Juli 10th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Mensch, Ivan Nagel … § permalink
… mit 80 Jahren bist du frischer in der Birne, als die Frischlinge, die an deutsche Großtheater schluffen:
Darf das Großtheater mit seinem dreißig- bis fünfzigköpfigen Ensemble, mit eigenen Werkstätten und Verwaltungen weiter als Vorbild alles höheren Strebens in der Schauspielkunst gelten? Drama und Theater wirkten aus diesem System einst kraftvoll in das öffentliche Bewusstsein. Von solcher Wirkung scheint wenig übrig geblieben. […] Technische Beschleunigung und politischer Abbau der letzten Jahrzehnte haben zwei Generationen in eine Mediengalaxie gestoßen, deren immer raschere Umschwünge zugleich totale Gegenwart und leere Zeitlosigkeit erzeugen. Die Millisekunden der Atome, die Jahrmilliarden der Biomoleküle wimmeln von Ereignissen, die mit dem Leben des Einzelnen unvergleichbar sind. Geht das Repertoire-Spiel nicht an alldem vorbei, wenn seine Programm-Melange die Gegenwart weiter als das erlebbare Treffen von Vergangenem und Zukünftigem behauptet? Die Muss-Klassiker, die das deutsche Stadttehater jährlich hundertweise von Regisseuren unter vierzig produzieren lässt, sind oft von verdrießlicher Sinnlosigkeit. […] Wie mancher Regisseur an manches Stück geraten ist, bleibt oft ein Rätsel, das die Aufführung nicht löst.” (Schriften zum Drama, 30ff)
Nur eines noch dazu: Die Inszenierung von Ü40-Regisseuren sind auch nicht besser.
Warum das Festhalten am Begriff der Inszenierung das Denken über und das Arbeiten für Theater behindert und was eine Konsequenz für die Theaterkritik wäre, wie sie sich demnach neu erfinden müsste, versucht dieses Posting zu klären. Beim Schreiben der ersten Zeile, kenne ich das Ende noch nicht. Ich weiß nicht, worauf es hinausführt, ob es auf etwas hinausführt oder wohin es führt.
Zum Begriff der Inszenierung
Der Begriff der Inszenierung gehört so sehr zum (unbefragten) Kernbestand des noch vorherrschenden Dispositivs von Theater — verkürzt als Stadttheater benennbar — dass das Denken eines anderen Theaters, insbesondere eines Netztheaters oder Theaters unter den Bedingungen der Netzgesellschaft — es nicht unterlassen darf zu befragen und letztlich zurückzuweisen, was in diesem Begriff als fraglos unterstellte Aufgabe oder Funktion von Theater mitgeschleift wird. Insbesondere die Verwobenheit der Theaterkritik in dieses Konzept ist dabei zu befragen.
Der Text als Stückwerk
Traditionell setzt der Begriff der Inszenierung voraus, dass es etwas gibt, das in Szene gesetzt (mise en scene) wird. Und zwar einen Text, ein Drama — mithin eine literarische Gattung, die in ihrer Machart erkennbar darauf angelegt ist, in Szene gesetzt zu werden. Als Markierung für eine solche Absicht findet sich eine besondere Schreibweise dieses Textes, ein besonderer formaler Aufbau dessen, was auf der Szene von wem zu sagen ist und zusätzlich pro-grammierende Nebentexte, die sowohl sagen, wie etwas zu sprechen ist und wie die optische Gestaltung der Szenerie aussehen soll, wie sie zugleich die Stückhaftigkeit durch den Versuch, das Stückwerk zu ergänzen, erst um so deutlicher markieren. Der Text trägt die Markierung seiner Halbfertigkeit in einigen Sprachen bereits vor sich her, indem er als Stück benannt ist, also nur als ein Teil dessen, was bei seiner Inszenierung die Ganzheit der Szenerie ausmacht.
Das Stück als Textwerk
Als Bestandteil der Schriftgesellschaft und als lesbarer Text, als Werk eines Schreibers aber gehorcht er zugleich Erwartungshaltungen, die an Schriftwerke gestellt werden: aus der schwarzweiß mäandernden bloß physischen Materialität ergibt sich in der Lektüre sowohl der Vorstellungsraum eines imaginären Theaters, der rhetorischen Tradition der ekphrasis nicht unähnlich, die durch lebhafte und. Genaue Beschreibung von Dingen oder Geschehnissen bewirken wollte, dass die beschriebenen Dinge oder Geschehnisse vor dem “inneren Auge” des optischen oder besser noch akustischen Lesers sichtbar werden. Zugleich ergibt sich trotz der Stückhaftigkeit des Stücks, die bei der Lektüre insbesondere von als literarisch geltenden Werken immer unterstellte Eigensinn des Textes. Wie stückhaft ein Stück auch sein mag — der schulisch ausgebildete Leser wird nicht umhinkommen, nach der „Aussage“ des Textes zu fragen oder ihr nachzugehen. Markierung dieser Suche war seit jeher die Frage, was der Autor damit anderes sagen wolle, als das, was er wirklich geschrieben hat. Texte werden dann zu Transportmitteln für verborgene Aussagen über Liebe, Macht, Familie und so weiter. Und gerade findet sich – in eine rhetorische Frage verpackt – diese Forderung an Theater auch wieder in der Schrottpresse, hier im Hamburger Albernblatt:
Juli 9th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Nicht mal einen vernünftigen Spielzeit-Endstreit gibts mehr § permalink
Was die Haushaltsdebatte für den Bundestag, ist das Spielzeitende für das Theater. Anlass und Gelegenheit für die große Generaldebatte. Streit zwischen Kritikern und Theatern, Kritikern und Kritikern, Theatern und Theatern. Ein letztes Aufglimmen kultureller Lebendigkeit, bevor sich dann alle entweder in Urlaube oder auf irgendwelche Freiluftfestivals begeben.
Selbst das aber funktioniert nicht mehr. Stadelmaier, sonst ein Garant für diskussionfördernde Polemiken, hat sich in der FAZ nur ein paar Langweiligkeiten herauspressen können, die nichts bewegen, noch weniger aufregen. Die alten Schreiber sind müde. Immerhin scheint er das Ende des Dramatischen zu akzeptieren — aber reflektieren oder gar beschimpfen will ers nicht. Müde wie das Theater, von dem er schreibt, ist auch er.
Im Hamburger Abendblatt hat sich am 6. Juli nun Armgard Seegers hier darüber beklagt, dass es ihr keinen Spaß mehr macht ins Theater zu gehen. Warum?
Das Theater lebt heutzutage — jedenfalls da, wo es stilprägend sein will — von Performances und Projekten. Aufführungen also, bei denen ein Text nicht mehr nur sinnlich, treffend und genau ergründet und durch die Kunst und Fähigkeiten eines Schauspielers zum Leben erweckt wird. Sondern es geht um Konzepte. Dramen und Stücke werden nicht mehr gradlinig, mit traditionellen Mitteln nacherzählt, man reichert sie an mit Fremdtexten, sucht Schnittmengen zu Musik, Film, bildender Kunst. Anstelle der Konzentration auf das Drama, der Darstellung von Figuren, Handlungen und menschlichen Beziehungen rückt hier die “Aufführung” in den Mittelpunkt. Häufig können die Zuschauer nicht ähnlich assoziativ nachvollziehen, was die Künstler und zu welchem Zwecke bewegt. Die Folge: Man fühlt sich ausgeschlossen, empfindet die Kunst als elitär, arrogant, autistisch und fragt sich, ob manch ein Konzeptionsregisseur mit seinem Team nicht in einer Parallelwelt lebt, ohne Berührungspunkte zu den Zuschauern. Kümmert sich das Theater vielleicht zu wenig darum, seine Zuschauer zu fesseln, anzusprechen und zu unterhalten? Ist das Theater nicht gerade dazu da, Stücke, die man beim Lesen allein nicht in ihrer ganzen Vielschichtigkeit durchdringen kann, verständlich zu machen?
Nunja, schade für Frau Seegers. Gibt ja noch andere Berufe. Schauen Sie sich da mal um, Frau Seegers. Und denken Sie beim Suchen mal darüber nach, ob es sich lohnt, zu kritisieren, dass “die Aufführung” in den Mittelpunkt des Theaters rückt. Und schreiben Sie demnächst doch mal einen Text, indem Sie sich darüber aufregen, dass Texte immer mehr in den Mittelpunkt des Buches rücken. Oder Geistlosigkeit in den Mittelpunkt der Zeitungen.
Nun sollte man meinen, eine sich derart selbst dekonstruierende, leider nicht einmal wirklich aufgeregte oder flammende Kritik sei am besten durch Ignorieren begegnet. Das scheint der Thalia-Intendant Lux anders zu sehen — und begegnet der Niveaulosigkeit mit (man hält es kaum für möglich) noch mehr Niveau- und insbesondere Standpunktlosigkeit hier im Abendblatt.
Wir sind weder elitär noch autistisch oder arrogant, sondern offen, erlebnishungrig und kommunikativ. Wenn es dennoch gelegentlich Probleme gibt, dann deshalb, weil sich die Sprache der Hochkultur, die unserer Autoren Schiller, Goethe oder Büchner, nicht immer auf den ersten Blick erschließt.
So, Frau Seeger, merken Sie Ihnen das mal gefälligst. Goethe ist schuld. Wir erfahren weiterhin, dass das Theater sich seit Jahhunderten ändert (was Herr Lux “gut” findet), dass Performances manchmal gut, manchmal schlecht sind, dass auch in Berlin, Zürich, Frankfurt, Wien oder München die “Sehnsucht” der Menschen bedient wird, “Geschichten mit Menschen sehen zu wollen” — Lux vergisst dabei allerdings RTL, RTL2, Super RTL, SAT1, Das Vierte, Neun Live, Kino, DVD und so weiter. Und vor allem muss Theater rumeiern:
Einerseits hört Kunst meist auf, wenn sie sich zu marktgängig dem Publikum vor die Füße wirft. Andererseits ist sie schwer gefährdet, wenn sie auf das Publikum überhaupt keine Rücksicht mehr nimmt. Dazwischen liegt irgendwo die Wahrheit.
Immer schön dazwischen bleiben, so ists recht, das schützt vor Anecken. “Mir ist in der gesamten Debatte zu viel Politik und Ideologie im Spiel.” — sag ich ja. Und so weiter.
Ich bin nicht sicher, ob eine solche Sommer(loch)debatte die Leser interessiert.
Nunja, sie interessiert als Symptom dafür, auf welchem jämmerlichen Niveau die Diskussion um und das Interesse an Theater schon angekommen ist.
Entscheidend ist, dass Theater sinnlich ist.
Echt? Das ist entscheidend? Entscheidend ist, dass Wurst aus Wurst besteht? Einerseits lauert die (böse) Verkopftheit, andererseits die (sinnliche) Dummheit. Dazwischen liegt irgendwo … na?
Juli 5th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Ist dem Stadttheater noch zu helfen? § permalink
Auf nachtkritik erschien vor einigen Tagen ein Diskussionsbeitrag von Matthias von Hartz (auch abgedruckt im Theater der Zeit Arbeitsbuch „ Heart of the City – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft“), der sich mit dem Verhältnis zwischen Stadttheatern und sogenannten freien Theatern auseinandersetzte und mehr oder minder erst gemeinte Lösungsansätze für die von ihm konstatierte Krise des deutschen Stadttheatersystems präsentierte.
Wer dieses Blog hier ein wenig mitverfolgt, wird erwarten, dass hier sowohl seine Zustandsbeschreibung als auch die präsentierten Lösungsansätze als bei weitem nicht grundlegend genug betrachtet werden. In den Postings zum Tod des Stadtthaters (Teil 1, Teil 2, Teil 3) dem Siechen von Theatern und Kritik (hier) und dem zuletzt hier geposteten Lösungsvorschlag war ich der Situation ebenfalls nachgegangen – mit allerdings einigen anderen Konsequenzen.
Was sagt von Hartz
Von Hartz zieht die Differenz zwischen Stadttheatern und Freien Gruppen, konstatiert, dass „Innovationen“ im Wesentlichen aus der freien Szene kämen und schließt daraus, dass die unterfinanzierten Freien Gruppen mehr Geld bekommen müssten. Dabei ist seine Problembeschreibung durchaus „dramatisch“. Es gehe, schreibt er, letztlich „ um Entwicklung und Überleben des gesamten Mediums“. Er konstatiert, dass zwar 90% der öffentlichen Mittel in die Stadttheatersysteme fließen, die „Innovationen“ hingegen zu 90% aus den gering finanzierten „armen“ freien Gruppen kämen.
Das Interesse des Stadttheaters sei dabei weniger die Zukunft des Theaters, sondern das eigene Überleben als Institution, das als Institution eben zunächst am Fortbestand und an der ökonomischen Nutzung der eigenen Ressourcen interessiert sei. Die Struktur der Instituition bestimme, welche Art von Theater produziert wird. In einer Formulierung, die auch hier aus dem Blog stammen könnte, stellt er fest: „Über die Jahrhunderte ist so eine Fabrik entstanden, die sehr professionell und spezialisiert ein sehr gutes Produkt herstellt.“. Ausführlicher und pointiert:
Interessant ist, dass die Probleme am Stadttheater nicht nur durch Menschen oder Dinge entstehen, die ein Künstler braucht und die es dort nicht gibt. Sondern auch durch die Produktionsmittel, die vorgehalten werden, die man aber nicht benutzt. Also: Wer nicht probt oder keine Schauspieler für seine Arbeit braucht, produziert Leerstand.
Von der Institution zum Inhalt
Im Verlauf seines Textes durchaus unvermittelt fällt von Hartz dann aus der institutionellen in die inhaltliche Kritik, die durch seine vorherigen Ausführungen nicht vorbereitet ist:
Juli 3rd, 2011 § Kommentare deaktiviert für Say it again, Ivan § permalink
Letzte Woche hatte ich das Vergnügen eines Gesprächs mit der nachtkritik Redaktion. Und machte mich auf den Heimweg, beschenkt mitr einem Buch, das ich mir vermutlich niemals selber gekauft hätte. Was ein Fehler gewesen wäre. Und zwar.
Der neue Buch des vor wenigen Tagen 80 Jahre alt gewordenen Ivan Nagel. „Schriften zum Theater“ heißt es unorginellerweise. Nagel. 60er. 70er. Auch 80er Jahre. Adorno. Institution in einer Theaterwelt, die es so nicht mehr gibt. Das waren so einige der Vor- und Urteile, die mir im Kopf waren zu ihm. Ich nahm mir das Buch also auf der Rückreise vor und fand erst einmal einigermaßen bestätigt, was zu erwarten war. Künstlerporträts Kortner, Zadek, Minks, Stein. Nichts, was man nicht im Rahmen der klassischen literarischen Form der Theatererinnerung erwarten würde. Sehr lesbar, aber eben auch sehr vergangen.
Zum Glück hab ich das Buch nicht weggelegt, sondern mich bis zum dritten Abschnitt „Zum Theater“, der beginnt mit einem Text „Der Kampf für die Schaubühne“, vorgelesen. In den hier versammelten Texten kommt nicht nur ein anderer Ivan Nagel (für meine Wahrnehmung) hervor, sondern einer, der offensichtlich in der Gegenwart schmerzlich wieder gewünscht wird. Ein Kritiker, der sein erworbenes Renommee nutzt, um öffentlichen Einfluss auszuüben. Und der dem Theater Ende der 60er und Ende der 80er attestierte, was ihm heute wieder zu attestieren wäre, mit einer Verve, die ebenfalls wieder an die Tagesordnung gehört, eine Schärfe und Brillanz in der Diktion wie in der Reflexion, die heutigen Kritikern und nachtkritikern » Read the rest of this entry «
Hab mir gerade nach einem Zitat, das ich bei Kusanowsky gelesen hatte und das mir diesen Autor als interessant erscheinen ließ, den lange Zeit vergessenen Soziologen und Durkheim-Widersacher Gabriel Tarde, genauer seine Schrift zur Monadologie und Soziologie vorgenommen. Abgesehen davon, dass diese Schrift von außerordentlich inspirierender Schrägheit ist, bin ich auf einen Gedanken gestoßen, der mir enorm fruchtbar erscheint:
Am Grunde jedes Dings liegt jedes wirkliche oder mögliche andere Ding. Dies setzt aber zunächst voraus, dass jedes Ding eine Gesellschaft ist und dass alle Phänomene soziale Tatsachen sind. […] Alle Wissenschaften scheinen dazu bestimmt, Zweige der Soziologie zu werden.
Abgesehen von der Schrägheit der dekonstruktiven Umkehrung, die Gesellschaften nicht mehr aus Einzelnen, sondern einzelne aus Gesellschaft bestehen lassen, scheint mir eine hohe Anschlussfähigkeit an die hier und ebenfalls bei Kusanowsky beschriebene Überlegung zur polymorph-perversen Struktur des Post-Subjekts (das, um allzu voreilige Kommentatoren vorab zu besänftigen, keine Existenzaussage zum Subjekt impliziert, sondern nur eine Begriffsreferenz darstellt) vorzuliegen.
Reißt man die uralte Dualität von Materie und “Psyche” ein, wie Tarde es tut, indem er selbst auf atomarer und subatomarer Ebene das Vorliegen von Phänomenen konstatiert, die jenseits “bloßer Materie” liegen, und kommt zu Tardes an Leibniz geschärften Begriff der Monade, öffnet sich tatsächlich der Denkraum für ein “Subjekt”, das kein Subjekt mehr ist, sondern eben jenem polymorph-perversen oder proteischen Subjekt gleicht, von dem etwa Rifkin angesichts des “Menschen” der Netzgesellschaft redet. Dabei ist Tardes Dreh so simpel wie verblüffend einleuchtend: Wenn sich traditionell von Gesellschaften mit der Metapher, dem Bild oder der Analogie des Organismus reden lässt — warum sollte sich umgekehrt nicht angesichts von Organismen nicht von Gesellschaften reden lassen. Dann ist also ein Körper eine Zellgesellschaft, die Zelle selbst wieder Gesellschaft ihrer Konstituenten, die Konstituenten selbst wieder Atomgesellschaften , deren Zusammenhang in dieser Perspektive nichts weniger als eine Überraschung sein kann (warum verhalten sich die Atome zu einer Zelle?), die durch den Begriff des Natur-“Gesetzes” vielleicht anthropomorph verkleistert und verdeckt, nicht aber » Read the rest of this entry «
In der Stadt entstanden und folglich bedingt durch das Phänomen der Sesshaftmachung, hatte die Theateraufführung immer zum obersten Ziel, den Zuschauer an der Bewegung zu hindern. Die Pracht der antiken Zirkusse und Theater läßt letztlich die Erfindung eines allerersten statischen Vehikels erkennen, das pathologische Sesshaftmachen eines aufmerksamen Zuschauers, der die Aufführung des optischen Leibes des sich bewegenden Schauspielers verfolgt.
Nun — es ist die deutsche Übersetzung eines französischen Textes. Trotzdem dürfte sich die Doppeldeutigkeit von “bewegend” auch dort finden (ich habe es nicht überprüft). Der stillgesetzte Zuschauer schaut den Bewegungen des Akteurs zu, der sich bewegen darf, um sich dadurch selbst bewegen zu lassen und zwar, indem er unbewegt bleibt. Lassen wir die Frage außen vor, der sich die Schauspieltheorie seit dem 18. Jahrhundert widmete, nämlich diejenige, ob ein selbst “innerlich” bewegter Schauspieler bewegender sei als ein unbewegter Beweger, ein proton kinoun akineton um es mit Aristoteles zu sagen. So findet sich dennoch eine durchaus interessante Bewegung von Stillstellung und Bewegung, die sich gegenseitig durchdringen. Der bewegte Mensch wird sesshaft gemacht, festgesetzt, stillgestellt und still gestellt (nunja — im antiken Theater dürfte nicht viel Stille geherrscht haben, vermutlich eher vergleichbar einer heutigen Kaspertheaterufführung vor Kindergartenkindern oder einem Zweitliga Fußballspiel…), um ihn bewegen zu können.
“Pathologisch” nennt Virilio das. Pathos und logos - das sind die Beweger. Der Logos, der ein Pathos auslösen soll, der die ins scheibare Passivum gedrängten Zuschauer mit Empathie, Antipathie, Sympathie vielleicht auch Neuropathie versehen soll (nach Aristoteles dient das ja der pathetischen Katharsis). Und es sind zu einem großen Teil die logoi, die für diese pathemata sorgen. Pathologie ist deswegen eine sehr passende Bezeichnung für die theatrale Veranstaltung. Das Theater als pathologisches Institut. Das aber die Zuschauer deswegen nicht zum bl0ßen Passivum macht, weil sie aktiv dorthin gegangen sind, mit der Entscheidung, sich pathologisieren zu lassen, das Theater betraten. Sie laufen nicht davon, gehen nicht weg, lassen sich nicht nur stillstellen als wäre sie polizeilich fest genommen und im Theater fixiert worden.
Die scheinbare Passivität der Stillsitzenden entpuppt sich als die Aktivität, die im bewußt gewollten Sitzen stattfindet. Insofern ist Adams Antwort auf die Frage Gottes: “Was machst du da?” konsequent “Ich mache Nichts.” Und die weitere Nachfrage kann nichts anderes zutage fördern als “Ich sitze hier” und weiter “Ich möchte hier sitzen … Ich wollte immer nur hier sitzen”. Gott kann nicht anders als rasend werden ob seiner Entscheidung, sitzen zu wollen. Zwar heißt Adam hier Herrmann und Gott ist in der Küche. Aber noch am Ende zeigt Adam-Herrmann die scheinbare Paradoxalität des passiv Aktiven wenn er lauthals schreit: “Ich schreie dich nicht an.”
Im Nichtstun unbewegt ausharrend lässt sich Hermann pathologisieren von der verborgenen Akteurin in der Küche — bis hin zum Ausbruch seiner Bewegtheit, bis also zur E‑Motion, die er dennoch unbewegt im Sessel sitzend vollzieht. Es entpuppt sich die Passivität als inerte Aktivität. Loriots genialer Sketch führt das “pathologische Sesshaftmachen eines aufmerksamen Zuschauers, der die Aufführung des optischen Leibes des sich bewegenden Schauspielers verfolgt” in nuce vor. Und es zeigt sich, dass es alles ist — nur nicht passiv. Passioniert — ja. Leidend — ja. Nicht aber passiv, da es der Aktion des Sitzens, die als solche mit Motiv gewählt wurde, folgt. Die Frage “Was machst du” mit “sitzen” zu beantworten, als handele es sich um ein ganz normales Verbum wie hämmern, kochen, kämpfen, bauen usw., zeigt die Aktivität. Hermann wird nicht gesessen. Er sitzt. Aktiv. Dabei aber wird er be-handelt von der Gattin. Oder von » Read the rest of this entry «
Mai 30th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Recht als Theater? Zu einer Frage von @weissgarnix. § permalink
Gerade eben gab es ein Posting von Thomas Strobl auf weissgarnix (hier (Update 2015: Weissgarnix-Blog inzwischen offline),) in dem er auf einen Artikel von Harald Staun in der FAZ (hier) zum Kachelmann-Prozess bezugnehmend fragt, ob sich (im Kachelmannprozess oder grundsätzlich) die Rechtsprechung als Theater verstehen lässt. Darauf habe ich ihm ausführlich in einem Kommentar geantwortet, den ich hier wiedergeben möchte.
Die metaphorische Anwendung der Struktur “Theater” auf die Struktur “Gerichtsprozess” ist legitim, sofern sie Erkenntnisgewinn bringt und nicht behauptet, das eine sei das andere. Insofern ist die Frage nach der Richtigkeit “Stimmt das?” nicht wirklich relevant. Eher die Frage “Bringts was?”. Denn dass ein Prozess kein Theater “ist”, weiß spätestens, wer den Delinquenten auf dem Richtplatz oder im Gefängnis sieht, den Schauspieler aber in der Kantine.
Trotzdem gibt es durch die Strukturüberlagerung feststellbare Ähnlichkeiten. Nämlich: » Read the rest of this entry «
In den letzten Postings hatte ich zu zeigen versucht, in welch bedrohlicher Lage sich meines Erachtens die Stadttheater befinden – und zwar nicht aus dem unerklärlichen Sparwahn von Kämmerern, sondern durch eine selbstverschuldete Zeitkrankheit. Als Nachtrag möchte ich nun hinzufügen, wie meiner Meinung nach die Situation von Theater und Theaterkritik dazu führen, gemeinsam in einen nicht reißenden, sondern eher müden und ermüdenden Abwärtsstrudel geraten, der beide an ein absehbares Ende bringt. Vor einigen Wochen schrieb Jürgen Berger auf der Seite des Goethe-Instituts einen Artikel mit dem Titel „Eine Frage der Zeit – Print oder Online und wie das Internet die Theaterkritik verändert“, der folgendermaßen beginnt:
Dass sich Teile der Theaterkritik ins Internet verlagern, ist unaufhaltsam. Alleine der allmähliche Abbau der Theaterkritik vor allem in regionalen Printmedien hat zur Folge, dass eine Leerstelle entsteht. Das spüren vor allem die Theater jenseits der Metropolen, die immer weniger im Feuilleton auftauchen. Es hat aber auch zur Folge, dass immer weniger junge Nachwuchsjournalisten sich schreibend als Theaterkritiker erproben können. Die einzige Ausweichmöglichkeit: Das Internet. (Quelle)
In der Folge verbreitet er sich über Kultiversum und Nachtkritik und fleddert ein wenig an der journalistischen Qualität der Kritiker und ihrer Texte herum. Vieles von dem, was er schreibt, ist nicht falsch. Einiges richtig. Es bleibt allerdings an oberflächlichen Phänomenen und Geschmackskritiken an den geschmäcklerischen Kritiken hängen. Es ist einfach nicht zu erwarten, dass Schreiber, die mit einem Stundensatz von Gebäudereinigungspersonal (Honorar für eine Kritik 60 € laut Esther Slevogt hier) abgespeist werden (und darauf läuft es in etwa hinaus, betrachtet man den gesamten Zeitaufwand für eine Kritik), eine reflexive Qualität abliefern, die hauptberuflichen oder nach Zeitungssätzen bezahlten Freien eignet. Nachtkritiken zu schreiben kann nur Hobby sein oder die Möglichkeit, kostenlos ins Theater zu kommen. Aber das ist geschenkt und sei dahin gestellt.
Von Verschwinden der Zeitungskritik
Interessanter finde ich seine Assertion, dass das schwinden der Kritiken aus Zeitungen eine unumkehrbare Bewegung sei – und sie ist fatal. Aus zweierlei Gründen. Zum einen zeigt sich an dem fehlenden Aufschrei der Leserschaft, dass Theaterkritiken schon längst nicht mehr als wesentlicher Bestandteil der Zeitungslektüre bei Otto und Ottilie Normalleser gelten. Theaterkritik ist kein Kernbestand von Zeitungen – höchstens eine Art Kollateralinformation, die » Read the rest of this entry «
Mai 19th, 2011 § Kommentare deaktiviert für Warum es für die Theater um Leben und Tod geht — Teil 3 § permalink
In den letzten beiden Postings versuchte ich zu zeigen, wie Stadttheater einerseits seine Funktion in der Abendunterhaltung eingebüßt hat, andererseits seine Funktion für die Konstitution einer städtischen Bürgerlichkeit verlor. Im dritten Teil möchte ich nun darauf eingehen, inwiefern Theater auch das Theaterhafte, das Spektakuläre eingebüßt hat.
Der Verlust des Spektakulären
Dem Theater eignete in seinen Hochzeiten das Spektakuläre, das sich noch in Spuren in der Oper der Gegenwart wiederfindet. Zu seinen Hochzeiten war Theater eine multimediale technische Meisterleistung. Nicht nur der Darbietenden, sondern auch der Bühnen- und Beleuchtungstechnik. Rasche Verwandlungen, Drehbühnen, Schiebebühnen, bewegliche Plafonds und Heerscharen von Bühnenarbeitern schufen in Minutenschnelle szenische Zauberkunststücke. Ein gleißend erhellter Zuschauerraum konnte mit Gas- oder Elektrobeleuchtung ins Dunkel gehüllt, die Bühne mit Licht‑, Feuer- » Read the rest of this entry «