nacht zum Sonntag mindestens zwei Polizeiwagen, einen Doppeldeckerbus sowie ein Gebäude in Brand.“ (hier)
Am 08.08.: Beobachter erklärten, die Polizei hätte große Probleme gehabt, die Randalierer unter Kontrolle zu bekommen. (hier)
Am 09.08.: Plündernde und brandschatzende Banden, die in der Nacht zum Sonntag im Nordlondoner Stadtteil Tottenham die Randale begonnen hatten, waren schon in der Nacht zum Montag in weitere Stadtteile weitergezogen. (hier)
Auch am 09.08.: Warum explodiert die Gewalt in England? Das Gefälle zwischen Arm und Reich wird immer größer, ethnische Minderheiten fühlen sich gezielt schikaniert. Eine ganze Generation sieht sich abgehängt — und ist geeint im Hass auf Eliten und Polizei. (hier)
Beim Blogger christiansoeder findet der Zusammenprall der Erzählungen ein einem einzigen Tweet Platz:
Es ist nicht einfach ein Wechsel des Beschreibungsvokabluars – sondern jede dieser Beschreibungen instituiert tendenziell ein Drama, dessen nächste Schritte bereits mehr oder minder unausgesprochen mitschwingen. Die dramatischen Formen sind zu sehr etabliert, um das zu übersehen. Mit „aufgebrachten Bewohnern“ ist anders zu verfahren, als mit „plündernden Banden“. Dabei geht es gar nicht darum, wer oder was die Beteiligten „wirklich“ oder „in Wahrheit“ sind. Das lässt sich von hier aus sowieso nicht beurteilen (das macht die Macht der Tele-Medien aus). Zudem lässt sich scheinbar auch kein „Anführer“ befragen, der erklären könnte, welchen Kollektivmotiven die Aktivitäten folgen. Es lässt sich aber sehr wohl erkennen, welche politischen Dimensionen dahinter stecken: Das Drama der „aufgebrachten Bewohner“ zöge nach sich eine Diagnose des » Read the rest of this entry «
August 4th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Bild(ende Kunst) in der Netzgesellschaft — Von der Documenta zur unDocumenta § permalink
Um den sich wandelnden Umgang der (ehemaligen) Rezipienten mit Kunstwerken, die Verschiebung vom Kunst-Konsumenten hin zum Prosuementen lebensweltlich zu exemplifizieren, hatte ich meinem kurzen Kommentarwechsel mit Dirk Baecker noch Folgendes hinzugefügt:
Vielleicht als anekdotische Ergänzung dazu eine Beobachtung bei der letzten Documenta: Waren zuvor Besucher aufgefordert, sich kontemplativ oder mit anderen Besuchern diskursiv zu den Werken zu verhalten, so ließ sich bei der letzten Documenta (sic!) beobachten, dass die Besucher keinesfalls mehr passiv vor den Werken verharrten, sondern mithilfe von Handy und Digitalkameras Bilder von Bildern und Objekten machten, die sie in der Folge vielleicht nicht zu individualisierten Documentas im Netz machten, aber doch zu ihren je eigenen Ausstellungen und Kunstsammlungen. Als handele es sich um musikalische und filmische „Raubkopien“ werden die Besucher zu „Urhebern“ von Kunst-Mesh-Ups, die sich hinterher auf flickr, bei der nächsten Documenta vermutlich auf Facebook, G+ und wo auch immer finden, geshared, kommentiert und geliked werden. Das Publikum tritt damit (zum großen Unbehagen eines Anhängers der alten Kulturtechnik der Betrachtung von Kunstwerken) damit in einen Zwischenraum ein zwischen Kunstwerkproduzenten und Kunstwerkrezipienten. Sind diese Fotos Kunst? Dokumentieren sie Kunst? Dokumentieren sie die Anwesenheit des Rezipienten auf der Documenta? Wird das Netz zu einer Documenta 2.0? Mir gelingt darauf noch keine sichere Antwort.
Kulturindustrie unter (Nach-)druck
Dieses Fotografen-Szenario nun ging mir nicht mehr aus dem Kopf, weil sich hier m.E. Spannendes beobachten lässt. Musik‑, Film und Druckindustrie sind bereits seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an den Umgang mit Kopien gewohnt. Seit Tonband, Musicassette, iPod, seit VHS und Fotokopierer ist das Problem der technischen Kopierbarkeit des Kunstwerks virulent. Wirtschaftliche Einbußen und der Versuch sie zumindest teilweise durch GEMA, VG Wort usw. zu kompensieren inklusive.
Ton ohne knappe und verkaufbare Tonträger
Mit der konsequenten Digitalisierung und Vernetzung sind diese „Kreativindustrien“ einerseits in weitere Schwierigkeiten geraten, weil die sich abzeichnende Ablösung der Inhalte von ihrer Bindung an physische Trägermedien (Buch, DVD, Tonträger) und die damit einhergehende undendliche Vervielfältigung, die gar keine Vervielfältigung ist, weil jeder mit jedem die „Originaldatei“ tauscht und sie dabei zugleich behält. Wer einem anderen ein Buch lieh, hatte das Buch nicht mehr. Wer einem anderen eine Filmdatei gibt, behält sie selbst. Das hebelt das Gesetz der ökonomischen Knappheit aus.
Die Vergötterung des Originals
Zum Leitsymbol ökonomischer Knappheit allerdings wurde durch den Kunstmarkt des 20. Jahrhunderts das Werk der bildenden Kunst. Simples Kopieren oder Vervielfältigen war ausgeschlossen. Die wenigen Einzelfälle von „Fälschungen“ sind Legende. Nun tut sich aber in diesem Sektor Entscheidendes, das vermutlich weit über die bloßen Vervielfältigungsphänomene der anderen Künste » Read the rest of this entry «
August 2nd, 2011 § Kommentare deaktiviert für Einladung zur Diskussion auf Nachtkritik § permalink
nachtkritik.de hat heute morgen hier einen längeren Text von mir zur Debatte um das Stadttheater veröffentlicht, den unter anderem Dirk Baecker hier kommentiert hat. Darauf wiederum einige Anmerkungen von mir zurück. Ich verweise hier nur auf nachtkritik und lade zur dortigen Diskussion ein.
Juli 12th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Zum Begriff der Inszenierung und ihrer Kritik: Unsortiertes zur Funktion der Kritik § permalink
Als Institution kam der Theaterkritik im Zeitalter des Drama-Theaters die Funktion einerseits des Wächters über den Wanderungsprozess wie auch die kontrollierende Rückübersetzung des Wanderungsprozesses aus dem geschrieben Text auf die Szene zu. Die Kritik entschied, ob der vom vorab lesenden Kritiker entborgene Eigensinn des Stücks sich auch nach der Sinnwanderung auf die Szene noch wiederfindet und ob die sinnliche Oberflächengestalt ihre Aufgabe erfüllt hat, einen fesselnden Abend zu bieten. Beides stellt die Kritik in der geschrieben Kritik aus und dar, gibt ein Kondensat des Sinns des Abends, sowie eine Reihe von Hinweisen auf die mehr oder minder fesselnde Ausgestaltung des Abends wieder.
Zwischen De- und Rekonstruktion
Natürlich gibt es diesen Prozess in dieser stalinistischen Simplizitaet spätestens seit dem Zeitpunkkt nicht mehr, da auch Regisseure sich selbst als schöpferische Künstler und nicht mehr nur als Fremdsinntransportarbeiter verstanden. Je mehr sich die Überzeugung durchsetzte, dass der Eigensinn alles andere als ein-deutig ist, dass anstelle eines ewigen Sinns zeit_, orts- uns persönliche Konstitutionen und Erfahrungen des Lesers von wesentlichem Einfluss darauf waren, was als Sinn eines Textes zu gelten hat, desto heikler und offener war die Sinngebung des szenischen Geschehens im Rückbezug auf die Vielsinnigkeit des Stücks. Die Inszenierung begann unauflöslich zu schwanken zwischen Rekonstruktionsversuchen des textlichen Eigensinns im neuen szenischen Körper (als Werktreue), der Neuinterpretation eines vermeintlich fest liegenden Sinnes und der direkten Dekonstruktion eines durch Gewohnheit als fest und gegeben angenommenen Eigensinnes. Zugleich wuchs damit der Kritik die Funktion zu, die Beziehung zwischen textlichem und szenischem Eigensinn zu bemerken, zu bedenken, zu beschreiben und zu beurteilen. Statt nurmehr zu urteilen, ob der textliche Eigensinn auf der Bühne buchstabentreu wiederverkörpert wurde, hatte die Kritik nun neue Lesarten, Sinndimensionen, Interpretationen zu dokumentieren und mit Blick auf den Text einzuordnen.
Die Aufgabe des Begriffs der Inszenierung stellt auch die Kritik vor eine neue Aufgabe – es sei denn, sie begnügt sich mit der bloßen „Like“-Funktion, d.h. als primus inter pares erster Produktbewerter auf einer amazonartigen Theaterplattform zu sein und den orientierungslosen Großstadtbewohnern Hilfestellung bei der möglichst effizienten und genussoptimierten Abendgestaltung zu geben. Die Beantwortung der Frage: Soll ich oder nicht heute ins Theater gehen? Soll ich oder nicht diese „Inszenierung“ anschauen kann allerdings nicht die letzte Schrumpfform der Kritik sein und bleiben. Das bloße Geschmacksrichtertum würde durch das Angebot einer Besucherbewertung letztlich ausgehebelt und überflüssig gemacht – wie der Expertentest in einem Automagazin durch motor-talk.de, wo über 1 Million Mitglieder ungefilterte, erfahrungsbasierte Meinungen zu allen möglichen Autos abgeben. Als Stiftung Theatertest wird Kritik ebenso wenig eine Zukunft haben, wie als bloße Werbemaßnahme für Theater.
Kritik nach der Inszenierung
Wenn sich die hierarchische Unterordnung der Bühne unter den Eigensinn des Textes verschiebt zu einer eigensinnigen, vielleicht nicht einmal mehr auf einer begrenzten Bühne, mit einem nicht einmal mehr festgesetzten Publikum, zu einer Form für die der Name noch fehlt, in der Text mehr wird als das Material im postdramatischen Theater (d.h. sich das Theaterschreiben auch nicht mehr ängstlich zurückzieht auf ein „Ich liefere nur Material“ Positiönchen, das letztlich aus dem einen Extrem der Beherrschung der Szenerie durch Schrift in das andere, das Mauseloch-Extrem des „Ich schlag ja nur Wörter vor“), ohne in „Das Drama“ zurückzufallen, dass nach „Inszenierung“ ruft, wenn sich Unterordnung also in Beiordnung verändert – dann kann auch Kritik nach der Ablösung des gesetzesartigen Primats der Schrift nicht anders, als den Richterthron zu verlassen und sich selbst beizuordnen. Wenn der Text als Stück in seiner Faktur zu einer maximalen Fertigkeit vorangetrieben, sich doch dabei der eigenen Stückhaftigkeit und Beta-Version bewusst bleibend, auf der Szenerie befindet, die sich ebenso – trotz aller Verfertigung – der Nichtfertigheit bewusst bleibt, die immer schon darin bestand, das Theater (wie die Skulptur des Marmorblocks) erst im Betrachter zum Theater wurde, dann kann die Kritik, ohne sich selbst ein abschließendes Urteil anmaßen zu wollen, nicht anders als selbst zum Teil dessen zu werden, was geschehen ist. Nicht etwa im Sinne der Forderung nach einer „konstruktiven Kritik“, die schon immer Blödsinn war. Sondern im Sinne einer „eingreifenden Kritik“. Von der Kritik ist zu fordern, dass sie das Theater fordert. Herausfordert.
Von der Kritik der Inszenierung zur Theaterkritik
Wenn die Kritik weder beschreiben muss, was zu erleben war, noch den Sinn wiedergeben oder beurteilen, ob der Sinn den Sinn getroffen hat, noch auch sich in der Like-Funktion erschöpfen will, kann Kritik sich nur auseinandersetzen, womit Theater sich auseinandersetzt – anstatt sich mit dem gesehenen Theater auseinanderzusetzen. Anstatt das Theater zu beurteilen, muss Kritik zu demjenigen Teil von Theater werden, der sie schon immer war.
Was „ist“ Kritik?
Überhaupt – die Kritik ist was eigentlich (oder Uneigentlich?). Wenn Kunst sich mit Dingen auseinandersetzt und sie zu gemachten Dingen macht, die keinen Zweck haben außer dem, gemachte Dinge zu sein, was ist dann der „Sinn“ der Kritik, um ein großes Wort zu bemühen? Wenn Kunst Beobachter erschafft, die ein Ding als Kunstwerk sehen und damit einen anderen Blick auf ein Ding werfen, auf eine Kunsttanne zwischen 1000 Naturtannen, dann ist Kritik die Institution, die einsetzt, wenn der Beobachter danach fragt, was der Unterschied ist oder warum es ihn gibt. Der Unterschied zwischen der Kunsttanne und der Naturtanne. Der Unterschied zwischen Bühne und Nichtbühne. Der Unterschied also zwischen Geschehnissen und Sinn. Wobei „Sinn“ ziemlich gut den mythos von Aristoteles übersetzt: Es ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Anders als die Geschehnisse außerhalb der Bühne, die geschehen, sind die Geschehnisse hier zusammengesetzt. Und die Kritik nimmt diese Zusammengesetztheit als Zusammengesetztheit in den Blick. Gleich dem Pantheisten, der überall, wo Wanderer nur zufällige Natur wahrnehmen, das Wirken Gottes beobachtet und als den Sinn der Welt versteht, erblickt der Kritiker die Zusammengesetztheit der Geschehnisse als Gemachte. Zunächst als von einem Künstler/Gott gemachte – in einer Netzwerkgesellschaft aber …? Die Autorschaft, das einfache Subjekt des bereits zitierten logischen Satzes
Regisseur X inszeniert Stück Y von Dramatiker Z am Theater A in Stadt B.
schwindet. Die Autorität, Autorschaft, Führerschaft. Das macht Unruhe, Angst.
Der Sinn der Kritik
Sinn entsteht im Zusammenspiel mit der Frage nach dem “Warum”, und wenn dieses “Warum” nicht im Sinne einer individualpsychologischen Motivationsmatrix beantwortet werden soll, sondern im Sinne eines Zusammenhangs mit dem Zusammenhang, in dem es sich befindet oder nicht befindet, dann kann letztlich die Warum-Frage der Kritik nur die Sinnfrage sein. Diese Sinnfrage entsteht nicht von sich aus. Dieses, jenes oder das zu tun kann lebensweltlich ohne die Sinnfrage dessen ablaufen, der tut ohne zumindest ohne dass er reflektiert bzw. beobachtet, was er tut, und wie es einen Zusammenhang mit den Zusammenhang bildet, in dem er sich befindet. Unausweichlich wird die Frage erst im Appell, der zugleich Appell an die Verantwortung ist, sofern Sinn eine (vielleicht sogar: die) mögliche Verantwortungsdimension liefert. Dabei ist Sinn nicht die einfache Antwort im Sinne eines simpel kausalen “dieses bewirken”, dieses auslösen”, dieses “anschalten”, also eine einfache Relation aus einem Tun und etwa, das oder an dem getan wird. Sondern dieser simple mechanistische Kausalzusammenhang stellt sich selbst erst in einen Sinn/Zusammenhang, wenn es im Zusammenhang mit dem beobachtet oder reflektiert wird, womit es zusammen hängt. Die Frage: Warum hast du den Schalter betätigt? bekommt als kausalmechanische Antwort “Um Licht zu machen“. Der Sinnzusammenhang aber begreift den gesamten Zusammenhang ein, in dem nicht nur der Schalter, sondern auch das Licht, der Raum und alles Zusammenhänge, die damit zusammen hängen stehen. Die individualpsychologische Antwort “Ich mag’s gern hell” vermag zwar für denjenigen, der das Licht angeschaltet hat, einen individuellen Sinnzusammenhang herstellen — im Bereich der Kunst ist seine Antwort aber nicht letztendlich, es sie denn, sie schlösse an einen Sinnzusammenhang an, der die individuelle Perspektive in einen weiteren Sinnzusammenhang einbaut. Einen Sinnzusammenhang etwa, der den Künstler als Inbegriff der Kunstwelt sieht und mit diesem spontan und autonom aus sich schöpfenden Genie, das es gerne hell mag, bereits eine hinreichende Einordnung in einen Sinnzusammenhang bringt, auf die der Betrachter des Kunststücks da mit demselben “Recht” antworten kann: Ich nicht. Und sich damit als Kunstrichter dem selben Sinnzusammenhang verpflichtet fühlt, der allerdings weitere Kommunikation ausschließt, da sich über diese Form der Geschmäcklerei nicht nur nicht streiten, sondern eigentlich auch nichts sagen lässt. Ob aber ein Sinn entstehen kann, etwa angesichts einer Singularität, die sich in einen vor-handenen Sinnzusammenhang nicht einfach integrieren oder an ihn anschließen lässt, die also zunächst als sinn-los erscheint, ist eine Frage, die erst beantwortet werden kann, wenn sie gefragt wird. Ob der Künstler darauf eine Antwort gibt oder nicht, ist dabei nicht von Belang — hier lässt sich an Luhmann insofern anschließen, als bei ihm der Künstler auch nur ein Beobachter ist, der an das, was er tut, die Frage nach dem Sinn nur aus seiner, gegenüber anderen Beobachtern nicht grundsätzlich verschiedenen Beobachterposition stellen kann. Allerdings hat der Künstler vor dem Vermerk “fertig” die exklusive Chance, das Werk, das er beobachtet aufgrund seiner Beobachtungen noch zu verändern. Wenn das Vermerk “fertig” aber darauf prangt, wenn als Premiere ist, das signierte Bild in der Galerie hängt, das Buch gedruckt ist, die Musik gespielt wird, ist auch er nur Beobachter. Und andere Beobachter mögen hinsichtlich des Sinnzusammenhanges zu anderen Aussagen kommen, als er selbst. Er ist dann eine Stimme unter anderen. Was sich — lebensweltlich gesagt — beschissen genug anfühlt. Der Sinn der Kritik nun ist, zunächst die Sinnfrage in Anschlag zu bringen in der Begegnung mit dem Kunststück. Und zudem die beobachteten Sinnkonkretisationen dann in einem — selbst wieder nicht selbstverständlichen, sondern verständnisbedürftigen Artefakt (Text, Video) anderen Beobachtern zugänglich zu machen, die zumeist erst durch diesen Akt der Zugänglichmachung die Chance haben, aus dem Stand der Gaffer und wahrnehmenden Zuschauer in eine Beobachtung oder Reflexion einzutreten. Der Sinn der Kritik ist also, in der Kritik die Frage nach dem Sinn zu stellen, zu artikulieren und einen Antwortentwurf vorzugeben. Ob dieser Sinn den Sinn trifft, den der Leser der Kritik in der oder nach der Betrachtung des “selben” Kunstwerks konstruiert oder konzediert, ist damit nicht gesagt. So wenig zwei Regisseure das “selbe” Stück identisch inszenieren, so wenig wahrscheinlich ist es, dass die Leser einer Kritik den selben Sinn verstehen oder notwendigerweise den im Kritiktext wiedergegebenen Sinn des Kunstwerks teilen würden. Da der Zusammenhang, in den das Werk eingebaut oder an den es angeschlossen werden muss, ein individuell Verschiedener ist, kann, wird oder muss auch der Sinnzusammenhang, der daraus verstanden wird, ein unterschiedlicher sein. Es sei denn — und hier kommen wir zur gemeinschaftsbildenden Dimension von Kunst — es handelt sich um ein Werk, das seine Sinn-Entschlussfähigkeit vor allem durch Zusammenhäng bildet oder zu bilden versucht, die eine gewisse Gruppe von Individuen teilen. Dann wird die Gruppenbildung dieser Gruppe gerade dadurch urgiert, dass sie einen gemeinsamen Sinnzusammenhang aus diesem Werk ableiten können. Man nennt so etwas etwa „Nationalkunst“.
Der Widerspruch der Kritik
Nicht einmal in ihren plattesten Daumenhoch-Ausprägungen versteht Kritik sich als widerspruchsloses Hinnehmen. Noch in der einfachen Abendevent-Bestenliste findet sich ansatzweise die Frage nach „Warum sollte ich hingehen?“, in der sich verklausuliert die Frage nach dem Sinn wiederfindet. Als Antwort mit dem Unterhaltungsfaktor ist bereits die Grundannahme verbunden, dass der Sinn des Abends darin bestehe, unterhaltend, kurzweilig, lustig zu sein.
Kritik benötigt – sie mag es einräumen oder brüsk mit Ideologieverdacht von sich weisen – Kriterien, die sie an das zu Beurteilende oder zu Kritisierende anlegt. Erst darin kann sie sich selbst so weit aus der Wahrnehmung herauslösen, dass überhaupt die Beobachtung dessen, was geschehen ist, möglich wird. Und zugleich wird Kritik, wo sie über sich selbst aufgeklärt ist, sich ihrer Kriterien bewusst sein und wird bereit sein, sie wiederum den Widerspruch der Leser auszusetzen. Oder der Macher, die sich vom Kritiker missverstanden fühlen dürfen, wie einst Tschechow von Stanislawski. Tschechow warf Stanislawski vor, er läse seine Texte als Tragödie statt als Farce. Nun – Stanislawski hätte ihm entgegnen können, dass Tschechow seine Texte falsch liest. Er hätte ihm aber auch mit Kriterien antworten können, mit Beobachtungsweisen des Textes. Und ebenso könnte der Kritiker dem Regisseur oder den Spielern antworten, dass er eben mit anderen Kriterien urteilt oder mit anderen Kontexten beobachtet.
Die kritische Frage an das zu Kritisierende lautet: Warum machst du das? Warum soll ich mir das ansehen? Das hat die Kritik herauszufinden – um sich danach dazu zu verhalten. Wenn Theater sich verstehen lässt als eine Form der Kommunikation (die es schon immer war) und nicht der massenmedialen Information – ist von der Kritik der Eintritt in die Kommunikation zu verlangen. Ich wünschte, Kritiken zu lesen, die Aufführungen widersprechen, anstatt sie lediglich zu be-sprechen. Und Kritiken, die sich die Mühe machen, den Spruch zu finden, der Widerspruch oder Zuspruch finden könnte. Art is communication. Theatre is communication. Gleichzeitig Naturding zu sein und kommunikativer Akt, gleichzeitig kommunikativer Akt und Naturding zu sein – ist die Reformulierung der traditionellen Ansicht, Kunst sei ein nutzloses Ding mit Sinn. Kunst ist ein sinnloses Ding im kommunikativen Zusammenhang. Was will uns der Künstler damit sagen/zeigen? – ist ein geflügeltes Wort. Die zweite Frage lautet nun: Was ist ihm darauf zu entgegnen? Und über allem die Frage: Warum erzählst oder zeigst du mir das? – die sich sowohl an den Textschreiber vom Theater, an den Theatermacher vom Kritiker an den Kritiker vom Kritikleser gestellt findet. Warum schreibst du dieses Stück? Warum machst du dieses Theater? Warum schreibst du darüber? Warum liest du die Kritik? Warum schreibst du für das Theater? Warum machst du Theater? Warum schreibst du über Theater? Und die Antwort auf die Frage ist keine dem beobachteten Gegenstand Äußerliche – sondern das jeweilige Beta-Werk trägt sie entweder in sich. Oder sie ist unsinnig.Ein Text, eine Aufführung, eine Kritik, mit der nicht streiten oder über die nicht reden lässt, ist schlecht. Er/sie mag so „gut gemacht“ sein wie sie will. Die kunsthandwerkliche Dimension ist irrelevant bzw. lediglich eine Randbedingung, der Weichheit der Sitzplätze und der Kälte des Pausenbiers vergleichbar. Wer sich einmal daran gewöhnt hat, nicht nur die nachtkritiken zu lesen, sondern auch die Kommentare und Diskussionen darunter, versteht die Unumkehrbarkeit dieses gesellschaftlichen Wandels, der von der Erhabenheit des Kunstrichterstuhls, der sich nicht einmal den Notizblock aus der Hand nehmen lassen will, zu einer Austauschsituation führt, in der der Kritiker sich mit seiner Kritik der Kritik stellen muss – sei es der Leser, der Stückschreiber, der Regisseure, Dramaturgen, Hospitanten oder auch nur der anderen Zuschauer, die neben ihm saßen.
Alles weitere dann dann. Jetzt erst mal Luhmanns „Kunst der Gesellschaft“ fertig lesen – unter der Maßgabe des Einspruchs gegen die Behauptung, aus der künstlerischen Kommunikation könne die „materielle Komponente“ ausgeschlossen werden. In der Kunst liegt nicht nur strukturelle Kopplung vor zwischen System und Material. Vielleicht sollte das die Systemtheorie irritieren …?
Juli 11th, 2011 § § permalink
Die „Inszenierung“ versucht auch zu versprechen, dass ich mir den Abend oder Monat aussuchen kann , also in eine von mehreren Vorstellungen gehen kann – und dennoch die „selbe“ Inszenierung sehe. Wieder einmal Ivan Nagel:
Interpretation als sinnvolles Denk- und Arbeitsmodell hat zwei Bedingungen: Wiederholbarkeit und Vergleichbarkeit des theatralen Produkts. (Schriften zum Drama, 24)
Zwar hat spätestens Kierkegaard in „Die Wiederholung“ festgestellt, dass es gerade im Theater die Wiederholung nicht gibt. Das scheint aber denjenigen nicht zu betreffen, der nicht wiederholt, sondern einmalig in eine Inszenierung geht. Immerhin sehe ich noch dasselbe Werk. Dokumentationsmittel wie das Regiebuch sollen sicher stellen, dass eine Inszenierung wiederholbar ist, gar über Jahre oder Jahrzehnte auch mit wechselnden Darstellern/Sängern/Tänzern aufgeführt werden kann – und dabei dieselbe bleibt. Der Grundglaube der Industriegesellschaft, die überall wo „Nutella“ darauf steht erwartet, dass Nutella darin ist, die Produktidentität an jedem Ort und zu jeder Zeit garantiert, ist hier unverkennbar am Werke. Es ist die Dokumentkultur, die aus dem Zeitfluss ausbrechend versucht, die Aufführung zu einem wiederholbaren Algorithmus zu machen und doch nicht umhin kommt, anzuerkennen, dass selbst dieselbe Inszenierung von Abend zu Abend anders ist. Was sich aber nicht beobachten lässt, da der Beobachter nicht zweimal erstmals in den Zeitfluss steigen kann. Während zugleich die Theatermacher keine glaubwürdigen Auskunftgeber sind, weil für sie die Identität der Inszenierung schon immer ein Kampf gegen Windmühlenfügel war, den sie nicht gewinnen konnten. Der theatereigene Begriff der Indisponiertheit, der also voraussetzt, es gäbe eine Disposition zur identischen Wiederholung, zeugt von diesem Kampf.
Nach der identischen Inszenierung
Das Abrücken vom Inszenierungsbegriff würde Schluss machen können mit dieser Vergeudung. Anstatt die Energie darein zu setzen, immer wieder Selbes herzustellen, kann sie ihre Bahnen in der Freiheit der Andersheit suchen. Keine Identitätsgarantie. Nicht unbedingt als Aufforderung zum Extemporé und zur Improvisation. Sondern zum Im-Proviso: Zum Un-Vorhergesehenen und Un-Vorgesehenen, zum Un-Nachsehbaren zugleich. Jenseits des Vor-Geschriebenen Programmes als auch das Un-Vorgesehene geschehen lassen, nicht als Kadenz oder Freiraum für Solisten. Sondern als die Freiheit des Vollzuges, dem Fußballspiel gleich, das zwar seine festgelegten Regeln und seine trainierten Spielzüge hat, sich aber in situ dennoch mit einer gewissen Freiheit entfalten kann. Die Andersehit des nächsten Abends nicht betrachtend als Misslingen der Selbigkeit und Identität, sondern als Freiheit zum Anderen.
Ivan Nagels Hinweis auf das Spiel fortführen
Das Spiel. Ivan Nagel hat es (ebenfalls) ins Spiel gebracht. Das Spiel ist » Read the rest of this entry «