Die Utopie: Netztheater für eine globale Öffentlichkeit

Juni 13th, 2011 § 3 comments

Es ist Pfings­ten – Zeit für Geist, der ins Thea­ter fährt. Nicht Hei­li­gen. Eher Spi­rit. A new spirit.

Schlecht­ge­laun­tes wie zuletzt hier über das gegen­wär­ti­ge Stadt­thea­ter abzu­son­dern ist eine Leich­tig­keit. Den Beob­ach­ter in der Loge zu geben, der sou­ve­rän sein Urteil über die Gla­dia­to­ren fällt, die sich täg­lich mit dem Thea­ter her­um­schla­gen, reicht nicht. Wie also wäre ein neu­es Thea­ter anzu­ge­hen? Dirk Bae­cker hat mit der sieb­ten sei­ner 15 The­sen gera­de eine ganz lau­ni­ge Dis­kus­si­on unter Sys­tem­theo­re­ti­kern (auto­poiet und Dif­fe­ren­tia) ange­sto­ßen, die sich dar­über unter­hal­ten, wie denn wohl eine sol­che Kunst beschaf­fen sein müss­te. Abge­se­hen davon, dass „Kunst“ ein ziem­lich hoh­ler und damit unhand­li­cher Begriff ist, den es über­haupt erst ein­mal über Bord zu wer­fen gilt, sind die Gedan­ken inspi­rie­rend. Aller­dings geht es hier um eine ande­re Dimen­si­on der Fra­ge nach einer neu­en Kunst (kann über­haupt von „Kunst“ die Rede sein – wenn, dann als For­mu­lie­rung eines Gedan­kens, nicht aber als Zuschrei­bung zu irgend­ei­nem real exis­tie­ren­den Ding. Das vor­ab). Es geht um Thea­ter. Und es geht mir dar­um, wie ein Thea­ter aus­se­hen könn­te, das sich dem schein­bar unaus­weich­li­chen Kre­pie­ren der gegen­wär­ti­gen Thea­ter ent­zie­hen, ent­ge­gen­stel­len könn­te. Eine Uto­pie von Thea­ter, die mit dem bestehen­den pyra­mi­da­len Grab­mä­lern der Ver­gan­gen­heit bricht. Das will ich hier und heu­te zei­gen. Und das geht so:

Wer Kunst sagt, muss heu­te noch immer  Werk sagen. Kunst und ins­be­son­de­re Thea­ter sind noch immer zutiefst in der Bür­ger­ge­sell­schaft, der Indus­trie­lo­gik und im Öffent­lich­keits­be­griff  des 19.Jahrhunderts.

  1. Es kon­sti­tu­ier­te sich – wie bereits hier aus­führ­lich dar­ge­legt – in die­sen Thea­tern ein wohl­ha­ben­der Bil­dungs- und Besitz­adel, ver­sam­mel­te sich, um Hof zu hal­ten und sich mit­tels der dar­ge­stell­ten Welt rekur­siv selbst zu kon­sti­tu­ie­ren. Ich habe vor län­ge­rer Zeit hier auf die Agrip­pa-Geschich­te bei Livi­us hin­ge­wie­sen: Die Römi­sche Plebs zieht, aus Feind­se­lig­keit gegen den Adel, aus der Stadt aus, stellt sich auf einen Hügel über der Stadt, und lässt sich dort, die Stadt im Blick, von Agrip­pa die Stadt als einen Gesamt­or­ga­nis­mus erklä­ren. Die Bür­ger­schafft tritt her­aus aus dem All­tag und sieht das Gesamt, das doch auch das Eige­ne ist, schein­bar von außen an. Kehrt es zurück in die Stadt, wird das Volk die­se Beob­ach­tung auch in der Stadt wei­ter voll­zie­hen. Das sich zum Volk kon­sti­tu­ier­te haben­de Gewu­sel (Latour) bleibt noch immer Gewu­sel, beob­ach­tet sich aber zugleich als Stadt­or­ga­nis­mus. Eben das voll­zieht sich im bür­ger­li­chen Thea­ter. Das „Außen“ aller­dings sitzt nun im Her­zen der Stadt. In dicken Mau­ern ein­ge­schlos­sen. Das Thea­ter ist das ins Herz der Stadt pro­ji­zier­te Außen, in dem das Gewu­sel sei­nen Platz ein­nimmt, um sich im Sinn­bild des Gesche­hens selbst als geschlos­se­ner Hand­lungs­zu­sam­men­hang zu erle­ben. Das ist weit her­ge­holt? Es ist eine über 2.000 Jah­re alte Ein­sicht, zu lesen in Pla­tons Nomoi, an dem Punkt als er die Thea­ter­leu­te aus der Stadt (!) ver­bannt: „[I]hr treff­lichs­ten Fremd­lin­ge, wir selbst sind Dich­ter einer Tra­gö­die, wel­che, soweit wir ver­mö­gen, die schöns­te und bes­te wer­den soll. Unse­re gan­ze Staats­ver­fas­sung  besteht näm­lich in der Nach­ah­mung  des schöns­ten und bes­ten Lebens, und eine sol­che soll eben nach unsern Begrif­fen die wahr­haf­tes­te Tra­gö­die  sein. Dich­ter seid ihr nun, Dich­ter sind auch wir der sel­ben Din­ge, und ihr habt uns als Neben­buh­ler (anti­tech­noi) in der Kunst und als Mit­be­wer­ber (anta­gô­nis­tai) um den Preis des schöns­ten Dra­mas (dra­ma­tos) anzu­se­hen. Ein sol­ches ist näm­lich allein eine wahr­haf­te Gesetz­ge­bung (nomos alêthês) ins Werk zu set­zen  geeig­net, und wir sind der Hoff­nung, daß sie uns dies leis­ten wer­de.“ (Nomoi, 7.Buch) Die Tra­gö­die der Thea­ter­leu­te wäre also eine Tra­gö­die in der Tra­gö­die – und das kann der Aris­to­krat Pla­ton, der sei­ne eige­ne Tra­gö­die als Stadt auf­füh­ren woll­te, natür­lich eben­so wenig dul­den wie der „L’état, c’est moi“ rufen­de Regent der Neu­zeit. Die bür­ger­li­che Gegen­be­we­gung setz­te im 19. Jahr­hun­dert ein, als das Bür­ger­tum sich von der aris­to­kra­ti­schen Dra­ma­tur­gie befrei­te, aus­zog ins Thea­ter hin­ein und sich dort sei­ne eige­ne Dra­ma­tur­gie bil­de­te. Nur: Die­se Dra­ma­tur­gie ist am Ende.
  2. Noch immer kle­ben die Thea­ter­leu­te an Begriff­lich­kei­ten, die die Auf­füh­rung als Werk ver­ste­hen, als Pro­dukt, als ein Ding, das gemein­sam pro­du­ziert und dann zum ers­ten Mal vor­ge­stellt wird, wie ein neu­es Auto im Gen­fer Auto­sa­lon. Es muss­te in der Werk­lo­gik des 19.Jahrunderts mög­lichst ein pro­dukt­för­mi­ges Werk ent­ste­hen (Bild, Buch, Par­ti­tur, Kunst-Werk,Aufführung), ein Objekt, dem sich die Betrach­ter­sub­jek­te gegen­über stel­len kön­nen. Das man mög­lichst in phy­si­scher Form kau­fen und mit­neh­men, auf­be­wah­ren und han­deln kann. Doku­ment. Pro­du­zent, Werk, Rezi­pi­ent. Her­stel­ler, Pro­dukt, Kon­su­ment. Man muss schon ein gehö­ri­ges Maß an Blind­heit oder Igno­ranz auf­brin­gen, um zu über­se­hen, dass die Häu­ser, die im 19. Jahr­hun­dert errich­tet wur­den, Fabrik­be­trie­be sind. Mit den Maschi­ne­rien von Ober‑, Unter, Sei­ten­büh­nen, mit den Zügen und Hebe­vor­rich­tun­gen, den gesam­ten Werk(!)stätten im Hin­ter­grund ist das Thea­ter des 19.Jahrhunderts gera­de­zu Sinn­bild einer moder­nen Pro­duk­ti­ons­an­la­ge mit zuge­hö­ri­gem Ver­wal­tungs­ap­pa­rat, deren Pro­dukt hier neben vie­lem Ande­ren: Unter­hal­tung ist. Die Zeit ist fabri­ka­ti­ons­ar­tig orga­ni­siert. Man denkt in Geschäfts­jah­ren (Spiel­zeit), Pro­dukt­ent­wick­lun­gen (Insze­nie­rung), Pro­dukt­re­leases (Pre­mie­ren), Pro­dukt­le­bens­zy­klen, das Wort „Pro­duk­ti­on“ wird ganz selbst­ver­ständ­lich ver­wen­det. Aber was wird pro­du­ziert? Was pro­du­ziert die Strip­pe­rin an der Stan­de im Nacht­klub? Was pro­du­ziert sie Ande­res, wenn sie den­sel­ben Strip auf der Thea­ter­büh­ne hin­legt? Die indus­trie­ge­sell­schaft­li­che Pro­duk­ti­ons­lo­gik ist – wie Boltanski/Chiapello über­zeu­gend dar­ge­legt haben – nicht mehr die gesell­schaft­li­che Logik der Gegen­wart. Der „Werk­tä­ti­ge“ oder „Arbei­ter“ ist nicht mehr das ver­ein­heit­li­chen­de Sym­bol­bild der Gegen­wart. Son­dern der Ange­stell­te und Dienst­leis­ter. Selbst Werk­tä­tig­keit in Betrie­ben wird zuneh­mend zu einer Dienst­leis­tung von Leih­ar­bei­tern. Längst ist die Werk­ge­sell­schaft zu einer Dienst­ge­sell­schaft gewor­den. Des­we­gen wäre es beden­kens­wert, ob nicht der gesam­te Pro­ben­pro­zess ver­öf­fent­licht gehör­te, das Spie­len und Pro­bie­ren, das der Dienst der Dar­stel­ler ist. Und die Pre­mie­re stün­de ganz am Ende, ein ein­zi­ges Mal. Kei­ne Nach­auf­füh­run­gen. Die Pre­mie­re ist kein Anfang. Sie ist ein Ende. Ende eines Pro­zes­ses, der heu­te viel sym­bol­träch­ti­ger und iden­ti­fi­ka­ti­ons­för­dern­der ist, als die Ver­haf­tung in der alten Werkwelt.
  3. Im Vor­wort zu Cor­ne­lia Vis­manns „Medi­en der Recht­spre­chung“ fin­det sich die Dar­le­gung, dass das Gerichts­ver­fah­ren seit den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen und den UN-Tri­bu­na­len einen Wan­del der Öffent­lich­keit erlebt. War „Öffent­lich­keit“ zuvor in Gerich­ten vor allem dadurch her­ge­stellt, dass die Türen für phy­sisch anwe­sen­de Zuschau­er geöff­net wur­den, dann auch für Jour­na­lis­ten, die eine Pres­se­öf­fent­lich­keit (vgl. Alex Demi­ro­vic) her­stell­te, wird in die­sen Ver­fah­ren die Welt­öf­fent­lich­keit nicht nur Zeu­ge des Gesche­hens – son­dern kon­sti­tu­iert sich als Welt­öf­fent­lich­keit. Die Thea­ter aber sind noch heu­te auf einem his­to­ri­schen Stand des Zer­bro­che­nen Krugs. Die vier­te Wand ist das Brett vor dem Kopf der Macher, die nicht ver­ste­hen, dass seit 50 Jah­ren die Jus­tiz „nicht nur medi­al die Wän­de der Gerichts­raums öff­net, son­dern eine glo­ba­le Öffent­lich­keit zur Stät­te der Recht­spre­chung macht“ (Vis­mann, 10). Ver­steht ihr, Thea­ter­leu­te? Medi­en über­tra­gen nicht nur – wie einst Live-Über­tra­gun­gen aus dem Ohn­sorg­thea­ter ins hei­mi­sche Wohn­zim­mer – „Wer­ke“ an eine zwei­te Öffent­lich­keit in den Wohn­zim­mern. Son­dern Wohn­zim­mer und Audi­to­ri­um sind die­sel­be glo­ba­le Öffent­lich­keit. Thea­ter vor einem glo­ba­len Publi­kum, Thea­ter als Welt­thea­ter (oder wenigs­tens: Euro­pa­thea­ter) – was wäre das? Anders. Ganz anders. Nicht die Stadt ist Öffent­lich­keit des Thea­ters. Nicht die Stadt kon­sti­tu­iert sich hier. Nicht das Volk, die Nati­on, das Land, die Ras­se kon­sti­tu­iert sich hier oder ist Öffent­lich­keit. Heu­te steht zur Fra­ge, wie sich denn ein Euro­pa, das nicht nur eine Wirt­schafts- und Wäh­rungs­uni­on ist, kon­sti­tu­ie­ren könn­te. Oder eine Welt­ge­sell­schaft – wobei die sich im Netz schon längst kon­sti­tu­iert. Und das Netz über­nimmt die Funk­ti­on des Thea­ters – und igno­riert dabei das Thea­ter in bei­spiel­lo­ser Wei­se. Weil das Thea­ter das Netz igno­riert und auf einem kul­tu­rel­len Level, der nur­mehr von musea­ler Legi­ti­ma­ti­on ist, hän­gen geblie­ben ist. Alles ist glo­bal — klar Thea­ter muss da nicht mit­ma­chen. Wider­stand gegen die Glo­ba­li­sie­rung. Kri­ti­ker aller Län­der verei…nein aller Dörfer…nein Kri­ti­ker mei­nes Dor­fes ver­sam­melt euch. Ver­gesst die inter­na­tio­na­le. Es lebe die regio­na­le. Die loka­le. Die thea­tra­le. Das ist nicht ein­mal mehr sym­pa­thisch alt­ba­cken. Selbst die katho­li­sche Kir­che ver­zich­tet dar­auf, die Mes­se in einer Form zu lesen, die kei­ner mehr ver­steht. Thea­ter? Latein! Wie müss­te ein ande­res Thea­ter sein? Ein Euro­päi­sches oder Welt­thea­ter, das ver­steht, dass sich hier Euro­pa oder Welt kon­sti­tu­ie­ren könn­te. Dazu gleich mehr.

Dass dem Thea­ter jede Lei­den­schaft jen­seits der lei­den­schaft­li­chen Ver­tei­di­gung finan­zi­el­ler Pfrün­den abhan­den gekom­men ist, kann man nicht erst seit Eck­hard Krip­pen­dorfs wein­se­li­ger Zustands­be­jam­me­rung im Frei­tag kon­sta­tie­ren. Selbst die Kom­men­ta­to­ren auf nacht­kri­tik, die ger­ne mit der Keu­le auf­ein­an­der und auf die Nacht­kri­ti­ker ein­dre­schen, füh­ren nur noch längst ver­gilb­te Aus­ein­an­der­set­zungs­dra­ma­tur­gien alter Zei­ten wie­der auf. Das Forel­len­quin­tett muss gespielt wer­den. Macht der Gewohn­heit. Über Thea­ter muss man sich strei­ten. Und wenn’s nichts ande­res zum Strei­ten gibt, dann eben Bud­get­kür­zun­gen und Hausschließungen.

Dabei sind die­se Häu­ser uner­mess­lich reich. 27 Mil­lio­nen beträgt der Jah­res­etat des Thea­ters in der Klein­stadt Bonn. Sie­ben­und­zwan­zig Mil­lio­nen. Und da erdreis­ten sich die Thea­ter­ver­tei­di­ger und Besitz­stands­wah­rer, die künst­le­ri­sche Ver­ar­mung an die vier­te Wand zu malen, die durch eine zehn­pro­zen­ti­ge Ein­spa­rung droht. Wollt ihr allen Erns­tes behaup­ten, dass sich mit VIERUNDZWANZIG MILLIONEN Euro im Jahr kein ultra­gei­les Thea­ter machen lässt? Mit eurem Geschrei ver­sucht ihr nur die vor­han­de­ne künst­le­ri­sche Armut zu kaschie­ren, die auf den Zom­bi­büh­nen der Repu­blik weht.

Thea­ter wei­ter – aber anders. Aber wie?

Wie wür­de ich tun, wenn ich der wäre, der tut, und ein Thea­ter hät­te, an dem ich könn­te? Damit mei­ne ich nicht ein „Hei, wir haben hier eine alte Fabrik­hal­le, toll, mach doch da mal was“-Theater. Ich mei­ne ein x‑Sparten Stadt- oder Staats­thea­ter mit üppi­ger finan­zi­el­ler Aus­stat­tung. Ein Haus also, an dem ich zum Bei­spiel VIERUNDZWANZIG MILLIONEN im Jahr ver­bal­lern könn­te, ohne mich irgend­wem dafür ver­ant­wor­ten zu müs­sen. Ver­ju­xen. Ver­schwen­den. Denn das ist Thea­ter: Luxus und Ver­schwen­dung – also genau das, was das Leben vom blo­ßen Vege­tie­ren unter­schei­det. Wofür es sich zu leben lohnt.

Schritt 1: Ein Schnitt

Thea­ter sind kei­ne Wirtschafts‑, son­dern Kon­zept­be­trie­be. Der Wech­sel der künst­le­ri­schen Lei­tung eines Hau­ses geht zumeist mit der kon­zep­tio­nel­len Erneue­rung des Per­so­nals ein­her. Das heißt in die­sem Fal­le: Kün­di­gung des gesam­ten bestehen­den Per­so­nals. Künst­le­ri­sches und Nicht­künst­le­ri­sches. Die Kan­ti­ne viel­leicht nicht. Je nach Qua­li­tät des Ange­bots. Sie könn­te auch von Sub­way über­nom­men wer­den. Oder von einem Stu­den­ten­kol­lek­tiv. Vor­aus­set­zung: Die Per­so­nal­gel­der ste­hen dem Thea­ter wei­ter­hin zur Ver­fü­gung und wer­den nicht vom Käm­me­rer kas­siert. Eine Mil­li­on für mich, blie­ben 23 Mil­lio­nen für Produktion.

Schritt 2: Ein­jäh­ri­ges Moratorium

Ein Jahr lang garan­tiert die­ses Thea­ter kei­nen Regel­spiel­be­trieb. Es garan­tiert ledig­lich min­des­tens irgend­ei­ne öffent­li­che Abend­ak­ti­vi­tät in der Woche. Die Ein­nah­me­aus­fäl­le von Abon­nen­ten und Abend­kas­se (die eh nur etwa 5–20% der Gesamt­bud­gets des ansons­ten aus öffent­li­chen  Mit­teln finan­zier­ten Thea­ters aus­ma­chen) sind durch die Maß­nah­men in Schritt 1 bereits kom­pen­siert. Es steht ein frei­es Haus und frei­es Bud­get zur Ver­fü­gung. Erst nach Ende die­ses Jah­res wird ein – zu defi­nie­ren­der – Regel­be­trieb wie­der auf­ge­nom­men. Wie der aus­sieht, bleibt offen.

Schritt 3: Die Siedler

Das nun­mehr lee­re Haus wird besie­delt. Von zwei Gruppen.

  • Die eine Grup­pe: Tech­nik- und Digi­tal­künst­ler. Stu­den­ten der UdK, des Karls­ru­her ZKM, Künst­lern der Ars Elec­tro­ni­ca, Video­in­stal­la­teu­ren, Pro­jek­ti­ons­künst­lern, Aug­men­ted Rea­li­ty Spe­zia­lis­ten, Archi­tek­ten (ja, auch da gibt’s eini­ge). Sie wer­den ein­ge­la­den, sich mit dem Haus aus­ein­an­der zu set­zen. Es umzu­wid­men und neu zu ent­de­cken. Das ent­kern­te Schlacht­schiff neu zu betrach­ten. Und zu beleben.
  • Die zwei­te Grup­pe: Netz­so­zio­lo­gen, Netz­po­li­to­lo­gen, Digi­tal­ak­ti­vis­ten, Prost Pri­va­tis­ten, Daten­schüt­zern, Blog­gern, und vor allem auch: Schrei­bern. Von allen den­je­ni­gen, die sich um die Fra­ge küm­mern, was heu­te und mor­gen ist. Was sich ändert und was bleibt. Nicht 10 oder 15. Eher 100 oder 150. Das Haus braucht Cha­os. Und ver­mut­lich mehr Feu­er­wehr­leu­te als zuvor. Gewohnt wird im Haus, in den Inten­dan­zen und Verwaltungstrakten.

Es kann doch nicht sein, dass das Netz künst­le­risch nur Unter­neh­men über­las­sen bleibt, die auf­wän­di­ge Web­wer­ke bestel­len kön­nen. Das Netz in und an sich ist das größ­te Kunst­werk, das die Mensch­heit in ihrer Geschich­te geschaf­fen hat. Inner­halb von nur 10 Jah­ren. Fried­lich und koope­ra­tiv. Das Netz ist die six­ti­ni­sche Kapel­le, der Vati­kan der Gegen­wart. Aber – wo sind die Künst­ler? Wo sind inner­halb die­ses Kunst­werks die Kunst­wer­ke? Wo die Spon­so­ren und Mäze­ne, die sol­che Kunst­wer­ke ermög­li­chen? Die Kunst der Digi­tal­re­nais­sance kann nicht nur Wer­be­agen­tu­ren über­las­sen blei­ben. Es ist die Kunst für das neue Thea­ter. Ein Thea­ter, das Digi­ta­li­en und Rea­li­en mit­ein­an­der ver­knüpft, jener Step-Punkt, in dem sich bei­de Wel­ten berüh­ren können.

In der ers­ten Renais­sance waren es noch Theo­lo­gen und Maler, die zusam­men arbei­te­ten um Wer­ke zu schaf­fen wie die Stan­zen des Raf­fa­el im Vati­kan, die Nuo­va Capel­la von Signo­rel­li oder und natür­lich vor allem das Haupt­werk über­haupt, San Fran­ce­so in Assi­si, wo THeo­lo­gie, ARchi­tek­tur, Male­rei sich zu einem Kunst­werk ver­ei­nig­ten, an dem sich zu ori­en­tie­ren ist für ein NETZTHEATER, das Digi­tal­künst­ler und Sozio­lo­gen zusam­men erschaf­fen könnten.

Schritt 4: For­schungs­ar­beit und Brain-&Sensestorm

Ein Jahr lang wer­den die­se zwei Grup­pen arbei­ten – und vor allem zusam­men arbei­ten. Sosehr es den Tech­ni­kern an einem Sinn-Bewußt­sein fehlt, so sehr fehlt es den Theo­re­ti­kern an Sin­nes­di­men­si­on. Nur zusam­men lässt sich ein Blick dar­auf wagen, was ist und wird. Ein Jahr lang. Für die Arbeit bezahlt. Das Haus begeh­bar und besuch­bar zu aus­ge­wähl­ten Zei­ten. Und ein­mal pro Woche eine regu­lä­re öffent­li­che Ver­an­stal­tung. Ein Tru­bi­nal. Eine Per­for­mance. Ein geführ­tes Open House. Viel­leicht muss das Haus auch jeder­zeit offen und begeh­bar sein — zumin­dest über das Netz. What so ever. Egal. Die Ver­bin­dung in die Stadt hin­ein muss her­ge­stellt wer­den – die Wege dahin, sind offen. Der Ein­tritt beträgt 5 Euro für jeden bis 35 Jah­re. Dar­über 200 Euro pro Kar­te. Blog­ger erhal­ten für jedes Pos­ting 50 Euro. Jour­na­lis­ten, die in Zei­tun­gen über das Thea­ter schrei­ben, erhal­ten Haus­ver­bot. Wer bloggt UND in der Zei­tung publi­ziert, erhält 50 Euro UND Hausverbot.

Oder noch bes­ser. Die­se Kar­ten kön­nen nicht ein­fach gekauft wer­den. Bis 24 Stun­den vor Gül­tig­keit der Kar­te kön­nen nur Optio­nen erwor­ben wer­den. Per Web. Je zukünf­ti­ger Kar­te eine Opti­on (der Ein­fach­heit hal­ber, 5:1 wär sicher span­nen­der, viel­leicht spä­ter). Das gesam­te spä­te­re Kon­tin­gent wird als Optio­nen aus­ge­ge­ben, die gezeich­net und gehan­delt wer­den kön­nen. Und deren Preis steigt, wenn die Nach­fra­ge hoch ist. Über­steigt das Ange­bot die Nach­fra­ge – bleibts bei den 5 Euro. Die Anzahl zur Ver­fü­gung ste­hen­der Kar­ten am Ver­an­stal­tungs­tag bemisst sich nach der Anzahl der ver­füg­ba­ren Optio­nen. Sind nur 10 ver­kauft – gibt’s nur 10 Kar­ten. Für die Opti­ons­in­ha­ber oder für die­je­ni­gen, die ihnen die Optio­nen abkau­fen. Ja aber – öff­net das nicht dem Schwarz­markt Tür und Tor? Doch – aber war­um soll­ten aus­ge­rech­net Thea­ter die ein­zi­gen Orte der Welt sein, die niht von die­sem Schwarz­markt abhän­gen. Und für cle­ve­re Opti­ons­in­ha­ber gibt’s rich­tig Geld zu ver­die­nen. Span­nen­der Gedan­ke, dass ein Cle­ver­le alle 100 Optio­nen kauft – und dann den Preis hoch zieht. Es gibt natür­lich kei­nen Prä­senz­han­del. Da die Kar­ten nicht in Print­ver­sio­nen, son­dern ledig­lich als QR-Codes ver­trie­ben wer­den, tref­fen Ver­käu­fer und Käu­fer sich nicht.

Das Ende der Vier­ten Wand — und der Beginn des Netzes

Die­ses Haus hat kein Innen und Außen. Es kennt kei­ne vier­te Wand zwi­schen Büh­ne und Nicht­büh­ne. Das Haus­selbst ist Büh­ne und Nicht­büh­ne über­all. In den ehe­ma­li­gen Werk­stät­ten, auf den Schnür­bö­den und der Unter­büh­ne. Im Zuschau­er­raum ist alles Büh­ne und Nicht­büh­ne. Der Vor­platz ist Büh­ne und Nicht­büh­ne. Die Stadt ist Büh­ne und Nicht­büh­ne. Die ein­zi­ge vier­te Wand ist der Computerbildschirm.

Die­ses Haus hat kei­ne Web­sei­te. Das Web ist Teil die­ses Hau­ses, ohne Bruch. Das Web ist im Thea­ter, das Thea­ter im Web. Nur der Com­pu­ter­bild­schirm ist die Tren­nung. Das Web­team ist der ein­zi­ge unab­ding­li­che Dau­er­be­stand­teil des Hau­ses. Und die Netz­werk­tech­nik. An den Ein­gän­gen die­ses Thea­ters ste­hen Nackt­scan­ner. Dahin­ter wird die Klei­dung in gemisch­ten Umklei­den abge­legt, dann geht’s in gemisch­te Duschen. Und jeder, der sich jen­seits die­ser Schleu­se auf­hält (JEDER!) trägt einen oran­ge­nen Over­all mit Bewe­gungs­track­ing. Die Bewe­gun­gen und die Nack­scan­ner­bil­der wer­den ins Web über­tra­gen. Jeder erhält ein Thea­ter­ta­blet und/oder Thea­ter­s­mart­phone. Das Haus ist lücken­los mit WLAN ver­se­hen, dass den Oran­ge­nen die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Ande­ren ermöglicht.

Schritt 5: Der Plan

Nie­mand weiß, was in die­sem Jahr geschieht, wohin die Rei­se geht. Viel­leicht schei­tert die gan­ze Sache nach einem Jahr. Ver­mut­lich aber nicht. Viel­mehr soll nach die­sem Jahr eine Idee ent­stan­den sein, was und wer die­ses Thea­ter ist. Wer an die­sem Thea­ter wie arbei­ten kann, wird soll. Was die­ses Thea­ter über­haupt soll.

Schritt 6: Der Betrieb

Aus den noch immer ver­füg­ba­ren Gel­dern wer­den jetzt Spiel­zeit­ver­trä­ge abge­schlos­sen. Mit den Künst­lern und Theo­re­ti­kern, die für sich selbst eine Idee geschaf­fen haben, was und wie sie die­ses Haus nut­zen wol­len und kön­nen. Und von denen zu erwar­ten ist, dass sie der Stadt drum­her­um etwas zu bie­ten haben.

So stel­le ich mir das vor.

Geil, oder?

Und nun ein Psychotest:

  • Wer bei der Lek­tü­re die­ses Tex­tes irgend­wo gedacht hat: „Hat­ten wir schon mal“, „Machen wir doch schon“, „Geht nicht“ oder „Was soll das“ hat sich dafür kom­plett disqualifiziert.
  • Wer bei der Lek­tü­re dach­te: „Was ein Scheiß“, „Wie soll das gehen“, „Kas­per­le­thea­ter“ ist herz­lich willkommen.
  • Wer bei der Lek­tü­re dach­te „Genau das woll­te ich schon immer mal machen“ wird hier­mit zum Feind die­ser Uto­pie erklärt.

 

§ 3 Responses to Die Utopie: Netztheater für eine globale Öffentlichkeit"

  • In der Tat schafft sich die Kunst ja wirk­lich sel­ber ab, von zwei Sei­ten ämlich: Ein­mal, weil sie bei­na­he nur noch Ware ist (man lese dazu die fei­ne Kunst­kri­tik Wil­fried Dick­hoffs: “Das Zuvor­kom­men­de”). Und dann, weil sich Beuys’ Traum vom Jeder­künst­ler durch die digi­ta­len Tools immer mehr erfüllt. Was dann nahe­lie­gen­der­wei­se für dei­ne Uto­pie auch bedeu­tet, dass man die Kunst nur durch ein Hin­ter­tür­chen wie­der Kunst sein las­sen kann: Durch ein bedin­gungs­lo­ses Kunst­ein­kom­men. Damit wird sowohl eine regel­mä­ßi­ge Kunst­ver­sor­gung vom Staat garan­tiert. Als auch Kunst end­lich das Geld als Tausch­mit­tel ablö­sen. Womit dann Kunst wie­der Kunst sein kön­nen und ihre Frei­heit haben wird. Wie heu­te das Geld. Auch die Aura und das Sakra­le wird der Kunst so rück­erstat­tet: Denn die Orte der Kunst: Thea­ter, Muse­en, Biblio­the­ken — zuvor­derst natür­lich aber das Inter­net — wer­den dass sein, was heu­te die Ban­ken sind: Unse­re Kir­chen. Geil, oder?

  • Postdramatiker sagt:

    “Was dann nahe­lie­gen­der­wei­se für dei­ne Uto­pie auch bedeu­tet, dass man die Kunst nur durch ein Hin­ter­tür­chen wie­der Kunst sein las­sen kann: Durch ein bedin­gungs­lo­ses Kunsteinkommen.”

    So ist es.

  • […] Wenn wir das Netz­thea­ter wol­len, müs­sen wir dann nicht auch jenes wol­len, was ich kürz­lich in des Post­dra­ma­ti­kers Uto­pie hin­ein­kom­men­tier­te? In der Tat schafft sich die Kunst ja wirk­lich sel­ber ab, von zwei Seiten […]

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